MusikTexte 4 – April 1984, 61

Musik des positiven Vergessens

Zur Uraufführung der Oper „Echnaton“ von Philip Glass in Stuttgart

von Reinhard Oehlschlägel

In den Schriften des französischen Musikphilosophen Daniel Charles, die vor Kurzem in deutscher Sprache im Berliner Merve-Verlag erschienen sind, wird seit 1976 die amerikanische Minimal Music von Steve Reich und Philip Glass als eine Musik des positiven Vergessens beschrieben.1 Gegenüber allen Ton- und Tonsatzsystemen, in denen sich Herrschaftssysteme widerspiegeln, gegenüber aller Funktionalität der im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert herrschenden Harmonielehre und im Sinne von Zwölftonkomposition und Serialität, deren Funktionalität auf das Ganze der Komposition zielt, das nur über das Gedächtnis beim Hören zu rekonstruieren, zu erleben ist, ist die repetitive Musik auf das Vergessen gerichtet, obwohl sie tonal und harmonisch ist. Ihre endlosen Wiederholungen und Abwandlungen lassen – etwas vereinfacht ausgedrückt – allmählich vergessen, ob man es mit einem Akkord, einer Dreiklangsfigur, einer Tonleiter der Grundtonart, der Tonika, der entspannten Ruhe, oder ob man es mit einem Akkord, einer Dreiklangsfigur, einer Tonleiter einer Gegenspannung, einer Dominante zu tun hat. Und das begründe das Essentielle, das Neue an der Musik von Reich und Glass, dass sie auf den Hörer keinen Zwang ausübe, dass sie dem musikalischen Existentialismus, wie ihn zum Beispiel Adorno formuliert hat, einen lnexistentialismus fast im Sinne des Taoismus gegenüberstelle.

Das Konzept dieser Interpretation leuchtet ein, wenn man zum Beispiel die Musik von Philip Glass mit den Sujets seiner Musiktheaterstücke „Einstein on the Beach“ und „Satyagraha“ vergleicht, Einstein als den Repräsentanten der neuen Wissenschaft, der neuen Physik, der Relativität darstellt mithilfe einer Musik, die eine Relativität der harmonischen und melodischen Beziehungen durch insistierendes Wiederholen und Abwandeln und Wiederholen erzeugt, wirkt ebenso plausibel wie die Darstellung der Entwicklungsgeschichte der religiös und kulturell begründeten Gewaltlosigkeit Mahatma Gandhis in der Minimal-Oper „Satyagraha“. Wie aber könnte das Konzept der Minimal Music sich gegenüber der Darstellung von zentraler Macht und monotheistisch zentrierter Religiosität verhalten? Diese Frage lag sozusagen schon vor oder über dem Projekt der Oper „Echnaton“ von Philip Glass, dessen Libretto Glass zusammen mit Shalom Goldmann, Robert Israel, Richard Riddel und Jerome Robbins und dessen Szenarium Achim und llona Freyer ausgearbeitet haben, und zwar schon, bevor eine einzige Note geschrieben war. Denn das „Echnaton“-Projekt ist als abschließender und krönender dritter Teil einer Musiktheater-Trilogie des Komponisten Glass und des Veranstalters, des Württembergischen Staatstheaters Stuttgart, schon vor Jahren öffentlich angekündigt und nun auch öffentlich eingelöst worden. Die grundsätzlichen Fragen sind allerdings sozusagen dringlich geblieben.

Die Bühne ist nicht durch den Bühnenvorhang verschlossen, vielmehr durch mehrere helle halbdurchsichtige Stoff- und Tüllbahnen, auf die irisierendes farbiges Licht ineinander übergehender Farben projiziert ist. Die Verdunkelung des Publikums, der Auftritt des Dirigenten Dennis Russell Davies, der Begrüßungsapplaus sind die Startsignale des Stücks, der Ouvertüre. Nach wenigen Minuten heben sich einige der fließenden Stoffvorhänge und geben einen verschleierten Blick auf die Bühne frei. Ein einfach gekleideter Mann, ein nicht sonderlich individuelles „Individuum“, tritt auf, geht umher und verschwindet wieder. Eine orientalische Knabengestalt (Echnaton als Kind) wickelt im Laufen eine lange Stoffbahn von einer standbildartigen Pharao-Figur, die vom Sockel gestürzt wird. Der Schreiber (eine Frau) singt eine Begräbnis- und Auferstehungshymne. Ein großer schwarzer, mit Streifen bemalter Kubus – sieht so das schwarze Heiligtum des Islam in Mekka aus? – zeigt ein bilderreiches Innenleben. Ist der Kubus durchsichtig oder wird auf ihn nur projiziert? Ein überdimensionaler Grabstein, Symbol für den toten Pharao, für den alten Ritus der komplizierten Götter- und Priesterhierarchie im alten Ägypten. Die Szene wird zum Begräbnisritual.

Nach der feierlichen Verabschiedung des alten Pharao folgt die Krönung des neuen. Ein abschnittsweise von einem Solistentrio von Priestern und Heerführern vorgetragener lebhafter Gesang wird durch grimassierende Mimik der Sänger und der Pharao-Mutter, die den Kopf ihres Sohnes fast gewaltsam hinstreckt, konterkariert: auch der Knabe streckt die Zunge heraus, noch einmal beim Abgang. Und in einer dritten Szene vor der ersten Pause werden allgemeine Lob- und Absichtssprüche auf den neuen Herrscher gesungen, der mit einer Geste, Jupiter gleich, den schwarzen Block, die alte Herrschaft, den alten Tempel vernichtet. Wie zuvor bleiben die meisten Gesangstexte unverstanden fremd, sind in altägyptischen Sprachen gehalten. Ein Erzähler, Chronist, dargestellt als Sprecherin, verliest deutsche Texte.

Der zweite Akt zeigt nach der Pause einen neuen, helleren Kult, die Verehrung des Echnaton als einen Sohn der Sonne, als Sohn des einzigen, doch ungreifbaren Gottes Aton, dem er eine neue Stadt im Osten von Theben, der alten Hauptstadt, baut. Und er zeigt Echnaton neben seiner schönen Frau Nofretete und seiner Mutter Teje. Zusammen ein idyllisches, ein weiß- und goldgekleidetes Trio hoher, glänzender, zärtlicher Stimmen – Echnaton als (von Paul Esswood glänzend bewältigte) Countertenor-Partie – auch hier am Schluss in einer Fratze des stummen Erschreckens endend.

Und im dritten Akt nach einer weiteren Pause werden Echnaton und Nofretete im Kreise ihrer sechs Töchter im neuen Palast in der neuen Stadt gezeigt: Die Helle und Lieblichkeit von Bild und Stimmen ist noch einmal gesteigert. Dazu kontrastierend verliest der Erzähler (die Sprecherin) Botschaften aus allen Provinzen des Reichs. Die Priester und Heerführer mobilisieren das Volk gegen den idyllischen Sonnenpharao und stürzen ihn schließlich. Schon zu Beginn des Akts tummeln sich am Bühnenrand neuzeitliche Menschen. Sie werden schließlich zu Touristen in den Ruinen der neuen Stadt und ziehen in die gleiche Richtung wie der Begräbniszug zu Beginn. Der Erzähler (die Sprecherin) wird zum Fremdenführer. Auch Echnaton und Nofretete kehren schließlich als geisterhafte Silhouetten wieder und ziehen in die gleiche Richtung wie der Begräbniszug zu Beginn. Bis schließlich die ganze Bühne sukzessive leergeräumt wird.

Das Publikum ist verständlicherweise verwirrt: die Stuttgarter Philip-Glass-Gemeinde, die es seit Freyers szenischer Neufassung und Inszenierung von „Satyagraha“ seit 1981 dort sehr zahlreich gibt, jubelt, angespornt nicht zuletzt durch eine deutliche Ablehnung des älteren Publikums. Doch muss ich gestehen, lässt „Echnaton“ – ganz anders als „Einstein on the Beach“, „Satyagraha“, die Sprechtheaterarbeit „Der Fotograf“ und der Film „Kooyanisqatsi“ – ratlos. Glass’ Musik der wiederkehrenden, auf- und abpendelnden (im engen Orchestergraben des Schauspielhauses kaum je richtig strömend entfalteten) Moll- und Dur-Figurationen macht nicht vergessen, dass sein Prophet einer neuen Religion, „Echnaton“, von heute aus gesehen eine alte Religion verherrlicht, mit Monteverdi-, Vivaldi-, Berlioz-artigen Streicher- und Bläserklängen, zugleich eine gewaltsame und eine unmenschlich größenwahnsinnige. Erst durch Achim Freyers Brechungen – und die sind ganz antiminimalistisch, entstammen dem „Unterhaltungs-Zeitsystem“2 – Brechungen im Bild, im Licht und in der Personenführung, entsteht Sinn, ein Sinn, der allerdings durch Glass’ musikalische passacaglienhafte Wiederholungs-, Repetitionsrituale ganz ungebrochen untermalt wird. Oder anders, mit der positiv-dialektischen Sprache des Vitalisten Daniel Charles ausdrückt: Mit „Echnaton“ beginnen wir, das Betäubende, das Süchtige der Minimal Music von Glass kritischer zu hören, sozusagen mit dem Gedächtnis einzuholen. Der Minimalismus ist gealtert. Und sein Anspruch, jedenfalls im Projekt „Echnaton“, die wahre Volksmusik zu sein, zeigt sich nicht ganz so frei von Herrschaft, Funktion und Existentialismus, wie es die Klänge (und ihre Apologeten) glauben machen wollen.

Oder liegt vielleicht gerade darin ein neuer (Wende-) Reiz? Ein neuer Reiz für Glass, der es mag, wie er stolz erzählt, dass mehrere tausend Leute zu einem seiner Konzerte, seiner Stücke kommen, und der es vielleicht schon instinktiv spürt, dass ihm das gealterte und aufstrebende Jazz- und Rockmusik-Publikum im Opernhaus von einst zuströmt und gar nichts gegen eine Verherrlichung, Vergöttlichung von Macht hat ... ein neuer Reiz also auch für sein Publikum?

1Daniel Charles, Musik und Vergessen, Berlin: Merve, 1984.

2Philip Glass, „Die Wahrnehmung verschieben“, in: Sylvère Lotringer, New Yorker Gespräche, Berlin: Merve, 1983, 61–79.