MusikTexte 3 – Februar 1984, 41–45

Eine positive Symbiose

Josef Anton Riedl im Gespräch

mit Reinhard Oehlschlägel

Was mich an diesen Gesprächen immer ein wenig interessiert, ist die Frage, wie Komponieren, überhaupt auch die Auffassung von Musik, sich eigentlich im Einzelnen ausbildet. Sie haben jetzt ein bisschen plaudernd erzählt von Kindheitseindrücken, mehr akustischer Art, in Ihrem Elternhaus ...

Einen ganz großen Eindruck und Einfluss habe ich sicher von meiner Mutter empfangen, die bis ins hohe Alter Klavier spielte und auch Gedichte schrieb. Sonst war sie aufopfernde Mutter. Alles Mögliche wurde von ihr am Klavier gespielt, bis hin zum Salonkitsch sogar, möchte ich fast sagen. Ich habe ihr von frühester Kindheit an zugehört und zugesehen. Dann spielte ich Stücke in den ausgefallensten Tonarten mit schnellen Läufen und umfangreichen Akkorden ohne Schwierigkeit nach, und auch noch bravourös. Es ergab sich das große Problem in den ersten Jahren des Gymnasiums, wie man sehr frei Improvisiertes aufzeichnet. Ein Musiklehrer half mir, aber in einer sehr eigenartigen Weise: Er zwang das, was ich sehr frei improvisierte, in ein Taktschema, et cetera. Als man dies wieder aufführte, wörtlich wie geschrieben, war ich freilich gar nicht zufrieden, es klang wesentlich anders als ich es selbst spielte. Ich habe einen Lernprozess durchgemacht, wie man Musik notieren oder vielleicht nie notieren kann.

Zunächst einmal: Der Anfang ist eigentlich ohne Noten verlaufen. Ohne Noten, nur vom Hören her. Eine taktile reale Begabung und eine Hörbegabung hat da am Anfang gestanden oder auch ein Hörinteresse.

Taktile reale Begabung, Hörbegabung und Hörinteresse, denn ich hatte lange zwar Liebe zu meinem Klavierspiel, aber noch keine zum Klavierunterricht.

Auch das notwendige, durchschnittliche normale Handwerk musikalischer Aufschreibekunst von Notation ist erst später auf Sie zugekommen?

Dies entwickelte ich aus mir heraus, so könnte man beinahe sagen. Natürlich wurde in dieser Richtung am Konservatorium und später an der Musikhochschule wohl einiges gelehrt. Im Grunde hatte ich es schon zuvor intus, darüber war ich bereits hinweg. Meine Studienjahre verbrachte ich eigentlich mehr oder weniger passiv in diesen Räumen. Ich bezahlte meine Einschreibegebühren. Doch am Ende machte ich die Prüfungen trotzdem sehr gut. Durch Selbstlernen, Selbstlesen von Harmonie- und Formenlehren sowie von Musikgeschichte habe ich mir sehr vieles eigentlich vor dem Musikstudium angeeignet. Freilich, es war eigentlich gar nicht unbedingt notwendig, diese Musikschulen zu besuchen.

Dieser erste kindliche Umgang mit Klavier oder Klavierklang, wann hat der ungefähr eingesetzt?

Das muss enorm früh eingesetzt haben, denn ich erinnere mich heute noch: Schon in Kindergartenjahren betätigte ich mich am Klavier.

Wann stand denn für Sie eigentlich fest, in der Gegend möchte ich wirklich etwas tun, oder möchte ich überhaupt mein Leben entfalten? Ich meine die Entscheidung, Musik zu studieren.

In zunehmendem Maße gewann ich Interesse, sehr frei zu improvisieren, und schließlich gab ich Hauskonzerte, sogar öffentliche Schlosskonzerte, letzteres insbesondere am Gymnasium, wo ich eingeladen wurde, zum Beispiel zu Abschlussfeiern zu spielen. Meine Klavierlehrerin war enttäuscht, dass ich so wenig von ihr annehmen wollte. Während der ersten Gymnasialjahre hatte ich mich auch der Orgel zugewendet und improvisierte – in Anführungszeichen – ziemlich furchtbar drauflos. Es dröhnte von ungewohnten Harmonien. Hinterher hörte man Stimmen wie: „Heute war er wieder am Werk.“

Gab es eigentlich so etwas wie eine Kindervorstellung: Ich werde mal, was weiß ich, Pilot vielleicht. In den Dreißigerjahren war das etwas ganz Neues ...

Ja genau. Ich frug mich öfters, was ich einmal später machen würde. Drei Möglichkeiten sah ich: den Beruf meines Vaters auszuüben, also Architekt zu werden, oder Arzt, aber nicht einer im gewöhnlichen Sinn, denn ich wollte unbedingt in die Tropen gehen, insbesondere nach Afrika. Dies war nicht unbeeinflusst und ungefärbt: Der Bruder meines Vaters war Ingenieur vor dem Ersten Weltkrieg in Deutsch-Ostafrika, Daressalam. Aber die andere Möglichkeit war, Musik zu komponieren. Letztere Einstellung nahm in den mittleren Gymnasialjahren stark überhand. Während dieser Zeit konnte ich mir unterm Ladentisch Tänze aus Hindemiths „Nusch-Nuschi“ kaufen oder von [Richard] Stöhr und [Hans] Gal die große Formenlehre, in der damals sonst nicht erhältliche, ganze Stücke abgedruckt waren. Bestimmte Stücke aus „Mein Tagebuch“ von Max Reger spielte ich geradezu leidenschaftlich gerne in der letzten Gymnasialzeit. Nach dem Krieg waren mir die Musica-viva-Konzerte von Karl Amadeus Hartmann eine phantastische Lehre. Auch Konzerte des Studios Neue Musik von Fritz Büchtger besuchte ich teilweise mit Interesse. In diese Zeit fiel auch die Gründung der Jeunesses Musicales, an der ich maßgeblich mitwirkte. Die heutige NMZ ging aus dieser Bewegung hervor.

Wann sind die Jeunesses Musicales gegründet worden?

Das war ’50. Die Jeunesses Musicales wurden während der deutschen Besetzung von Belgien durch Marcel Cuvelier im Sinne eines Widerstands gegen die Besetzer ins Leben gerufen. Das hat mächtigen Eindruck ausgelöst, und ich setzte mich lange Zeit vorbehaltlos für den Aufbau und die Belange der Jeunesses Musicales ein. Nach Jahren habe ich mich von dem Verband zurückgezogen. Neue Dinge standen leider nicht mehr so stark im Vordergrund in der Arbeit des Verbands wie ehedem.

Das Studium haben Sie etwa Anfang der Fünfzigerjahre aufnehmen können.

Ja, ich habe während des Abiturjahres bereits das Konservatorium, damals Händel-Konservatorium, jetzt Richard-Strauss-Konservatorium genannt, besucht. Und gleich im Anschluss daran die Hochschule für Musik. Aber ich habe sie eben nur besucht, Unterrichtsstunden halt nur beigewohnt.

Eine bemerkenswerte Gestalt unter den Lehrern gab es nicht?

Nein, ich wollte lediglich Verbindung zu Orff aufnehmen, und dies gelang mir auch.

Orff unterrichtete an diesem Händel-Konservatorium?

Nein, weder am Konservatorium noch zu dieser Zeit an der Hochschule. Ich habe mich von Zeit zu Zeit bei Orff angemeldet – er wohnte damals in München – und zeigte ihm Partituren. Er bestärkte mich intensiv in meinem Weg. Er kam auch eigens zu meinen Aufführungen, den ersten, die stattfanden im Studio für Neue Musik bei Büchtger, mit Stücken für Schlagzeug, präpariertes Klavier und Stimme.

Immerhin spricht die Besetzung nun doch schon von einer gewissen Distanz zur Phase der Klavier- und Orgelimprovisationen. Wie kam es denn zu solchen Dingen überhaupt, mit Schlagzeug?

Dies scheint wohl sehr merkwürdig. Das Rhythmische fesselte mich immer äußerst stark. Im Amerika-Haus lieh ich Partituren Neuer Musik aus, darunter befand sich „Ionisation“ von Edgard Varèse. Ich war Stammkunde im Ausleihen dieser Partitur. Außereuropäische Musik auf Platten und Bänder sammelte ich. Beides mag eine Rolle gespielt haben. Am Konservatorium begann ich nebenher Schlagzeugunterricht zu nehmen, der mir nicht zusagte. Es ging zu altmodisch zu: Etüden auf der Pauke lernen, et cetera.

Erinnern Sie sich an das erste Stück, das Sie für Schlagzeug komponiert haben?

Ja, es gibt Partituren, richtige, ausgeschriebene. Das früheste hieß: „Stück für Schlagzeug 1951“, ein Solostück. Alle meine Musiken nannte ich damals „Stück“; Stück für Schlagzeug und präpariertes Klavier, Stück für Stimme, Schlagzeug und präpariertes Klavier, et cetera.

Auf einen Text, die Singstimme?

Nein, auf Vokale, Vokalisen.

Und das war auch das erste Stück, in dem präpariertes Klavier vorkam?

Ja. Das Präparieren bestand aber lediglich darin, dass verschiedene größere Papierstücke, Seidenpapier, Pappkarton, et cetera zwischen Hämmerchen und Saiten befestigt wurden. Während der Konservatoriumszeit schrieb ich zum Beispiel auch etwas für vier Klaviere, einen „Sinfonischen Tanz“. Das Klavier beschäftigte mich. Und den Klavierunterricht schätzte ich nun. Von Cages Klavierpräparierung hatte ich leider noch nichts gehört.

Es war also nicht so eine Präparation, die exakt am Schwingungsbauch mit einem Gummi oder einem vorgeschriebenen Metall oder ...

Nein, absolut nicht. Es handelte sich um eine Art Schlagzeugergänzung, auf Papier aufklatschende Anschläge.

Und Sie selbst haben dabei mitgewirkt?

Bei den Aufführungen im Studio für Neue Musik nicht, jedoch in den Konzerten am Konservatorium und in der Musikhochschule. Ich spielte Klavierstücke von Reiner Bredemeyer. Zum Beispiel verehrte Bredemeyer zu dieser Zeit Paul Hindemith und besuchte ihn anlässlich eines Münchenaufenthalts. Ich verehrte in Parallele Bartók.

Schlagzeug ist dann aber eine längere Auseinandersetzung geworden.

Ja. Ich schrieb bis Anfang der Sechzigerjahre für Schlagzeug, 1963 noch die Musik für Schlagzeug zu dem Film „Geschwindigkeit“ von Edgar Reitz, die sich nach Beendigung des Films noch längere Zeit im dunklen Kino fortsetzt, wobei die Musik auch live zum Film gespielt werden kann.

Das Schlagzeug war für Sie auch nicht so etwas Vergleichbares wie Klavier und Orgel früher, ein Instrumentarium zur Improvisation, zur Klang-, Geräusch- und Lärmentfaltung?

Doch, irgendwie schon auch.

Zu den Jeunesses Musicales zurück. Wie kamen Sie denn in Kontakt zur Musique concrète?

Mit Bredemeyer nahm ich 1951 an der Stage International du Festival d’Aix en Provence teil, die wir derart hochinteressant fanden, dass wir auch im Rahmen der Jeunesses-Musicales-Tätigkeit eine Stage international durchführten.

Was bedeutet jetzt „Stage“?

Das ist so ein Titel: Lehrgang. Das französische Wort haben wir übernommen, weil es uns gefiel.

Dabei ist es dann auch geblieben, oder hat das Folgen gehabt?

Zwei Stages internationaux kamen zustande, 1952 und 1953.

Wer hat da einen Kurs gegeben?

Wir haben es sehr ähnlich gemacht wie die Stage-Leute in Aix mit ihrem Festival: Kulturelles, das uns gerade in München besonders interessant schien, wurde ins Programm einbezogen: „Prinz von Homburg“, ein Gastspiel unter Jean Vilar und Gerard Philipe im Residenztheater, eine Ausstellung von Henry-Moore-Werken im Haus der Kunst, et cetera. In die Vorstellungen, Ausstellungen, et cetera gab es stets Einführungen. Dies war nun das Spezifische daran. Einführungen hielten in außereuropäische Musik Doktor [Heinrich] Simbriger, ein Fachmann der Gamelan-Musik, Doktor Alfred Zehelein, et cetera. Auch Komponistenporträts fanden statt – mit Orff, Egk, Büchtger, Fortner –, in denen die Komponisten von Musikkritikern interviewt und Musikbeispiele eingeblendet wurden. Natürlich haben wir ausländische Teilnehmer auf die Stage aufmerksam gemacht. Zum ersten Mal nach dem Krieg kamen jugoslawische Musik- und Tanzgruppen, Solisten, Komponisten nach München und Künstler aus verschiedenen anderen Ländern. Aus Österreich traf auch eine Delegation ein, der Gerhard Rühm als Komponist und Interpret angehörte. Eine andere Delegation, aus Holland, führte Walter Maas an. Gerhard Rühm und Walter Maas kenne ich daher aus dieser Zeit. So ungefähr schaute die erste Stage international aus. In der zweiten Stage – wir hatten ferner Kontakt zu Pierre Schaeffer auf der Stage in Aix bekommen – konzentrierten wir uns sehr viel mehr auf Neues und ganz Neues. Antoine Goléa wurde nach München eingeladen, um über Musique concrète zu sprechen, Pierre Schaeffer, um über seine Musik zu referieren, Pierre-Schaeffer-Filme kamen zur Vorführung, mit Musique concrète vertonte Streifen, wie zum Beispiel „Masquerage“. Doktor Werner Meye-rEppler befand sich unter den Referenten. Er hielt einen Vortrag über die Situation der elektronischen Musik und stellte im Deutschen Museum das Vierteltonklavier, Weite-Mignon-Klavier, et cetera vor.

Vielleicht sollten wir doch einmal kurz auf den Aix-Eindruck zurückgehen. Was ich jetzt wirklich interessant finde, wäre einmal so der erste Eindruck von Pierre Schaeffer, der ja wohl Folgen gehabt hat für Ihre eigene Entwicklung. Was war das für ein Mensch?

Seine „Symphonie pour un homme seul“ vor allem faszinierte mich ganz unwahrscheinlich. Er präsentierte das ganz Unwahrscheinliche mit einer fast seltsamen Selbstverständlichkeit und Gelassenheit. Die Vielsätzigkeit seines Werks fand ich sehr eigenartig, die technische Perfektion erstaunte, et cetera. Im Herbst fuhr ich zu ihm nach Paris.

Können Sie sich da vom Klanglichen her noch an Näheres erinnern?

Schlagergesang, exotische Musikinstrumente, unüblich angeschlagene Klaviersaiten, Lachen, Husten, et cetera wurden ausgewählt und in eine künstlerische Ordnung gebracht.

Hat er Sie dann in irgendeiner Form arbeiten lassen, im Herbst in Paris?

Dies war nicht meine Absicht. Ich konnte die bisher im Studio entstandenen Kompositionen kennenlernen, das Studio mit seinen Geräten selbst, und ich kam wieder.

Nach so einem starken Eindruck wie etwa der „Symphonie pour un homme seul“ haben Sie da Impulse oder auch Skizzen oder Realisationen versucht?

„Studie I“ und „Studie II“ für konkrete Klänge entstanden unmittelbar nach dem Pariser Aufenthalt.

Sie haben die konkreten Klänge dazu selber aufgenommen, in welcher Form?

Maschinengeräusche wurden aufgenommen, teilweise durch Ringmodulation verändert, durch Lautstärkeregelung dynamisiert, durch Bandschnitt zusätzlich rhythmisiert und einzelne durch Bandschnitt reduzierte Sprachlaute – kleinste Fetzen – und Harfentöne – Klangtropfen – einbezogen.

Wie hat denn Ihre Umgebung darauf reagiert? Die „Studie l“, ist die vorgeführt worden?

In Büchtgers Studio für Neue Musik war sie 1956 endlich zu hören.

Erstmal Büchtger selber. Was hat denn der dazu gesagt?

Büchtger war letztlich immer doch recht tolerant. Ich berichtete ihm von den „Studien“ und er sagte in etwa: „Wir werden sie ruhig aufführen“. Die Presse reagierte verständnislos oder zog diese Art Musik ins Lächerliche.

Wie ist das denn sonst so im Publikum und unter Ihren Freunden aufgenommen worden?

Vom Publikum eigentlich duldend bis ziemlich katastrophal. Von Freunden, die ja auch zu Schaeffer bei der Stage und zu dergleichen kamen, mit Interesse bis viel Zustimmung.

Sie haben Schaeffer im folgenden Jahr nach München eingeladen.

Erst 1953 hielten wir die Stage ab, in der Musique concrète und die Anfänge der elektronischen Musik im Vordergrund standen. Bald trug sich dann die Uraufführung von Schaeffers „Orphée“ in Donaueschingen zu. So fuhr ich wahrscheinlich wegen Schaeffers Aufführung zum ersten Mal nach Donaueschingen. Von da an war ich lange Zeit jährlich in Donaueschingen und so auch, als ’54 John Cage auftrat.

Sie haben Cage selbst kennengelernt, in Donaueschingen?

Leider nicht persönlich. Über sein Konzert habe ich für die damalige Musikalische Jugend, die heutige NMZ, berichtet. Hin und wieder also verfasste ich Musikkritiken.

Das sollte man vielleicht einmal nachlesen. Wie ging es dann weiter?

Das Stück für vier Stimmen, zwei Schlagzeuger, Klavier und eingeblendete Bandaufnahme mit Musique concrète“ wurde 1954 fertig. Hilmar Schatz dirigierte es auf einem Musikfest, das ebenfalls Fritz Büchtger organisierte. Hermann Scherchen leitete ein Musica-Viva-Konzert mit Berg-, Webern- und Schönbergwerken. Ich setzte mich in Verbindung mit ihm, und ’54 nahm ich an einem ersten Kurs im Dirigieren teil, und zwar in Bayreuth.

War das schon ein Jugendfestspieltreffen?

Damals waren die Treffen noch von den Jeunesses Musicales ausgerichtet worden. Es handelte sich um große Treffen mit starker ausländischer Beteiligung. Viele Gruppen kamen aus den verschiedensten Ländern. Es gab eine ganze Reihe von Aufführungen junger Komponisten. Ich war auch vertreten mit einem Stück unter anderem für zwei Pianisten und für vier Schlagzeugspieler, die insbesondere Röhrenglocken zu betätigen hatten – siebzig an der Zahl –, und die ich selbst anfertigen lassen musste, simple Rohre, von einem Spengler nach Maßangaben zugeschnitten. Die Aufführung platzte, weil die Musiker wegen Kompliziertheit der Stimmen gestreikt haben, obwohl Scherchen sie dirigierte.

Wie hieß das Stück?

Stück für Stimme, Schlagzeug und Klaviere. Ich bin später auch mehrmals zu Scherchen nach Gravesano gefahren und habe in seinem Studio vieles ausprobieren können. Er lud mich ein, auf seinen Tagungen Stücke von mir vorzuführen. Immer wieder forderte er Konzertveranstalter auf, meine Musik zu spielen. Partituren nahm er in seinen Verlag – Ars-Viva-Verlag – auf. Er hat mich wirklich sehr gefördert. Leider hielt ich aus irgendeinem Grund in den späteren Jahren zu ihm Abstand. Heute bedauere ich es tief.

Aus seiner unmittelbaren Arbeitsgruppe haben sie jemanden näher kennengelernt?

Ich konnte Nono etwas kennenlernen, Maderna. Beide arbeiteten schon früher mit Scherchen. Nach meiner Zeit bei Scherchen arbeitete Luc Ferrari in Gravesano und auch Pousseur für sein Stück „Scambi“. Über Scherchen kam ich sehr früh in Kontakt zu Xenakis, der damals leider kaum Aufführungen zu verzeichnen hatte. Zu den wenigen Aufführungen in der Bundesrepublik zählte die von Scherchen in der Musica Viva realisierte. Wir – die Jeunesses Musicales – haben Karl Amadeus Hartmann bei der Musica Viva übrigens zugearbeitet. Den Jeunesses-Musicales-Mitgliedern konnten Eintrittskarten et cetera zu Studentenpreisen angeboten werden, und zahlreiche Einführungen mit den Komponisten und Dirigenten der Musica-Viva-Konzerte wurden durchgeführt.

Sie hatten sehr früh schon angefangen, eine Stage in München zu machen, in ihrer Tätigkeit bei den Jeunesses Musicales, sich darum zu kümmern, dass Musik aufgeführt werden kann und dass sie auch aufgeführt wird und dass bestimmte Musiker nach München gekommen sind. Irgendwann ist für jemanden, der selber Musik macht, der Punkt gekommen, an dem er sich dann entscheidet: Ich will nun Komponist sein und nichts sonst. Hat es diesen Punkt einmal bei Ihnen gegeben, haben Sie das einmal angepeilt und dann doch lieber nicht gemacht?

Nein, den hat es eigentlich nie gegeben. Beides kollidierte in meinem Fall nicht. Dieses Veranstalten begann, wie gesagt, in studentischen Jahren insbesondere für die Jeunesses Musicales, setzte sich fort in Verbindung mit der Musica Viva, in den Reihen Neue Musik, Neuer Film, Jazz und außereuropäische Musik für die Stadt München, in der Arbeit am Bonner Kulturforum, den Tagen Neuer Musik in Bonn.

Das ist sicher auch als eine Art Entwicklung zu sehen. Sie haben am Anfang mit Freunden zusammen organisiert, in gewisser Weise Gruppenarbeit mit anderen gemacht, und haben sich dann zunehmend verselbständigt. Welches war denn das erste Forum dieser Art, das sie wirklich allein geführt und damit auch ästhetisch bestimmt haben?

Schon in der Jeunesses-Musicales-Zeit wurde es allmählich so, dass ich das Veranstalten allein machte. In den letzten Jahren tat ich mich teilweise mit Schnebel zusammen, vor allem bei Themen wie „Musik für Laien“, „Musik für Kinder“, „Neue Musik in der Schule“.

Wann sind Sie Schnebel überhaupt zum ersten Mal begegnet, wann haben Sie ihn zum ersten Mal als Komponisten auch gesehen?

Mit Schnebel habe ich durch Kagel Kontakt bekommen. Kagel schrieb mich schon sehr früh an wegen Aufführungen seiner Stücke in unserer Veranstaltungsreihe Neue Musik München. Es gab dann eine Serie von Kagel-Aufführungen. Kagel sagte schon bald, dass man Stücke von Schnebel spielen müsste. Dies geschah auch. Schnebel kam immer wieder in Abständen zu Gesprächen nach München. Auch in Donaueschingen und in Darmstadt trafen wir uns. In Darmstadt hielt ich mich sonst nur auf in Verbindung mit den Kursen, die das Siemens-Studio für elektronische Musik durchführte.

Da sind wir an einem anderen Punkt. Sie haben ja dieses Studio mitaufgebaut und musikalisch geleitet. Auch das war eine Institution, in der Sie in gewisser Weise selbständig ästhetische Entscheidungen treffen konnten. Wie kam es denn überhaupt dazu?

Die Firma Siemens hatte einen großen Jubiläumsfilm in Vorbereitung, für den viel Geld zur Verfügung stand, und Herr von Siemens dachte, es wäre eine große Tat, wenn ihn Carl Orff vertonen würde. „Impuls unserer Zeit“ lautete der Titel. Orff sagte, ich bin nicht der Richtige für eine solche Sache, aber ich weiß jemanden, der in Frage kommt. Er schlug mich im Dezember 1955 vor.

Es kam also von Siemens her schon die Vorstellung, das müsste irgendwie technisch produziert werden?

Nein. Bei Siemens stellte man sich eine Vertonung mit Chor und Orchester vor. Sie wollten mich also zunächst gar nicht haben, und Orff war bewundernswert in seiner Anteilnahme und seinem Eigensinn, mich einfach durchzusetzen. In Verbindung mit besonders guten Ingenieuren der Firma kam schon schon bald der Gedanke auf, möglichst viele Manipulationen nicht mehr wie bisher von Hand ausführen zu lassen, zum Beispiel Lautstärke- und Klangfarbenregelung, sondern durch Lochstreifensteuerung. Sehr bestimmend konnte ich in die Entwicklung der Einrichtung zur Erzeugung und Verarbeitung elektronischer Klänge eingreifen. Bei einer Forschungsgruppe der Firma befand sich ein Vocoder in der Entwicklung. Als ich die frühen Versuche hörte, war ich von dessen Möglichkeiten auch für die elektronische Musik außerordentlich angetan. Es wurden verschiedene Vocoder-Versionen konstruiert. Der Film kostete in der Herstellung sehr viel Zeit, es war ein Jubiläumsfilm, ein abendfüllender, und er wurde an Siemens-Stellen in aller Welt gedreht. Die große Zeitspanne bis zur Vertonung war uns nur recht. Ich habe eine Vertonungsprobe anfertigen müssen. Herr von Siemens sagte zur Musik: „Sehr ätherisch.“ Schließlich konnte endgültig die Vertonung erfolgen. Mit Pomp kam der irgendwie experimentell gehaltene Industriefilm zur Uraufführung, 1959. Er erhielt viel Beifall und bekam etliche Auszeichnungen, nicht zuletzt wohl deswegen, weil sich auch die Propagandamaschinerie der Firma im Einsatz befand. Ich reichte bei Siemens einen Antrag ein, den Orff nachhaltigst unterstützte, dass diese Einrichtung in ein Studio für elektronische Musik umgewandelt werden soll. Man stimmte zu. Sie wurde von Gauting nach München transportiert und in neuen, eigens geschaffenen Räumen aufgestellt. Die Entwicklungsarbeiten zur Ergänzung und Vervollkommnung der Einrichtung wurden fortgesetzt.

Ist das eigentlich ihre erste Berührung mit der Ebene Film gewesen?

Ich habe schon vorher etwas mit Film gearbeitet, und zwar auf dem Sektor experimenteller Film. Nun folgten zahlreiche Filmvertonungen, Filme von Edgar Reitz und Alexander Kluge, Jan Lenica, Vlado Kristl, et cetera. Auch Musik und Theater interessierte mich jetzt: Für Fritz Kortner entstand die Musik zu „Leonce und Lena“ an den Münchner Kammerspielen, „Der Sturm“ und „Antonius und Cleopatra“ am Berliner Schillertheater, Musiken zu Becketts „Das Spiel“ oder Pinters „Der Hausmeister“ entstanden, et cetera. Ein besonders großes Film/Musik/Poesie-Projekt konnte in gemeinsamer Arbeit mit Edgar Reitz und Alexander Kluge seinerzeit realisiert werden: die VariaVision „Unendliche Fahrt“. Die Musik/Theater- und Musik/Film-Phase ist aber seit längerer Zeit abgeklungen.

Das sind so die ersten größeren Projekte einer mehrdimensionalen Medienkunst?

Richtig. Kleinere, einfachere multimediale Vorhaben konnten schon seit Längerem zur Realisierung kommen, zum Beispiel bei meinen eigenen Konzerten, bei denen ich freilich auch die Filme mit meiner – autonomen – Musik, optische Lautgedichte von mir vorstellen wollte und für alle Programmpunkte eine besondere Verknüpfung gefunden werden musste.

Sie haben in diesem Bereich dann unter verschiedenen Aspekten weitergearbeitet. Sie haben eine Gruppe um sich gebildet aus Musikern und Aufführenden, auch Nichtmusikern, und große und größte Multimedia-Projekte hier in der Bundesrepublik und auch außerhalb realisiert. Gab es da einen ersten Zeitpunkt des Erfolgs oder auch der Einsicht: Das ist eine Möglichkeit, die in gewisser Weise weitergeführt und eine Perspektive abgibt?

Die Gruppe fand eher zusammen. Ihr gehörten oder gehören unter anderem an: die Interpreten/Komponisten Jim Fulkerson, Stephen Montague, Michael W. Ranta, die Komponisten Lorenzo Ferrero, Peter Michael Hamel, Nicolaus A. Huber, zeitweise auch Frederic Rzewski und Cornelius Cardew. Früheste, sehr eindrucksvolle Erfolge trugen sich zu um 1968. Einen ganz ausgeprägten Trend für Multimediales gab es in Europa ab Mitte der Sechzigerjahre, der andauerte bis Mitte 1970.

Wann haben Sie das erste Mal ein solches sehr homogenes Materialstück hergestellt, wie es in den „Glas-Spielen“ und in der „Paper Music“ vorliegt?

Schon bei der Musique-concrète-„Studie II“, als ich nur mit Maschinengeräuschen gearbeitet habe, oder viel später bei der „Metallophonic Raum Klangwerkstatt“, 1974/1976. 1961 fing ich an, mich mit Geräuschen, erzeugt durch Schütteln, Schlagen, et cetera von Papier zu befassen, allerdings nicht direkt im Sinne der späteren „Paper Music“. Ich benötigte Musik in dieser Richtung für Pinters „Der Hausmeister“.

Wie steht das im Zusammenhang mit diesen environmentartigen Stücken, wie Sie eines in Donaueschingen vorgeführt haben, das tropfendes Wasser als Material benutzt? Gibt es da einen Zusammenhang?

Ich habe mir eine Vorrichtung gebaut, mit der man Tropfen kontrollieren kann in Bezug auf ihre Tonhöhe, Dichte, Schwere, et cetera. Es erfolgten Tonbandaufnahmen, die noch mühsam geschnitten und gemischt werden mussten. Ebenfalls ein sehr homogenes, sogenanntes Materialstück. Zur Wiedergabe der Tonbänder waren achtzehn Tonbandmaschinen notwendig.

Ist das eigentlich die einzige Berührung mit seriellem Denken? Das überrascht jetzt schon, dass Sie hier nach Tonhöhen, nach Intensitäten, nach Dauern organisieren.

Serielles Denken spielt doch eigentlich immer beim Komponieren eine gewisse Rolle. Ich würde sonst irgendwie die Übersicht über die Fülle von klanglichen Möglichkeiten, zum Beispiel insbesondere bei den sogenannten Materialstücken, verlieren und nicht zur Bildung von Formen kommen können.

Streng genommen ist dennoch das Material, das Sie in dieser Tropfenmusik verwendet haben, ein Naturmaterial. Und Naturmomente ziehen sich durch mehrere Ihrer Stücke. Gibt es da eigentlich eine Art musikalisches Urerlebnis von Naturklängen?

Es gibt wahrscheinlich eines. Schon in der frühen Kindheit achtete ich auf das rhythmisch-dynamische Nacheinander von verschiedenen Geräuschen, die Windströmungen durch Bewegen von losen Teilen am alleinstehenden Haus verursachten, oder achtete auf das rhythmisch-dynamische „Knistern und Knacken“, das durch Dehnen und Zusammenziehen von Holz, Metall, et cetera Temperaturunterschiede, Schwankungen erzeugt. Ich beobachtete Pflanzen, las über sie und stieß oft auf merkwürdige Eigenschaften, die sie haben. Zum Beispiel entdeckte ich Merkwürdiges im Falle der Pflanze Silphium. Diesen Namen trägt auch ein Stück.

Was ist das für ein Stück?

Silphium ist eine sagenumwobene Pflanze. Silphium ist auch der Name einer Stadt der Antike. Diese Pflanze galt als Zahlmittel, Heilmittel. Es existiert eine Silphium-Pflanze, die auch Kompasspflanze heißt, und in Nordamerika vorkommt, die ihre Blüten nach Norden neigt. Dies regte mich an, ließ mich sozusagen verleiten, eine Komposition „Silphium“ zu benennen. Andere haben die Pflanzennamen „Polygonum“, „Salvia pratensis“, „Rhipsalis“.

Was ist „Rhipsalis“?

Eine in Südbrasilien beheimatete, auf anderen Pflanzen lebende, sich selbst ernährende Pflanze der Gattung Binsenkaktus. Und musikalische Dinge in dem Stück „Rhipsalis“ passieren auch so parasitär, um das andere nicht zu stören. Es gibt da auch eine Verwandtschaft in einem anderen Stück, in dem ich es noch sehr viel konkreter versucht habe, musikalisch strukturell, in „Epiphyt“. Epiphyt ist ein ganz normales Parasitengewächs, das auch nicht auf Kosten der Wirtspflanze existiert. Es gibt also in „Epiphyt“ musikalische Strukturen, die voneinander profitieren, die ohneeinander nicht leben können.

Das ist eine Vorstellung, die Sie offenbar reizt, die Vorstellung ein Leben zu führen, wohl mit anderen zusammen, aber ohne diese dabei zu bedrohen, in einer gewissen Art von Symbiose?

Eine positive Symbiose, ja ...

... die da stattfindet. Wie ist das jetzt musikalisch organisiert in „Epiphyt“? Wie würden Sie, jetzt mal daran entlang gedacht, Ihr eigenes Leben sehen? Spielt das nicht auch auf zwei Ebenen, auf der Ebene der Komposition von Stücken und auf der Ebene des Veranstaltens von allen möglichen Dingen, die Musik sein, aber mit Musik auch gar nichts zu tun haben können, wie zum Beispiel diese Bilderausstellung, in der wir hier miteinander sprechen. Sind das auch so zwei Tätigkeitsfelder, die miteinander zu tun haben und sich gegenseitig in irgendeiner Form stützen?

Ich glaube nicht, dass sie sich stützen. Diese Veranstaltungstätigkeit habe ich schon sehr lange ausgeübt. So wie Komponisten heute lehren oder viel fremdere Berufe ausüben und trotzdem gute Komponisten sein können, so übe ich also auch noch einen Beruf aus, aber doch eigentlich mehr als Hobby.

Das wäre also im bürgerlichen Sinne, im gesellschaftlichen Sinne die gesunde Pflanze, die dann eine schmarotzende unterhält, die da komponiert, die da Gebilde erfindet, die bestimmte Phantasievorstellungen ein bisschen zwischen dem, was sonst da ist, wachsen lässt?

Das mögen Sie so analysieren. Aber ich habe diesen Zusammenhang nicht festgestellt.