MusikTexte 6 – Oktober 1984, 57–58
Die Einsamkeit des Theaterdirektors
Zu Luciano Berios „Un Re in ascolto“
von Reinhard Oehlschlägel
Dass ein breiteres Publikum von einem avancierteren Kunstwerk angesprochen wird, dass es vielfach und vielfältig rezipiert wird, ist zwar nicht gerade ein Regelfall geworden, doch kaum mehr Ausnahme geblieben. In der literarischen Szene Mitteleuropas ist vielleicht der Roman „Der Name der Rose“ des italienischen Semiotikers und Ordinarius für Semiotik in Bologna, Umberto Eco, das eindrücklichste Beispiel für eine Diskrepanz zwischen einem außerordentlich komplexen und entlegenen Kunstwerk und seiner breiteren Rezeption. Entlegen ist hier das Milieu eines Geschehens, das – in der Gegenwart angesiedelt – wohl einen Kriminalfall und dessen Aufklärung darstellt, verlegt nämlich ins Spätmittelalter, in die komplizierten Räumlichkeiten und Hierarchien eines Klosters, und in lateinischen Schriften der Klosterbibliothek höchst kunstvoll gespiegelt.
In einer Reihe von zusammenhängenden Essays hatte Umberto Eco bereits 1962 im Wesentlichen die ästhetische Theorie formuliert, die verschiedenen Kunstwerken zugrunde liegt und die er dann selbst für seinen Roman beherzigt. „Das offene Kunstwerk“ – „Opera aperta“ – hat Eco diese Theorie überschrieben, die Beschreibung eines ästhetischen Modells, das in der Kunst, in der Literatur allmählich seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts entwickelt wurde. Und es ist vielleicht bezeichnend, dass Eco 1962 seine Poetik mit einem Hinweis auf die jüngsten Produktionen der Instrumentalmusik von Karlheinz Stockhausen, Henri Pousseur, Pierre Boulez und Luciano Berio, und zwar mit einem Aspekt von dessen „Sequenza“ für Flöte allein einleitet.
Bereits 1969 hat umgekehrt Ecos Denken sozusagen auf das Komponieren Berios zurückgewirkt. Berio gelang es, Eco an der Ausarbeitung des Musiktheaterprojekts „Opera“ zu beteiligen. Und auch die folgenden Bühnenarbeiten Berios, „La vera storia“ 1981 für die Mailänder Scala und „Un Re in ascolto“, 1983 für die Salzburger Festspiele geschrieben und zugleich für die Wiener Staatsoper, die das Stück fünf Wochen nach der Salzburger Uraufführung 1984 herausbrachte, stützen sich auf die im Grunde gleiche von Lyrikern und Komponisten entwickelte Theorie, die Eco lediglich in einem größeren Zusammenhang dargestellt hat. Und soweit sich das an dem neuen Stück nach dem Salzburger Eindruck bereits absehen lässt, erreicht auch Berios Musiktheaterstück „Un Re in ascolto“ ein breiteres Publikum als das gemeinhin mit neuer Musik sonst gelingt, und zwar das Publikum der im Rahmen der Salzburger Festspiele vorgesehenen drei Aufführungen, ein weiteres Hör-Publikum in nahezu allen mitteleuropäischen Ländern über direkte und versetzte Radiosendungen und das Publikum einer Reihe von Aufführungen der Wiener Staatsoper. Und es sieht so aus, bislang erst am Salzburger Publikumserfolg gemessen, als ob das Stück weitere Inszenierungen und Aufführungen erleben wird. Dabei ist es keineswegs einfach strukturiert, wenn auch nicht gerade mit Hilfe der Dramaturgie eines Kriminalromans ausgearbeitet.
Anhand der Komposition „Sequenza per flauto solo“, mit der der damals dreiunddreißigjährige Berio 1958 eine ganze Serie von hochvirtuosen Solostücken eröffnete, stellt Eco eine Dimension der Offenheit des Kunstwerks dar, nämlich die der Interpretierbarkeit durch den Musiker. Im Rahmen eines gleichmäßigen taktartigen Zeitablaufs steht diesem in begrenztem Umfang frei, die einzelnen Töne innerhalb des Taktraums zeitlich zu plazieren. Es gibt Taktierzeichen, aber keine Taktunterteilungen im herkömmlichen Sinn wie Viertel, Achtel, Sechzehntel. Eine zweite Dimension der Offenheit besteht allgemeiner in der Interpretierbarkeit durch den Hörer, in unterschiedlichen Rezeptionsmöglichkeiten. „Sequenza“ – später „Sequenza I“ genannt – lässt sich etwa als Virtuosenetüde, als instrumentales Poem auf der Traditionslinie von Claude Debussys „Syrinx“ und Edgard Varèses „Density 21.6“, als Aufführungsritual, vielleicht sogar als monologische Szene interpretieren. Dabei sind einige der Varianten durchaus vorgegeben, vorgeprägt, die Zahl aber mindestens tendenziell unbegrenzt. Wesentlich ist bei dieser Auffassung, dass die Beziehung zwischen Interpret und Kunstwerk variabel ist, nicht lediglich das Objekt, das Kunstwerk an sich. Und Kunstwerke können in diesem Sinne als offen aufgefasst werden, wenn sie ihre Mehrdeutigkeit, ihre Ambivalenz sozusagen thematisiert haben, also durch eine besondere Disposition einen außerordentlichen Interpretationsreichtum der ersten, der interpretierenden, und der zweiten, der rezipierenden Art zulassen, wenn nicht gar suggerierend auslösen.
Eco hat im Vorwort der zweiten Auflage seiner „Opera aperta“ schließlich darauf hingewiesen, dass derartige Offenheit aller Kunst eigene, auch älterer, das heißt, das gegenüber aller Kunst ein offenes Rezeptionsverhalten möglich ist. Dennoch unterscheidet er in seinem Text durchaus Interpretationen von Kunstwerken als offene und als geschlossene. Auf die verschiedenen Gattungen bezogen, lässt sich aber einigermaßen generell aussagen, dass Musiktheaterkompositionen allein dadurch, dass an ihren Aufführungen mehrere Interpretenebenen zusammenwirken, Regie, Bühnenbild, Kostüm, Sänger, Chor, Tanz; Orchester und ein Dirigent, von vornherein eine komplexere Offenheit zulassen, als etwa Klavier- oder Flötenstücke.
„Un Re in ascolto“ – „Ein König horcht“ – geht über diesen Grad von Offenheit, der derartige Interpretationen, wie die der „Entführung aus dem Serail“, die Ruth Berghaus, oder die der Oper „Aida“, die Hans Neuenfels an der Frankfurter Oper realisiert haben, wesentlich hinaus. Zugrunde liegt das Sujet von Shakespeares „The Tempest“ – „Der Sturm“ – das Stück, das einen Moment auf einem untergehenden Schiff spielt und im Übrigen auf einer Insel, auf der ein zuvor schon schiffbrüchiger Verbannter mit Namen Prospero mit märchenhaften Geistern, mit dem Windgeist Ariel und (unter anderem) mit Musik die vom Schiff Gestrandeten, seine Todfeinde mit frühaufklärerischer Weisheit zunächst beherrscht und schließlich zum Besseren verändert.
Berio hat wohl vor allem die träumerische Magie der Musik an dieser Fabel des achtzehnten Jahrhunderts interessiert und ein Libretto aufgetan, das Mozart am Ende seines Lebens, offenbar zu spät, interessiert hatte. Und Berio hat den aus der Resistenza hervorgegangenen italienischen Schriftsteller Italo Calvino, bekannt vor allem durch seine phantastisch-realistischen Erzählungen, dazu gewonnen, aus den Vorlagen im Dialog mit ihm selbst ein Libretto zu formen. Dieses Libretto, das offenbar im Laufe der eigentlichen Komposition immer weiteren Transformationen unterlag, ist darum kaum vom Stück abgelöst zu betrachten. Wie die Partitur auch ist es in zwölf Teile gegliedert, verwendet überwiegend italienischen Text, an einigen Stellen aber auch deutschen, und nur allersparsamste Hinweise auf das eigentliche Bühnengeschehen. Vom Rollenensemble Shakespeares ist dabei nur die Prospero-Rolle übriggeblieben. Aus dem verbannten Mailänder Herzog wird bei Berio und Calvino allerdings ein alternder Theaterdirektor, sozusagen ein Opernintendant, neben dem ein Regisseur, ein Schauspieler, eine sogenannte Protagonistin und noch weitere drei Sopranistinnen, drei Männerstimmen, ein Chor und eine Fülle von kleineren Rollen und akrobatischen Komparsen angesiedelt sind. Und dieses Rollenensemble bringt nicht eigentlich ein Sujet, eine Handlung, eine Geschichte auf die Bühne. Gesungen wird vielmehr von allen möglichen Träumen, Vorstellungen, in dichterischen Bildern, durch die der Sturm, das Schweigen, das Horchen, der Staub, das Dunkel, die Nacht, der Abschied, aber auch die erstorbene Liebe und die Musik, einmal sogar der bei Shakespeare Musik dienstbar nutzende Ariel hindurchgeistern.
Eine Art Entwicklungstendenz gibt es schließlich doch in beiden Teilen: vor der Pause eine Art zeitlicher Statik, in der eine zunehmende und wieder abnehmende Gleichzeitigkeit aller möglichen Aktionen auf der Bühne, Seiltänzer, Clowns, ein Akkordeonspieler, Tänzerinnen und Tänzer, Feuerschlucker, eine entzweizusägende Dame samt Zauberer, Artisten und schwebende Engel zugelassen sind; und nach der Pause der zunehmende Verfall, die zunehmende Vereinsamung Prosperos bis zu dessen finaler Arie und Tod.
Beide Teile sind zudem in musikalische Satzformen gegliedert, in Arien, Duette, Concertati, also Ensembles mit Chor, dann Audizioni, das Vorsingen von Sängerinnen für die Rolle, die der Theaterdirektor besetzen will; doch die Vorsängerinnen singen nicht eine Probe Prosperos, sondern ihren eigenen Text. Und im Zentrum der beiden Teile gibt es noch eine Serenata und ein instrumentales Air. Alles in allem neunzehn ineinander übergehende, aber je verschiedene charakteristische Satzanordnungen. Insofern gleicht die eigentliche Komposition nicht nur den früheren Musiktheaterstücken Berios, sondern auch dem anthologischen Liederzyklus „Coro“ oder auch den allerdings weiträumiger angelegten Abschnittsformen in Stockhausens Musiktheater.
In der ersten Arie, der Arie Prosperos – auch die letzte Arie singt Prospero – exponiert der Komponist einen weitaufgefächerten achttönigen Akkord, über und in den Prospero hinweg- und hineinsingt: „Ich sah im Traume ein anderes Theater“, begleitet von tiefen Bläsern, Celli und Kontrabass, später von gedämpften Streichern.
Die Duette geben sich den Arien gegenüber instrumental aufgesplittert. Das hinzukommende Klavier auf der Bühne signalisiert zusätzlich die Probensituation. Im ersten Duett probt der Regisseur mit dem Schauspieler, der von Tenorsaxophon- und Fagott-Fragmenten sowie liegenden Streichertönen begleitet wird, der Regisseur von Posaunen und stehenden Streicherakkorden. Im Fortgang des Probens verschieben sich die Instrumentalakzente zu den Streichern und zu größeren Bögen. Bei Ziffer 23 führt das Duett in einen Walzergestus der Holzbläser und Streicher, der an die das Scherzo aus Mahlers zweiter Symphonie adaptierende und brüchig mit vielen weiteren Fragmenten collagierende „Sinfonia“ erinnert.
Der Zusammenbruch Prosperos zu Beginn des zweiten Teils, sein Ruf nach Ariel, nach Ariels süßem Gesang führt zum Aufbruch des ganzen Ensembles und Chors auf der Bühne, zu einem der beiden größer besetzten „Concertati“. Nun wird das Stück pseudorealistisch, man ruft die Frau, den Arzt, den Notar, die Krankenschwester. Durchbrochene Akkordakzente kerben den Verlauf, über den einige verstreute hohe Töne und Intervalle schweben.
Es folgt das „Air“, bei dem der wieder zu einigen Kräften gelangte Prospero in der Bühnenmitte thront „come un re triste“. Aufsteigende Linien in Klarinetten und Soloviolinen leiten eine ständig zunehmende Instrumentierung ein, das „Air“ kommentiert die Entwicklung eher dramatisch.
Die eigentliche dramaturgische Schlussbildung erfolgt schließlich über die große Abschiedsarie der Protagonistin, die an die erste „Audizione“ fast wörtlich anknüpft, und in der sie sich von der Identifikation mit dem Theaterdirektor, dem traurigen König noch weiter distanziert, und erfolgt über das letzte, das vierte Concertato, wiederum mit dem ganzen Ensemble und dem Abschiedschor in stellenweise desolat schwelgerischer Opulenz der Streicher und Bläser, alle legen ihre Kostüme ab und verlassen die Bühne. Es bleibt Prospero allein mit seiner Schlussarie über Erinnerung und Schweigen, eine Erinnerung im Zwielicht, eine Erinnerung an die Zukunft.
Erinnert wird über den in den Oberstimmen die kleine None a-b exponierenden Akkord, aus dem sich erst in den Bläsern, später in den Streichern Reminiszenzen an frühere Szenen herauslösen, um schließlich in den Anfangsakkord zurückzufinden, mehr ein Erlöschen, ein Absterben, als ein irgendwie dramatischer Tod.
„Un Re in ascolto“ ist auch in seiner kompositorischen Faktur, in der Instrumentation, in den Figurationen, in den gebrochenen Allusionen und Verweisen und in den ariosen Formen ein so beziehungsreich vieldeutiges Stück wie schon im Text- und Stückentwurf. Es kann dementsprechend auch sehr unterschiedlich interpretiert, sehr unterschiedlich gehört werden. Abgesehen von einer Interpretationsbreite der visuellen szenischen Komposition ist das Stück selbst – anders als die bei Umberto Eco genannten Stücke von Berio, Boulez, Pousseur und Stockhausen – ohne zusätzliche Interpretationsfreiräume komponiert. Die Offenheit des Stücks verlagert sich dadurch überwiegend auf die Vielfalt der Rezipierbarkeit. Die Insel Prosperos kann als die Theaterinsel, die Kunstinsel verstanden werden, in der Herrschaft und Schönheit verblassen. Sie kann aber auch als künstliche Insel unserer Gesellschaft und als Isolation des Individuums gehört werden.
Anfangs- und Schlussbild von Günther Schneider-Siemssen in der Salzburger Inszenierung von Götz Friedrich auf dem Drehbühnenrund, in dessen Mitte Prospero sitzt, weisen auch in diese Richtung. Im Salzburger Programmheft nennt Friedrich die Prospero-Figur fatal, weil sich in ihr Berios Biographie, „der Versuch künstlerischer Selbstanalyse eines Musikerschicksals spiegelt“, eines Musikers, der wie Prospero seinem Regisseur im Duett erläutert, dass er mehr an die Stille als an den Sturm gedacht habe, das andere Theater, von dem er träumt – und das andere Leben, von dem wir alle träumen – vielleicht ein Sturm oder eine Revolution sein könnte, aber friedlich. Auf Berio und Calvino bezogen, mit dem Berio schon „La vera storia“ ausgearbeitet hatte, aber kann das Stück auch als ein Scheitern gehört werden, als ein Stück, in dem die Stille besungen wird, aber kaum einen Platz hat, und als Stück, in dem es kein anderes Theater, sondern nur das gleiche gibt. Aber es ist ein klanglich musikalisch schönes, ein süßes Stück sozusagen, ein trauriges Ariel-Stück, ein Stück voller Kunstfertigkeit und voller schwelgerischer Trauer, wie geschaffen – so schien es mir jedenfalls bei der Premiere im kleinen Salzburger Festspielhaus – für den luxuriös desolaten Festspielbetrieb Salzburger Couleur und den nicht weniger gebrochenen, klangsüchtigen Opernbetrieb der Wiener Staatsoper. Jedenfalls lassen sich hierfür kaum bessere Anwälte finden als die Wiener Philharmoniker, als Lorin Maazel, als Theo Adam in der Titelrolle und das erlesene Ensemble kostbarer Stimmen, das in Salzburg versammelt war.