MusikTexte 5 – Juli 1984, 54–55

Eine willkommene Chance

Porträt der proViva-Plattenreihe

von Reinhard Oehlschlägel

Die Schallplattenindustrie befindet sich weltweit in großen Schwierigkeiten und damit verbunden in Umstellungen und Konzentrationsbewegungen von einem noch nicht absehbaren Ausmaß. Der Übergang, der mögliche Übergang auf neue Speicherformen, wie sie zum Beispiel die digitale Kompaktplatte darstellt, hat nicht zuletzt die Käufer, die breitere Schicht der Sammler und Liebhaber verunsichert. Die Marktverunsicherung trifft verständlicherweise in größerem Maße auf die für längere Nutzung bestimmten und auch gebrauchten Platten zu, die von Konzertmusik, der sogenannten „Klassik“. Und die Risikobereitschaft schwindet bei allen spezielleren Farben und weniger gängigen Angeboten immer mehr dahin. Diese Entwicklung hat natürlich auch die größeren Plattenproduzenten in Deutschland nicht unberührt gelassen. Die Aufgabe der von ihnen zusammen finanzierten Phono-Akademie, die der Branche einen auf längere Sicht wirksamen Anstrich von kultureller Bedeutung, wenn nicht gar die Ermäßigung der Umsatzsteuer bringen sollte, die die Buch- und Zeitschriftenbranche pauschal ohne Nachweise erhält, ist ein nur allzu deutliches Signal. Ein anderes ist die nahezu vollständige Risikovermeidung bei dem kleinen Rest der Produktion, der das kompositorische Schaffen der letzten zehn, fünfzehn Jahre betrifft, das seinerseits keine derartige Krise erlebt, vielmehr quantitativ eher weiter zugenommen hat.

Auf diesem Hintergrund schweift der nach Auswegen suchende Blick zumeist über den Ozean in die USA, zum Beispiel zu den zahlreichen Kleinst- und Selbsthilfe-Labels in New York wie Arch Records, Lovely Music, India Navigation, Opus One und andere mehr, die im New Music Distribution Service einen Selbsthilfevertrieb gefunden haben. Lernen lässt sich allemal von diesen Modellen.

Aber auch in Europa und in Deutschland gibt es da und dort erstaunlich produktive Klein- und Speziallabels. Eines der produktivsten der letzten Jahre in der Bundesrepublik ist das proViva-Label der Münchner Intersound GmbH & Co. KG, das seit 1980 bereits achtzehn Platten mit neuer Musik im weiteren Sinne auf den Markt gebracht hat: Im Startjahr 1980 waren es zunächst drei, 1982 waren es fünf und im laufenden Jahr tragen bereits sieben Platten die Produktionsdatierung 1984, obwohl es erst sechs Monate alt ist. Auch wenn die Neuheitenzahlen von 1981 und ’83 wesentlich geringer sind, ist ein Produktionszuwachs unverkennbar.

Schaut man sich nun an, mit welcher Musik, mit welchen Namen diese ganz erstaunliche Produktivität zustande kommt, die rein quantitativ an die Gründerjahre etwa des Wergo-Labels erinnert, so weist der proViva-Katalog auf mehr als neun, also auf gut der Hälfte der Platten polnische, auf drei Platten im engeren Sinne deutsche, auf zwei weiteren in Deutschland lebende und eingebürgerte bulgarische Komponisten aus; zwei Platten enthalten Stücke angelsächsischer und eine südkoreanischer Provenienz. Auffällig ist die vollkommene Abwesenheit von Stücken aus den romanischen Ländern, aus den Benelux-Ländem und aus Skandinavien. Und auffällig ist der hohe slawische, allerdings vor allem auf Polen und eben auf zwei Exilbulgaren begrenzte Anteil.

Zwölf von achtzehn Platten sind Komponistenplatten, zwei davon je einem größeren Werk gewidmet, wobei der polnische Komponist Krzysztof Meyer mit über drei Platten und sein Landsmann Augustyn Bloch mit zwei Platten besonders herausgehoben sind. Zweifellos wird das Profil dieser Auswahl nicht zuletzt auch von den persönlichen Vorlieben des Inhabers dieser Plattenfirma, von Gerhard Narholz, geprägt. Dazu mögen Mentalitäts-, aber auch Verhaltens- und Geschäftsfragen bei der Auswahl eine wesentliche Rolle gespielt haben. So fällt beispielsweise auf, dass die meisten Stücke beim Hören keine wesentlichen Probleme stellen, also leicht hörbar sind. Alles wirklich klanglich Weitergehende hinsichtlich Sprach-, Geräusch-, Elektronik- und Computerkomposition, auch jeder im engeren Sinn experimentellere Ansatz scheint ausgeschlossen zu sein. Aber man sucht auch für den umschriebenen Erfahrungsbereich vergeblich nach den bekannten und verkaufsträchtigen Namen.

Man mag darin vor allem einen hohen Grad von Risikobereitschaft sehen. Doch liegt andererseits auf der Hand, dass sich eine derart umfangreiche Produktion auf Dauer nicht defizitär durchhalten lässt, schon gar nicht bei einer wesentlichen Steigerung des Repertoires über mehrere Jahre. Das Fehlen der großen Namen hat darum sicher noch einen anderen Grund. Schaut man sich die im Kleingedruckten verzeichnete Verlagszugehörigkeit der Stücke dieser Plattenreihe an, so wird man vielleicht überrascht sein, dass ausnahmslos alle Kompositionen bei der Edition Pro Nova des Sonoton Musikverlags in München liegen, dessen Inhaber ebenfalls Gerhard Narholz ist. Voraussetzung für die Aufnahme in dieses Plattenlabel ist also für einen Komponisten die Bereitschaft, sein Werk zugleich auch an gleicher Stelle in Verlag zu geben. Dieser Geschäftsverbund ist es wohl vor allem, der die hohe Zahl an Komponistenplatten verursacht hat. Und er ist es, der die großen Namen, die fest an Musikverlage gebunden sind, hier ausschließt.

Aber dieser Verbund ist es letztlich wohl auch, der diese Art von Plattenproduktion auch wirtschaftlich einigermaßen absichert. Denn der Verbund von Verlag und Schallplattenproduktion sichert dem Kleinunternehmen, zumal wenn seine Platten auch im Rundfunk gespielt werden, zusätzliche Einnahmen über die Urheber- und die Leistungsschutzrechte, über die GEMA und GVL also.

Dass die großen und kleinen Musikverlage im herkömmlichen Sinn, dass auch die renommierten Komponisten, die feste Verlagsbindungen, derzeit aber kaum Chancen bei den großen Schallplattenproduzenten haben, die Konzeption der proViva/proNova-Unternehmung, in der im Wesentlichen ein in der Unterhaltungsmusik weiter verbreitetes Verfahren auf neue Musik ausgedehnt wird, eher skeptisch betrachten, lässt sich denken. (Natürlich haben die beiden Großverlage der Musik in der Bundesrepublik bei ihren hauseigenen Schallplattenproduktionen die gleiche vielfach, wenn auch nicht ausschließlich genutzte Möglichkeit.)

Für noch unbekanntere jüngere, auch mehr regionale Komponisten, die es schwer haben, eine feste Verlagsverbindung aufzubauen, ist das Münchner Unternehmen andererseits eine willkommene Chance, natürlich auch für manchen Interpreten.

Die Interpretenplatte zum Beispiel mit dem Münsteraner Gitarristen Reinbert Evers macht schwer erreichbare Musik von vier deutschen Komponisten zugänglich, darunter ein „Notturno für die trauerlos Sterbenden“ von dem Frankfurter Komponisten Rolf Riehm. Die Platte des jungen Wiener Schubert-Quartetts enthält neben anderem das erste Streichquartett des 1956 in Wien geborenen, so jungen wie begabten Thomas Pernes, das dieser im Alter von zwanzig Jahren geschrieben hat. Auch die meisten Komponistenplatten enthalten einige durchaus hörenswerte Arbeiten und interpretatorische Leckerbissen. So bringt die Platte mit vier Stücken des Würzburger Komponisten Klaus-Hinrich Stahmer das 1982 für den Stuttgarter Saxophonisten Bernd Konrad entstandene „Planto per los victimos de la violencia“ – den Opfern der Gewalt gewidmet – das Konrad hier ausgesprochen saxophonisch auf der Bassklarinette wiedergibt. Von einigen Komponisten, wie zum Beispiel von dem in Köln lebenden Bojidar Dimov und den in Berlin lebenden Komponisten Nikolai Badinski und Sukhi Kang, liegen über proViva überhaupt zum ersten Mal Schallplattenaufnahmen vor. Badinskis „Dialoghi per Viola solo“ von 1973 zeigen hier und da einen exotisch-slawischen Background. Mit Eckart Schloifer steht auch hier ein virtuoser und sensibler Könner zur Verfügung.

Auch die Platten mit polnischen Komponisten weisen im Großen und Ganzen einen hohen Interpretationsstandard aus. Beteiligt sind hier das Polnische Kammerorchester unter Jerzy Maksymiuk, das Wilanow-Quartett, die Sopranistin Halina Łukomska, der phänomenale Tubist Zdzisław Piernik und der Komponist Krzysztof Meyer als sein eigener authentischer Pianist.

Wenn auch nicht alle vorgelegten Stücke Begeisterung auslösen werden, wie etwa die etwas mystifiziert anmutende „Missa in annuntiatione Beatae Mariae virginis“ von Roman W. Zajaczek, so ist doch die ganze Plattenserie – auch technisch durchweg anspruchsvoll aufgenommen und gepresst – durchaus ein Gewinn.