MusikTexte 4 – April 1984, 5–9

Momente von großer Schönheit

Zu Morton Feldmans neuem Stück „Crippled Symmetry“

von Gisela Gronemeyer

Anderthalb Stunden dauert die Musik für Flöte, Bassflöte, Vibraphon, Glockenspiel, Klavier und Celesta, eine Musik für drei Instrumentalisten. Klänge entfalten sich, wiederholen sich und zerfallen, tauchen an ganz anderer Stelle wieder auf oder bleiben ephemer, und alles spielt sich bei Lautstärken zwischen piano und pianissimo ab. Ein pflanzenhaftes Wuchern scheint hier am Werk, das manchmal strukturiert zu sein scheint und es doch eigentlich nicht ist, ein filigranes Gewebe, das sich um einen Doppelaspekt dreht: Symmetrie und Asymmetrie. „Crippled Symmetry“ ist der Titel von Morton Feldmans neuestem Werk, das im März 1984 von Eberhard Blum, lan Williams und Nils Vigeland in Berlin uraufgeführt und in Münster und Frankfurt nachgespielt wurde. Es ist das Werk eines amerikanischen Komponisten, der seinen Ansatz einmal in den Fünfzigerjahren gefunden, und danach eigentlich nicht mehr verändert, sondern nur noch variiert hat.

Schon in den Fünfzigerjahren, als sein Name in einem Atemzug genannt wurde mit John Cage, Christian Wolff und Earle Brown, in seinen „Projections“ von 1950–1951 etwa, war es sein Anliegen, „Klänge in die Zeit zu projizieren, die frei sind von einer kompositorischen Rhetorik“. In seinen „Structures“ von 1951 gab es bereits fragile „sound patterns“, die vierzig bis fünfzigmal wiederholt wurden, ohne jede Logik auftauchten und wieder verschwanden. Zunächst erfand er eine graphische Notation, die dem Interpreten Freiheiten in Tonhöhe und Rhythmus gestattete. Dann schritt er fort zu einer mehr konventionellen Notation, in der die Tonhöhen genau bestimmt waren, aber die Zeitwerte nur ungefähr. Daneben schrieb er auch immer wieder traditionell notierte Werke, die sich jedoch alle in der gleichen Klangwelt bewegen: Sie vermeiden jegliche Art von System und Kompositionsmethode, sind leise und verwenden subtile, undramatische Gesten. Seit den frühen Siebzigerjahren verwendet Morton Feldman wieder ausschließlich konventionelle Notation.

In den letzten fünf Jahren hat Feldman nun Werke komponiert, die mehr oder weniger anderthalb Stunden dauern, wobei er sich in jedem Werk auf einen anderen Aspekt konzentriert, das Setzen von Tonhöhe gegen Rhythmus etwa, das Spiel mit der Erinnerung oder, wie in „Crippled Symmetry“, mit Patterns. Nacheinander entstanden in rascher Folge das „String Quartet“, ein Violinkonzert, ein Trio für Violine, Cello und Klavier, „For John Cage“ für Violine und Klavier, das Klavierstück „Triadic Memories“, die Vokalpartitur „Three Voices“, eine „Untitled Composition“ und schließlich „Crippled Symmetry“. Dass Feldman noch ganz andere Dauern-Ressourcen hat, zeigt sein neues, noch nicht aufgeführtes zweites Streichquartett, das ungefähr vier Stunden dauern und voraussichtlich diesen Sommer in Darmstadt gespielt wird. Welche Länge sein Stück für Violine solo haben wird, an dem er zur Zeit arbeitet, weiß noch niemand zu sagen. In einem 1982 veröffentlichten Interview hatte Feldman noch gemeint, dass diese langen Stücke eher nicht für eine Aufführung geschaffen seien.1 Tatsächlich aber erregt er damit, in den USA wie in der Bundesrepublik, damit ein Aufsehen wie nie zuvor, und seine Stücke, etwa das erste Streichquartett, werden hier wie dort euphorisch gefeiert. Natürlich haben Interpreten wie das Kronos Quartet, der Geiger Paul Zukovsky und jetzt Eberhard Blum, lan Williams und Nils Vigeland an der Verbreitung von Feldmans Musik einen nicht unwesentlichen Anteil, denn oft sind sie es, die das Stück einstudieren und anbieten, und nicht ein Veranstalter, der es sich wünscht.

Natürlich wirft es auch für Morton Feldman, auch für seinen Stil Probleme auf, Stücke von solcher Länge zu schreiben. Im erwähnten Interview beschrieb er das so:

Man muss auch seine eigenen Hilfsmittel entwickeln, um das Ganze zusammenzuhalten, anstatt die konventionelle Vorstellung weiter zu pflegen, dass das, was sich entwickelt, ein Stück zusammenhalten könnte. Das ist es, was ich vorhin mit Problemlösung meinte: Um ein großes Stück zu meistern, kommt man nicht mit irgendeinem vorgefertigten Schema, sondern man findet einfach Wege, um in diesem großen Stück zu überleben. Und das wichtigste Werkzeug zum Überleben ist Konzentration.2

Konzentration, eine gewisse meditative Ruhe, verlangen diese Stücke auch vom Hörer. Die Hörerfahrung ist ganz anders geartet als die bei einem etwa gleich langen Stück von Philip Glass. Versetzt der eine durch endlos repetierende, auch immer wieder umschlagende Patterns in einen tranceähnlichen Zustand, ist die Musik von Morton Feldman absichtslos, sie lässt den Hörer unbeteiligt, er schaut auf sie wie auf einen Fluss, auf dem verschiedenartige Knospen und Blüten vorbeiziehen, wiederkehren, verwelken. Die Länge ist vielleicht das am wenigsten Europäische an Feldmans Musik, wovon er sich stets abzusetzen trachtete. Er ist stolz darauf, ein von Traditionen unbelasteter Amerikaner zu sein, und findet auch, dass die Amerikaner, im Gegensatz zu den Europäern, jetzt in der Philosophie Großes leisten. Aber wie geht Feldman in seinem Stück „Crippled Symmetry“ vor? Es ist nicht leicht zu beschreiben, weil es nichts Greifbares gibt, alles zerrinnt einem unter den Händen, und nirgendwo steckt ein System dahinter. Grundsätzlich geht es in diesem Stück um Patterns, um wiederkehrende Grundmuster und ihre Variationen. Feldman hat dieses Prinzip schon einmal in dem ungefähr halbstündigen Stück „Why Patterns?“ (1979) angewandt und sagt: „Crippled Symmetry“ sei eigentlich nur „Why Patterns?“, nur ein paar Jahre später und dreimal so lang komponiert. Wie geht er nun mit diesen Patterns um? Hier der Anfang, in dem Feldman ein viertöniges Pattern in der Flöte vorstellt und es im Folgenden rhythmisch variiert und verzerrt.

Copyright 1984 Universal Edition, London

Die Rhythmik ist in vielen Stücken Feldmans etwas äußerst Kompliziertes, sie wechselt von Takt zu Takt und scheut auch vor vertrackten Sechzehntelkombinationen nicht zurück. Das Vibraphon hat einen durchlaufenden, zu- und abnehmenden Sechzehntelrhythmus, während das Klavier ein weiteres Pattern in völlig anderen metrischen Einheiten variiert. Mehr oder weniger rasch gehen die Instrumente dann auf andere Patterns über. Auf den ersten Partiturseiten ist dieser Übergang noch sehr unterschiedlich bei den einzelnen Instrumenten geregelt, später fangen sie alle oben auf der Seite an, und auf der nächsten oder übernächsten Seite fängt oben wieder ein neues Pattem an. Offenbar ist Feldman auch erst im Laufe der Komposition darauf gekommen, dass es ein pragmatischeres und ein einfacheres Verfahren ist, von Seite zu Seite zu komponieren.

Wichtig ist dabei zu wissen, dass die Partitur nicht synchronisiert ist, ein Instrument hat plötzlich Wiederholungen und bleibt zurück, so dass Unterschiede von zwei Partiturseiten, sprich Abschnitten auftauchen können, die der Interpret dann langsam wieder einholt: The flute many times is in front, then in the middle, then back.3 Meistens ist es aber so, dass die Flöte führt. Für die Interpreten bedeutet dieses Verfahren, dass sie eisern zählen müssen, was in der Praxis wahrscheinlich dazu führt, dass sie sich an bestimmten Punkten merken, wie sie dort mit den anderen zusammenspielen müssen, damit es am Schluss aufgeht. Feldman selbst hat auf den ersten Partiturseiten mit dem Taschenrechner gearbeitet, und dann wusste er, wie die Sache lief und machte es im Kopf: No calculator. I just knew where I was. You see, I’m used to doing this. This is a performance. l’m used to handling this time. I have it all here, sagt er, auf seinen Kopf weisend.

Das gleiche Pattern der Flöte vom Anfang taucht nun einige Partiturseiten später wieder auf, allerdings dieses Mal in einem völlig anderen rhythmischen Zusammenhang und doch für den aufmerksamen Hörer sofort wiedererkennbar.

Wie kompliziert die Struktur der einzelnen, in sich quasi abgeschlossenen Abschnitte ist, mag folgendes Beispiel verdeutlichen: zwischen eine zweitönige Figur in der wechselnd in Wiederholung und Umkehrung vorgetragen wird, ist dreimal eine aus dem gleichen Tonvorrat bestehende rhythmisch symmetrische Figur eingeschoben.

Oder im Vibraphon erscheinen dreimal zwei punktierte Viertel, dann kommt ein Einschub aus Sechzehnteln und Achteln, dann erscheinen die drei mal zwei punktierten Viertel in Umkehrung, sowohl hinsichtlich der Tonhöhen als auch des Rhythmus, und dann der Einschub in Umkehrung. All diese symmetrischen Gebilde sind für den Hörer allerdings kaum wahrnehmbar, und oft sind sie auch wirklich nur im Notenbild erkennbar, wenn etwa eine Figur auf Vibraphon und Glockenspiel verteilt und deren Symmetrie eigentlich nur an den Notenhälsen ablesbar ist. Aber an manchen Stellen tritt sie auch ganz offen in Erscheinung:

Es sind immer kleine symmetrische Einheiten, die auftreten, und zwar oftmals nach dem Muster: Bild-Spiegelbild. „Crippled Symmetry“, so der Titel des Stücks, heißt so etwas wie verkrüppelte Symmetrie, und Morton Feldman hat dabei zunächst an türkische, anatolische Teppiche gedacht, die nie eine vollendete Symmetrie in den Spiegelbildern der Muster zeigen, sondern aufgrund von Webfehlern und ähnlichem leichte Verschiebungen aufweisen. Das aber macht gerade ihren Reiz aus. Und so weisen auch Feldmans Symmetrieeinheiten immer wieder kleine Webfehler auf, manchmal mehr, manchmal weniger, manchmal gar keine.

Noch stärker als im Tonhöhenbereich, wo sie nur vereinzelt auftritt, wirkt sich diese Symmetrie allerdings im rhythmischen Bereich aus, indem durch das ganze Stück die Rhythmen immer wieder spiegelbildlich zu- und abnehmen, und das in allen Instrumenten. Oder Figuren werden gleichmäßig beschleunigt und verlangsamt. Natürlich will der Komponist damit auch etwas zeigen, will seine Vorstellung von Symmetrie vermitteln: I wrote it because I saw that working with notions of symmetry and asymmetry, especially asymmetry, I thought there is really nothing asymmetric, that it’s all an aspect of symmetry, essentially.

Man mag sich nun fragen, wie Feldman zu solchen auch komplizierten Strukturen gelangt, wo er doch gar nicht planvoll vorgeht. Die Erklärung ist denkbar einfach: Er notiert sich bestimmte Patterns und Strukturen auf ein Blatt Papier und wendet sie dazu verschiedentlich an, etwa auch in Umkehrungen. That’s my information l keep, I see that in front of me. Und das ist Morton Feldmans Handwerkszeug, um in einem solch großen Stück zu überleben. Verglichen mit seinen früheren Arbeiten stellt es schon auch ein Novum dar. Während er die Klänge früher im wahrsten Sinne des Wortes am Klavier ertastete und aushörte, bestrebt, den richtigen Klang für den Moment zu finden, operiert er hier mit abstrakten Mustern, die er zwar scheinbar willkürlich einstreut, die aber vorgegeben sind, ein Material bereitstellen, das der Komponist hin und wieder verwendet. Anhand seines Violinkonzerts hat Feldman beschrieben, wie er Dinge, die gewissermaßen von außen an seine Komposition herankommen, verwendet:

Für mein unlängst entstandenes Violinkonzert (es ist nur anderthalb Stunden lang), habe ich eine „Reihe für den Moment“ geschrieben. Ich habe sieben Stunden an einer Zwölftonreihe gearbeitet, die ich nur in drei Takten des Stücks verwende. Und dann geht das Stück weiter, und nach zehn Seiten hatte ich das Gefühl, dass ich einen kleinen Rahmen haben wollte, und innerhalb des Rahmens eine schöne Symmetrie. Symmetrie ist nicht mein Ding, aber ich brauchte in diesem Moment eine schöne Symmetrie. Ich zitiere dann eine Reihe von Webern, die ein Prototyp für perfekte Symmetrie ist. (Es ist eine berühmte Reihe.) Ich zitiere sie einfach so, wie jemand eine Melodie zitiert; aber ich habe sie nur wegen ihrer Symmetrie zitiert. Ich habe sie auch als eine Art Quasi-Kadenz für den Solisten verwendet. Und dann habe ich einfach mit dem Stück weitergemacht.

Dann hatte ich eine andere Idee. Na gut, ich bin nicht an Symmetrie interessiert, also zitiere ich Webern. Ich bin auch gar nicht an Intervallbeziehungen interessiert. Aber ich hatte das Gefühl, dass das Stück eine „Intervall-Logik“ braucht. Also zitiere ich eine andere Reihe von Webern. Tatsächlich hätte das Stück ohne diesen Moment der Symmetrie, ohne diesen anderen Moment klarer Intervallbeziehungen, viel verloren. Mit anderen Worten, wenn ich ein langes Stück schreibe, dann mache ich seltsame Bewegungen, aber nur für diesen Moment. Entscheidungen, an die ich bei einer zwanzigminütigen Komposition nie denken würde. Sie wollen, dass ein Stück logisch ist. Sie setzen sich ja auch nicht hin und verspeisen ein zehngängiges Logik-Menü, sondern begnügen sich mit einem Hors d’œuvre, einem kleinen logischen Hors d’œuvre, das Ihnen ein berühmter Kellner serviert! Sie wollen, dass ein Stück schön ist. Okay, schenken Sie einen Moment Schönheit – was brauchen Sie mehr? So durchläuft man in einem langen Stück früher oder später die ganze Skala der Möglichkeiten, und jeder wird etwas davon haben, dessen bin ich sicher. Die Form eines langen Stücks ist eher wie ein Roman – es gibt genug Zeit für alles.4

In Feldmans neuem Stück sind die Patterns allerdings nicht, einmal benutzt, schon vergessen, sondern sie tauchen immer wieder auf. So kommt es zum Beispiel vor, dass ein ganzer Abschnitt mit verstellten Teilen sehr viel später fast wörtlich wiederholt wird. Hier Seite 8 und 17 der Partitur:

An anderer Stelle kommt es vor, dass nur der Rhythmus eines Abschnitts wiederholt wird. Überhaupt ist der Materialvorrat in diesem Stück sehr begrenzt. In allen Stimmen dominieren Viertonfiguren, wobei das Klavier auch öfter mal lange Töne aushält, Drei- und Zweitonfiguren sind seltener. Rhythmisch handelt es sich relativ konsequent um das Prinzip der Zu- und Abnahme, wobei immer ein Pattem als Ganzes zu- oder abnimmt. Oder Feldman behält die Wertigkeit eines Patterns, verteilt aber innerhalb des Patterns die Werte ständig um. Harmonisch bewegt er sich meistens im Tonraum c-des-d-e oder b-h-c-cis, wozu öfter auch ein ges tritt. Sporadisch treten dann auch andere Töne der Tonleiter auf, aber zunächst bleibt es immer chromatisch. Wenn dann die Flöte plötzlich anfängt, Tonleitern zu spielen, fällt sie aus dem System der meist viertönigen Patterns ganz heraus.

Feldman verwendet auch gern das Verhältnis 5 : 4, das heißt, oft steht einer Zeile von fünf Noten eine Zeile von vier Noten und so weiter gegenüber. Wie in Seiten, so komponiert er auch in Zeilen. Neben Zu- und Abnahme der Noten verwendet er auch immer wieder einen gleichmäßigen Puls, der zwar rhythmisch leichte Unebenheiten aufweist, aber immer noch als solcher erkennbar bleibt. Gern lässt er auch eine asymmetrische Figur von symmetrischen Pausen einrahmen und umgekehrt. Gefragt, wie er denn überhaupt seine Töne auswählt, antwortet er:

I am only interested in the Instrument, and l’m finding the right note for the Instrument. I don’t give a shit about the composition. Whatever is good for the instrument I use.

Feldman macht nur das, was für die Instrumente gut ist, sagt er, und demnach sind nur sehr wenige Töne für seine Instrumente geeignet. Schwierig ist seine Musik dagegen vom Rhythmischen her, wobei er jeden Virtuosengestus in seiner Musik vermeidet.

Wenn du ein Instrument spielst, spielst du nicht nur das Instrument, sondern das Instrument spielt dich. Man hat eine Rolle zu spielen. Mit Interpreten habe ich das Problem, dass mein Gefühl für das Instrument nichts mit diesem Rollenspiel-Aspekt zu tun hat. Mit Rollenspiel meine ich den Ballast, den Instrumentalisten mitbringen, um zu zeigen, wie gut sie sind. Sie interpretieren nicht die Musik, sie interpretieren das Instrument, und dann erst die Musik. Als Heifetz Mozart spielte, tat er Mozart einen Gefallen. Es war die Geige, die spielte, und erst dann Mozart.5

Weil er das Gefühl hatte, dass es gut für die Instrumente sei, nahm er im letzten Drittel seines Stücks eine Änderung vor, die sich auffällig von den beiden ersten Dritteln abhebt. Der Rhythmus ändert sich in einen Dreivierteltakt, der bis zum Schluss durchgehalten wird. Harmonisch hört man zum ersten Mal Ganztöne, und in sanftem Puls fließen in den drei Stimmen Achtel, Viertel und halbe Noten dahin, meist symmetrisch um den Taktstrich herum angeordnet. Später fließen auch wieder Halbtöne mit ein, aber die Wirkung, eine Öffnung des Raums, bleibt im Großen Ganzen erhalten.

I think what happened was that it just got busier, it started off busier and it just got less information, essentially. But I feel it as a metamorphosis, I don‘t think there’s a break.

Da die Instrumente immer noch ihre Eigenzeit haben, erzeugen sie bei gleicher Tonhöheninformation rhythmische Vielfalt.

I feel that the end is more complicated than the beginning. The beginning is easy complicated because there’s more information. But what happens in the end, just with the simple pulsations coming at different times, and whether would have the same information, just displaced, you know, is to me, I think it’s wonderful. And I don‘t think that it‘s either simple or complicated. I don‘t feel that complication is more information. I feel complication is something, to catch something which historically one has not found the way of notating.

Feldman sagt auch, dass seine Stücke sich immer mehr von dem entfernen, was notiert ist, auch wenn seine Notation ganz präzise ist. Und es sei im Grunde auch die Notation, die den Stil eines Stücks bestimme, so wie die ganze Kultur der türkischen Teppiche abgeleitet ist von der technischen Begrenzung, die durch die Art der Knoten bestimmt ist. Diese Teppichkunst, mit der Feldman, ein passionierter Teppichsammler, sich schon lange beschäftigt, hat ihn in diesem Stück auch stark affiziert, vielleicht mehr, als er es wahrhaben will. Jedenfalls drängt die Art, wie die Patterns einander ablösen, schon auch die Assoziation an Teppichmuster auf, die ineinander übergehen. Das ganze Spiel der Patterns hat etwas von einem unendlichen Strom, einem Klangteppich an sich. Feldman selbst bezieht sich insbesondere auf die farbliche Gestaltung eines solchen Teppichs, die mit nur wenigen Grundfarben eine reiche Farbwelt hervorzaubert. Diese Grundfarben vergleicht er mit seinen Patterns, mit denen er, so einfach sie sind, eine ebenso reiche Klangwelt schafft. In sich ist ein Pattern abgeschlossen, so dass Feldman jederzeit, in diesem Fall meist mit dem Ende einer Seite, in ein anderes übergehen kann. Patterns können erweitert und verkürzt, aber nicht entwickelt werden.

Morton Feldman will übrigens nicht, dass man ihn einen Komponisten nennt, und er benennt auch den Grund: I’m Morton Feldman. Is there anybody like me? You know any body like me? The minute you call me a composer, you are relating me to someone else. Das möchte er auf gar keinen Fall, mit anderen auf gleicher Stufe stehen, und schon gar nicht auf der des Komponisten, zumal er die meisten, mit einigen wenigen Ausnahmen wie John Cage, unerträglich findet. Er arbeite nicht wie ein Komponist, sagt er, weil er nicht logisch denke. Ein Stück schreiben ist für ihn wie eine Performance, ein Arbeiten im Augenblick, ein von Moment-zu-Moment-Gehen, das niemals einen Rückblick erlaubt. Ein Stück erscheint erst im Nachhinein komponiert. I don’t compose, I assemble. I don’t make a composition, I make an assemblage.

Er komponiert nicht, er trägt zusammen, auch wenn er im gleichen Atemzug erklärt, dass er doch komponiere, indem er die Instrumente in der Zeit koordiniert und im Gegensatz zu den spielenden Interpreten den genauen Überblick hat, wo sie sich befinden. Was ist nun das Geheimnis von Feldmans Musik? Warum kann man sie sich anderthalb Stunden anhören, ohne aggressiv oder nervös zu werden? Weil diese Musik etwas Selbstvergessenes hat, das gleichsam unabsichtlich Momente von großer Schönheit freisetzt. Wenn Feldman sagt, dass er in erster Linie für die Instrumente komponiert, dann meint er damit auch den ganz konkreten, sinnlichen Instrumentalklang, den er auf bestmögliche Weise zur Geltung bringen möchte: Nichts anderes verbirgt sich hinter dem Klang als er selbst.

1„I think my tendency now toward longer and longer pieces is actually a tendency away from a piece geared for performance. Psychologically it’s not geared for performance“, in: Cole Gagne and Tracy Caras, Soundpieces. Interviews with American Composers, Metuchen, New Jersey: Scarecrow Press, 1982, 164–177.

2Cole Gagne and Tracy Caras, siehe Fußnote 1

3Die kursiv gesetzten Aussagen Morton Feldmans stammen aus einem Interview, das die Autorin zusammen mit Reinhard Oehlschlägel am 12. Februar 1984 in Frankfurt geführt hat.

4Cole Gagne and Tracy Caras, siehe Fußnote 1.

5Cole Gagne and Tracy Caras, siehe Fußnote 1.