MusikTexte 6 – Oktober 1984, 19–24

Auf der Suche nach dem Ritus des Menschen

Karel Goeyvaerts im Gespräch über „Litanie 1–6“

mit Gisela Gronemeyer und Reinhard Oehlschlägel

Du hast jetzt fünf „Litaneien“ geschrieben und wirst auch nicht mehr komponieren. Hast du das von Anfang an so geplant?

Nein. Die erste hatte ich „Litanie“ genannt, und dann erschien es mir möglich, aus so einer Idee mehrere Stücke zu entwickeln. Es erschien mir möglich, ganz verschiedene Sachen mit verschiedenem Material aus dieser Idee heraus zu komponieren, und allmählich bin ich dann bis zu fünf gekommen. Früher habe ich eine Idee nie mehrmals verwertet. Es gibt eine gewisse Entwicklung in diesen fünf Litaneien, es ist gar nicht derselbe Ablauf, und in „Litanie 5“ gibt es eigentlich fast nichts mehr von den Prinzipien und Elementen der „Litanie 1“. Und dann habe ich damit aufgehört, weil die fünfte eigentlich keine richtige „Litanie“ mehr war.

Es steckt also auch keine Konzeption dahinter, sondern du hast eher zufällig für Besetzungen geschrieben.

Nein. „Litanie 1“ musste für Klavier sein, weil es ein sehr perkussives Stück ist. „Litanie 2“ entstand so: Ein amerikanisches Schlagzeugtrio aus Cincinnati fragte nach einem Stück, und dann habe ich das für drei Schlagzeuger geschrieben. Bei „Litanie 3“ habe ich ausprobieren wollen, wie es mit dem Orchester geht, weil im Orchester vor allem die Möglichkeiten der Überlagerung viel größer sind. Zu „Litanie 4“ hat mich das Ensemble Kaleidocollage in Paris angeregt ...

Das Ensemble hatte schon eine bestimmte Besetzung?

Ja, es ist eine Gruppe von sechs Musikern. Dann bekam ich einen Auftrag von Radio France und habe gedacht, dass es passend wäre, weil Kaleidocollage in Paris lebt, das Stück für Radio France zu schreiben.

Das war dann doch eher Zufall, nicht wahr?

Es gibt auch viel Zufall dabei. Die Idee zu „Litanie 5“ kam von Nicole Lachartre, die in Paris Konzerte organisiert und manchmal Elisabeth Chojnacka einbezieht. Elisabeth hatte mich schon vor etwa zehn Jahren um ein Stück gebeten, und das habe ich dann auch geschrieben, weil ich gern etwas für Elisabeth schreiben wollte.

Kann man sagen, dass es Merkmale gibt, die alle Litaneien gemeinsam haben?

Fast kann man das sagen, nur „Litanie 5“ ist anders. Die anderen vier haben immer so einen Auf- und Abbau von kleinen Elementen, die sich überlagern: Während das eine noch nicht ganz abgebaut ist, fängt schon etwas anderes an. Und das gibt es in viel dichterer Überlagerung in „Litanie 3“, weil ich da die Orchestermöglichkeiten hatte. Das ist so eine Konstante für „Litanie“ 1, 2, 3 und 4. Bei „Litanie 5“ ist es ein bisschen anders.

Auch wenn es Gemeinsamkeiten gibt, hast du jede „Litanie“ doch wieder sehr anders gestaltet. In Litanie 1 ist das Kompositionsprinzip ziemlich klar. Da ist es die Regel, dass immer etwas hinzugegeben und dann wieder weggenommen wird, und eine neue Gestalt ist im Aufbau begriffen, während die andere langsam ausgeblendet wird. Wie bist du da vorgegangen beim Komponieren? Wusstest du schon die dichteste Gestalt, und hast du dann einen Übergang langsam hergestellt oder wirklich vorn angefangen?

Nein, nein. Ich habe es für jede „Litanie“ verschieden gemacht. Bei „Litanie 1“ zum Beispiel habe ich so eine Gestalt komponiert und danach gesehen, wie die sich auf- oder abbauen ließe. Ich habe alle diese verschiedenen Entwicklungen getrennt voneinander aufgeschrieben, jedes Mal eine andere Gestalt, und danach überlegt, wie man die miteinander kombinieren kann.

Also den dichtesten Moment hast du sozusagen erst einmal notiert und dann überlegt: Wie komme ich dahin und wie gehe ich da wieder weg?

Und danach: Wie kann ich die miteinander verknüpfen? Auch technisch-pianistisch war das so.

Wie viele verschiedene Gestalten treten denn da auf?

Es gibt immer wieder andere, nur am Ende gibt es dann die Wiederholung der ersten Gestalt. Sonst gibt es immer andere, es gibt vielleicht zwanzig, ich weiß es nicht.

Du hast jedes Mal die dichteste Stelle gesucht und bist dann davon ausgegangen. Du hast diesen Prozess also praktisch zwanzigmal in diesem Stück durchgeführt. Wie hast du das gemacht? Erst alle zwanzig hingeschrieben?

Das habe ich so gemacht wie zwanzig oder dreißig Jahre früher: Ich habe eine Materialsammlung angelegt ...

Du hast also zuerst einmal ein Materialreservoir gehabt, hast dir alles zurechtgelegt, und hast dann aus diesem Material heraus das Stück geschrieben. Das war aber kein Zwölftonmaterial?

Nein, nein. Das Material bestand aus allen diesen verschiedenen Gestalten.

Hast du dieses Material am Klavier ausgehört?

Ich habe kein Klavier.

Wie bist du in „Litanie 2“ vorgegangen? Nach dem gleichen Prinzip?

Ja. In „Litanie 2“ waren es noch mehr die vorhandenen Instrumente, die eine Rolle gespielt haben. Ich habe von den Schlagzeugern aus Cincinnati eine Liste der Instrumente bekommen, mit denen sie eine Rundreise durch Europa machen wollten, und für diese Instrumente habe ich dann Klangfolgen geschrieben, die sich aufbauten wie in „Litanie 1“, aber ich habe den Aufbau mit den Instrumenten von Anfang an ausgearbeitet. Das war viel mehr vom Instrument her bestimmt, und ich habe dann jedes Mal so einen Auf- und Abbau ausgeschrieben mit dem, was da an Instrumenten vorhanden war, und zwar habe ich wegen des Klangcharakters bestimmte Gruppen ausgewählt. In der Kombination der Instrumente ergab sich so ein bestimmter Klangcharakter, es ist viel mehr ein Klangstück als „Litanie 1“, und das ist von der Idee der Zusammenstellung der Instrumente bedingt.

Was ist mit diesen lauten Schlägen, die da immer wieder kommen?

Ich wollte da so etwas wie einen Refrain bilden. Das ist vielleicht noch eine Idee, die von Messiaen kommt. Ein Moment, das immer unterbricht.

Also wird auch die Entwicklung praktisch immer wieder abgebrochen. Abgebrochen oder unterbrochen?

Weil ich es einfach nicht mehr für notwendig erachtete, das weiter auszuarbeiten. Es kam so ein Moment, in dem ich sagte, jetzt ist es genug damit. Ich weiß nicht, warum.

Das heißt, die Entwicklung geht auch nach dem Refrain nicht mehr weiter?

Nein.

Aber dieses Prinzip hast du nur in „Litanie 2“ verwendet. Und in „Litanie 3“ ist dann alles natürlich viel komplexer geworden. Aber es ist wieder das gleiche Prinzip, dass du wiederholst und dabei auf- und abbaust.

Wie ich das eigentlich gemacht habe mit „Litanie 3“, weiß ich nicht mehr. Das ist manchmal so mit dem, was ich geschrieben habe; zwei, drei Jahre später weiß ich einfach nicht mehr, wie ich es gemacht habe.

Du schreibst in deiner Autobiographie, dass du über diese Kompositionen noch nicht sprechen willst, weil sie noch in zu unmittelbarer Vergangenheit liegen. Aber was ist, wenn du dann in zwei Jahren alles vergessen hast?

Im Allgemeinen interessiert mich nicht so sehr, was vorbei ist; ich denke immer an das, was kommt, und ich habe auch immer dieses Gefühl, dass es jetzt viel besser ist. Daher interessiert mich nicht mehr, was ich vorher gemacht habe, da es sowieso nicht so war, wie ich wollte.

Also du weißt jetzt nicht mehr, wie du „Litanie 3“ komponiert hast?

Ich glaube, dass ich da auch jede Schicht getrennt ausgeschrieben habe und dann kombiniert, sie gleicht also vielmehr „Litanie 1“.

Obwohl „Litanie 1“ nur für Klavier und „Litanie 3“ für Orchester geschrieben ist.

Ja, aber das Verfahren war irgendwie dasselbe. Diese Abläufe habe ich nicht mehr so auf ein bestimmtes Moment zentriert wie noch in „Litanie 1“, sondern ich habe sie eher kommen lassen. Es beginnt mit etwas Klanglichem, und allmählich wird daraus etwas, was ich selber nicht so vorhergesehen habe.

Heißt das, dass du dir beiLitanie“ 1 und 3 auch erstmal wieder ein Materialreservoir aufbaust und dann daraus komponierst?

Ja, aber das Materialreservoir für „Litanie 3“ bestand schon aus völlig ausgeschriebenen Sequenzen, die nur noch zu kombinieren waren, und von denen ich schon irgendwie wusste, welche Kombinationen dabei herauskommen konnten, weil ich schon mit dem gerechnet habe, was vorhanden war.

Gehst du intuitiv, emotional vor beim Komponieren oder rational?

Das ist abhängig von dem, was ich schreibe. Ich glaube, dass ich bei einem Stück wie „Litanie 3“ viel intuitiver vorgegangen bin als bei „Litanie 1“ ...

... in der du mehr konstruiert hast. Liegt das auch an der Art, wie du dir das Material zusammenstellst?

Das hat mit meiner Einstellung im Moment der Arbeit zu tun, und auch damit, wo ich es schreibe und wann. In bestimmten Momenten habe ich gar keine Lust, ein Material auszuarbeiten, und hier wollte ich auch sofort wissen, was da klingt, was da umgeht.

Die „Litanie 4“ ist dagegen eher wieder ein rationales Stück.

Ja, ja. Trotzdem habe ich auch hier den Auf- und Abbau nicht genau geplant. Wohl wusste ich, dass ich in bestimmten Momenten Assoziationen schaffen wollte, und zwar da, wo es Texte gibt. Zum Beispiel kommt einmal so ein sakraler Moment vor, wo die Worte sich dem „Gloria in excelsis“ annähern. Oder wo sich die Worte einem russischen Wiegenlied annähern. So gibt es gewisse Stimmungen, die damit verknüpft sind. Wenn man zum Beispiel ein „Ayo“ hört, dann denkt man sofort an die russische Amme mit dem Kind in den Armen, das ist so ein Stimmungsmoment. Das kommt an eine bestimmte Stimmung heran, die dann wieder verschwindet.

Diese Worte, auf die gesungen wird, bedeuten die denn etwas?

Sie bedeuten beinahe etwas. Es kommt eigentlich nicht ganz dazu. In Aquarius gibt es das auch.

Hast du den Text vorher gearbeitet? Erstmal mit Buchstaben und Silben ...

Nein, nein. Es ist so, dass die Musik einmal zu einer bestimmten Stimmung führt, und dann glaube ich, selber zu erkennen, wo es langgeht, und dann mache ich es auch weiter so.

Du hast erst einmal die Musik komponiert. Erstmal die Tonhöhen ...

Nein, nein. Auch die Stimme wird so geschrieben, wie man von einem Instrument ein Pizzikato verlangen würde, oder wenn man von der Stimme eine bestimmte Stimm­akzentuierung verlangt, eine bestimmte Klangfarbe, und die Klangfarbe, die wird dann wirklich ein Wort.

Also du fängst mit dem Klang A an, etwa in „AYO“?

Ja, aber das ist nur für die Klangfarbe, die da klingen soll. A-Y-O, ein y dazwischen, um die beiden verschiedenen Klangfarben von einander zu trennen. Und weiter macht sie dann „HoHo“, das ist gedacht wie ein tiefes Ausatmen.

Die „Litanie 5“ ist für mehrere Cembalisten geschrieben oder für ein Cembalo und Tonband. Du hast das Stück eingeteilt in bestimmte Zonen, D-C-B-As-Fis-E-D. Und innerhalb dieser Zonen gibt es wieder Sequenzen. Und du sagst in deinem Vorwort, die Interpreten können sich die Reihenfolge dieser Sequenzen selber aussuchen. Aber wenn die Reihenfolge einmal bestimmt ist, müssen sich alle daran halten. Ist das richtig?

Ja, es muss dann immer dieselbe Folge sein.

Aber wie ist denn das Zusammenspiel geregelt?

Nehmen wir an, dass angefangen wird; es muss sowieso mit der ersten Sequenz begonnen werden. Man spielt diese erste Sequenz, und an bestimmten Stellen setzen dann die anderen ein. Und jedes Mal muss zwischen den Interpreten oder von einem einzigen Interpreten mit dem Tonband verabredet werden, wo der nächste Einsatz ist. Das ist wie ein Kanon.

Und es können beliebig viele Interpreten sein?

Ich glaube eher, dass drei schon eine gute Zahl ist. Und es ist auch so, dass alle diese Sequenzen einander überlagern, und auch die Sequenzen einer Zone werden schon wieder überlagert von der nächsten.

Das heißt, dass es im Grunde doch das Überlagerungsprinzip ist, das du vorher auch angewandt hast, nur ist es hier vielleicht etwas freier.

Es hat natürlich noch mit den vorigen Litaneien zu tun.

Du hast in deiner Autobiographie auch angesprochen, dass das, was du in den Litaneien machst, eigentlich gar nicht so neu ist, sondern dass sich da einiges auf frühere Sachen bezieht. Wie verhalten sich die Litaneien zu deinem früheren Werk?

Es ist jetzt eher so, dass ich gar nicht mehr fürchte, etwas zu schreiben, das es schon vorher gab, und ich fühle mich jetzt ganz wohl in bestimmten Sachen. Das Benutzen der Tonalität zum Beispiel ist jetzt kein Problem mehr, das ist einfach so ...

Das war mal ein Problem?

… und ich habe gar nicht mehr die Sorge, etwas Neues machen zu müssen.

Gibt es im früheren Werk schon eine Litanei, sozusagen eine verdeckte Litanei, ein Wachstumsmodell?

Nein, ich glaube nicht, denn das Kontinuierliche, das es in den Litaneien gibt, habe ich erst viel später erreicht.

Gibt es das schon im früheren Werk, dass du dich mit Repetition beschäftigst?

In einem ganz anderen Sinn, ja. Nummer 4 mit toten Tönen, das ist doch eine ständige Repetition vom Anfang bis ans Ende.

Aber du meinst, du hast jetzt nicht daran angeknüpft, als du mit diesen Litaneien angefangen hast. Das ist in einem ganz anderen Sinn einfach. Du schreibst auch, es gibt einen „natürlichen“ Zusammenhang zwischen den Litaneien, und dem, was du vorher gemacht hast. Du hast uns jetzt einen Punkt genannt. Was gibt es noch?

Wahrscheinlich habe ich an etwas Bestimmtes gedacht, aber ich weiß nicht mehr an was.

In deiner Autobiographie wolltest du dich dagegen nicht dazu äußern. Du wartest, bis etwas so fern liegt, dass du sagen kannst: Jetzt habe ich es vergessen. Wie bist du denn mit Klangfarben früher umgegangen im Vergleich zu heute?

In den verschiedenen Perioden meines Lebens haben die Klangfarben auch ganz bestimmte Rollen gespielt, und für eine lange Zeit, in den Fünfzigerjahren, war das durchaus eine serielle Rolle.

Das war ja der schwierigste Punkt in der seriellen Musik: Wie organisiere ich die Klangfarben reihenartig?

Schon 1950 habe ich daran gedacht, dass das in diese serielle Organisation einbezogen werden soll, und das ist mir als sehr schwierig erschienen.

Der Zwang der seriellen Gesetzmäßigkeit ist überwunden, was Tonalität anbetrifft. Du hast keine Angst mehr, Tonalität zu verwenden. Wie ist das mit der Klangfarbe? Interessiert dich die serielle Klangfarbenorganisation noch, oder ist das auch uninteressant geworden?

Jetzt hat für mich die emotionale Bedeutung der Klangfarbe viel mehr Bedeutung.

Klangfarbenmelodien komponierst du nicht mehr?

Die Klangfarbe muss jetzt eine viel größere Kontinuität haben, weil diese emotionale Stimmung nicht einfach von einer Sekunde auf die andere wechseln kann. Also ist es für mich jetzt nicht mehr denkbar, dass ich das Klangbild so unterschiedlich schreibe wie in den Sechziger- oder Siebzigerjahren.

Gibt es denn überhaupt etwas aus der seriellen Zeit, was du dir bewahrt hast?

Nicht bewusst. Ich weiß, dass Herman Sabbe da immer noch viele Verknüpfungen findet, aber mich berührt das nicht so.

Wie sind die Dinge, die sozusagen von Messiaen hergekommen sind. Du sagst zum Beispiel, dass du in der „Litanie 2“ refrainartige Dinge, Signalements einbaust. Gibt es auch „ajoutées“, Hinzugefügtes, zum Beispiel im Metrischen?

Nein. Metrisch und rhythmisch ist meine Musik viel einfacher als die von Messiaen.

Es war ja eigentlich ein ziemlich entscheidender Einschnitt in deine Musik, als du mit diesen repetitiven Dingen angefangen hast. Mit welchem Stück war das eigentlich?

Das war in der IPEM-Zeit. Für mich hat da die Bandschleife eine große Rolle gespielt. In einem elektronischen Studio erlebt man so etwas ständig, und den Ausdruck des Repetitiven habe ich dabei kennengelernt. Es hat so etwas Faszinierendes. Ein einfaches Phänomen über eine lange Zeit gelagert, so wie ein einfaches Crescendo oder eine einzige Steigerung von Frequenzen, die aber über eine sehr lange Zeit ausgedehnt wird, das habe ich auch mit dem elektronischen Tonmaterial gemacht.

Du hast also praktisch mit elektronischem Material angefangen zu experimentieren. Was war denn nun dein erstes Stück, mit dem du die Phase deiner repetitiven Komposition ansetzen würdest?

Repetitive Elemente gibt es schon vorher, aber ganz konsequent repetitiv ist „Ach Golgatha“ von 1975. Das ist überhaupt das am meisten repetitive Stück, das ich gemacht habe.

Du hast deinen Kompositionsstil mit der Zeit doch ziemlich radikal gewandelt. Es ist alles zusammengekommen, deine Rückkehr zu modalen tonalen Prinzipien und die Anwendung repetitiver Strukturen. Haben da nicht auch noch andere Einflüsse eine Rolle gespielt?

Vielleicht die Lebensumstände. Vor 1970 habe ich für Sabena gearbeitet, und jetzt habe ich ein ganz anderes Leben. Es hat sich 1970 sehr gründlich geändert, als ich zum IPEM gegangen bin. Das war nicht nur der tägliche Kontakt mit dem Studio, sondern auch das Leben, das Haus, diese Atmosphäre, diese sehr, sehr ruhige Stimmung in dem alten Haus, das war so ganz neu. Und damit hat es vielleicht auch zu tun, dass ich die Musik ganz anders betrachtet habe.

Es ist ja eigentlich auch, um mal ein Schlagwort zu gebrauchen, eine Art Rückkehr zu einer neuen Einfachheit. Du wolltest ganz bewusst deine Sprache wieder vereinfachen?

Ja, weil Musik überhaupt wieder eine neue Bedeutung für mich bekam. Das hat auch mit dem Auftauchen von emotionalen Dingen zu tun. Ich glaube, dass ich überhaupt im Ganzen zu einem intuitiven, emotionalen Leben erwacht bin, und dass Musik darin auch eine ganz andere Rolle spielen wird. Das war nicht mehr so im Rahmen der Musik des zwanzigsten Jahrhunderts gedacht, denn das ist für mich ganz unwichtig geworden, während ich mich vor 1970 noch darum gesorgt hatte, was für eine Stellung ich in der neuen Musik einnehmen kann. Ich weiß einfach nicht mehr, ob ich in der Musik dieser Zeit noch zu Hause bin. Auch bei einem Stück wie „Aquarius“ stelle ich mir vor, dass es ein ganz anderes Publikum erreichen soll. Von der Welt der neuen Musik wird es vielleicht als unwichtig und unbedeutend verworfen, aber vielleicht zieht es eine große Menge Leute an, die sonst noch nichts mit neuer Musik zu tun hatten.

Du betonst auch immer wieder den magischen Charakter gerade des Repetitiven.

Das hat mich lange Zeit am Repetitiven angezogen, und dann habe ich allmählich entdeckt, dass es auch ganz andere Sachen in der Tonsprache gibt, die eine magische Bedeutung, einen magischen Ausdruck haben können. Das Wiederholen, das Repetitive ist dann nicht mehr essentiell geblieben.

Das Magische fasziniert dich also weiter?

Ja. „Aquarius“ ist wie ein Ritus zu sehen, ein Ritus, der mit keiner besonderen Religion zu tun hat, aber trotzdem eine ganz deutliche rituelle Bedeutung hat. Das ist schon fast wie der Ritus des Menschen überhaupt. Ich nehme an, dass das Rituelle so ein menschliches Bedürfnis ist. Ganz abgesehen von bestimmten rituellen Formen, möchte ich mit „Aquarius“ so etwas wie einen ganz bezaubernden anonymen Ritus formen.