MusikTexte 6 – Oktober 1984, 60–61

Darmstädter Wiederbelebung

Zu den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik 1984

von Reinhard Oehlschlägel

Ihre Sternstunden hatten sie 1946, in den frühen und noch einmal in den späten Fünfzigerjahren. 1946 war es das Wiederaufatmen nach langer Isolation, das Wiederbegründen. Aber erst Ende der Fünfzigerjahre wurde in Darmstadt die Musikästhetik der europäischen Nachkriegsgeneration formuliert als konstruktive, serielle, als Wiederaufbau-Ästhetik. Und erst Ende der Fünfzigerjahre erfuhr der serielle Positivismus, den nicht einmal die negativ-dialektische Kritik Theodor W. Adornos in Frage stellen konnte, durch die experimentellen Perspektiven der New Yorker Musiker John Cage, Christian Wolff, Morton Feldman und David Tudor eine spekulative Wendung, einen artifiziellen Schock, der noch heute nachwirkt. Seitdem, vor allem nach dem Unfalltod des ersten Ferienkursleiters Wolfgang Steinecke, wurde es allmählich still und stiller um die Darmstädter Ferienkurse. Selbst die europäischen Komponisten des Aufbruchs um 1950 stellten allmählich vorübergehend und schließlich dauerhaft ihre Mitarbeit ein.

Schon 1970 waren die Ferienkurse in ihrer bisherigen Form und in ihrem Aufwand nicht mehr zu halten. Eine Kritik von innen und außen erzwang zweijährige Atempausen, einen allerdings außerordentlich einseitigen Beirat Kölner Virtuosen neben dem Kursleiter und eine Verlängerung der Kursdauer, so dass kaum ein Liebhaber der neuen Musik, kaum ein Journalist den Gesamtverlauf der Kurse mehr beobachten konnte. In dieser Phase des Dornröschenschlafs entdeckten die jungen deutschen Spätromantiker anstelle der städtischen Sinfonie- und Kammerkonzerte, denen ihre Konzertstrategie eigentlich galt, unter anderem die Darmstädter Ferienkurse als einen Ort der ästhetischen Trendregulierung von oben.

Nun, nachdem 1981 die Ferienkurse einen neuen Leiter erhalten haben, zeichnet sich eine Art Wiederbelebung ab. Friedrich Hommel, der zuvor als Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung den konservativen Kurs seines Vorgängers noch gestützt hatte, hat die Ferienkurse nun wesentlich verjüngt, von einigen Tabus befreit und internationalisiert. Anstelle der deutschen Stammdozenten Aloys Kontarsky, Siegfried Palm und Christoph Caskel sind Kursdozenten aus vier Ländern getreten, die eine Generation jünger, aber zum Teil auch weniger bekannt sind. Die Auflösung des experimentellen und des minimalistischen Tabus erfolgte schon in einigen Interpretationskursen und -konzerten, wie denen des Kölner Pianisten Herbert Henck vor zwei Jahren. Dieser Trend setzte sich nun fort.

Die neue Programmierung der Kurse hat sich nicht zuletzt in deutlich gesteigerten Quantitäten niedergeschlagen. Neben den konsistent etablierten Interpretationsstudios der Fächer Klavier, Flöte, Oboe, Klarinette, Violine, Cello und Schlagzeug, die allesamt personell gegenüber 1982 gleich besetzt waren mit Herbert Henck, Pierre-Yves Artaud, Nora Post, Roger Heaton, Irvine Arditti, Rohan de Saram und James Wood, gab es noch eine ganze Reihe von Interpretationsateliers. Was früher nur als Assistenz im Schlepptau der großen Interpretationsdozenten denkbar war, hat nun eine gewisse Eigenständigkeit erhalten. Auch die Zahl der eingeladenen Komponisten hat, auch gegenüber 1982, noch einmal erheblich zugenommen, ohne dass sie alle schon eigene Schüler und Jünger um sich scharen konnten.

Der prominenteste unter ihnen war diesmal Morton Feldman aus Buffalo/New York; der vielleicht produktivste hinsichtlich einer kompositionsästhetischen Öffnung, Peter Garland aus Santa Fe/New Mexico. Damit waren erstmals Protagonisten der bis 1980 tabuisierten experimentellen amerikanischen Tradition von der amerikanischen Ostküste und aus dem Südwesten der USA regelrecht einbezogen. Der ernsthafte Versuch, auch John Cage und damit die Symbolfigur für die vormaligen Darmstadt-Tabus nach Darmstadt zu holen, schlug allerdings fehl. Für die über dreißig eingeladenen und noch einige durch ihre bloße Teilnehmerschaft anwesenden Komponisten gab es zwei Beteiligungsformen: ein allgemeines Komponistenforum, bei dem jeder einen Beitrag von einer Stunde Dauer einbringen konnte, und einen sogenannten Kongress zum Thema Tonalität, wobei das eine vom anderen gar nicht so strikt getrennt war. Zusätzlich erhielten einige Komponisten Aufführungschancen für eines oder mehrere ihrer Stücke, darunter viele überhaupt zum ersten Mal in Darmstadt, wie der späte Feldman und Garland, wie Hans-Joachim Hespos, Kevin Volans und Tom Johnson.

Die derart deutlich erhöhten Chancen für jeden einzelnen Teilnehmer führten schließlich zu einem Beteiligungsboom von über dreihundert Kursteilnehmern, darunter je einer größeren Gruppe von Rumänen, Polen, Italienern und Engländern. Ein der Gaudeamus-Stiftung, dem Amsterdam Konzertplatz De Ijsbreker und dem achtzigjährigen Organisator Walter Maas aus Bilthoven gewidmeter niederländischer Tag und eine Einladung an den DDR-Komponisten Georg Katzer und den Musikologen Frank Schneider aus Ostberlin erweiterten das internationale Spektrum noch mehr.

Mit dem Aspekt der quantitativen Erweiterung der Kurse verbunden ist schließlich ein verändertes Beteiligungs- und Entscheidungsverhalten des neuen Kursleiters. Bei nahezu allen Erweiterungswünschen der Teilnehmer und Kursdozenten hinsichtlich des Veranstaltungsprogramms neigt Friedrich Hommel dazu, sie – wenn irgend möglich – zuzulassen und besucht selbst alle Konzerte, fast alle Vorträge und Referate sowie derart zusätzlich ins Programm genommene Aufführungen. Auch schon rein äußerlich erweckt das schon einen qualitativ veränderten Eindruck der Beziehung des Veranstalters zu seinem Gegenstand, der neuen Musik im weitesten Sinn. Dabei ist gar nicht zu übersehen, dass Personen und Institutionen schnell an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gekommen sind.

Bei den letzten vier Tagen, in denen die Studiokonzerte mit allen möglichen Kompositions- und Interpretationsleistungen der Teilnehmer plaziert sind, gab es eine schier wundersame Vermehrung der neuen Musik und eine durchgreifende allgemeine Erschöpfung und Ermüdung. Aus einem für acht Uhr abends angekündigten Konzert wurde jeweils eine ganze Folge von Konzerten, die oft schon mittags, immer aber nachmittags mit ein bis zwei Vorkonzerten begannen und nachts in zwei bis drei Nach- und Spätkonzerten ausliefen. Am letzten Tag gar gab es ein vier lange Stücke langes Zusatzkonzert für einen einzigen außerordentlich zuwendungs- und darstellungsbedürftigen Komponisten, das erst mehr als eine Stunde nach Mitternacht überhaupt beginnen konnte. Da es wie viele andere Beiträge von Kurs- und Atelierdozenten auch mit dem unmittelbaren Sinn der Studiokonzerte weniger zu tun hatte, nämlich der Entdeckung neuer Kompositions- und Interpretationstalente, und da in diesem Fall erste, letzte Probe und Aufführung zusammenfielen, war eigentlich nicht einzusehen, warum dieser Beitrag von Horațiu Rădulescu nicht eine Woche vorher unter weit besseren Bedingungen der Aufmerksamkeit aller Beteiligten hätte abgewickelt werden können.

Schon seit 1982 stellt sich gerade durch die kompositionsästhetische Öffnung, die freilich nach wie vor einige Aspekte wie Musikperformance, Videokomposition, Tanz, komponiertes Hörspiel, experimentelles Musiktheater, auch Improvisation, vor allem aus der Begrenzung der Aufführungsmöglichkeiten heraus unterbelichtet, wenn nicht ganz unberücksichtigt lässt, das Problem der kollegialen Toleranz und Fairness der Musiker, der Komponisten verschiedener Richtungen untereinander. Das gilt zunächst schon mal für den Aufführungsmoment selbst. In der Schlussdiskussion beklagten Teilnehmer auch die Störungen während der Konzerte. Auch Buh-Chöre, die einem Stück gelten sollten, gegen dessen Interpreten zu richten, ist so ein Phänomen der Intoleranz. In den verschiedenen Zirkeln wird offenbar auch von angesehenen Komponisten, Interpreten und Musikologen eine Art Parteilichkeit für den eigenen Standpunkt in verschiedenen Formen gepflegt, die nicht immer mit dem Toleranzgebot eines öffentlichen Forums vereinbar sind. Dass zum Hintergrund der Intoleranzpraxis auch renommierte Komponisten wie Morton Feldman oder in Darmstadt einflussreiche Musikologen wie Harry Halbreich beitragen, macht das Problemfeld eher noch schwerer handhabbar. So ist die in Darmstadt erfolgte augenzwinkernde Beanspruchung Feldmans, er habe in Stefan Wolpe einen besseren Lehrer gehabt als John Cage, der zu Schönberg gegangen sei als niemand mehr bei Schönberg studiert hat, schon zweifelhaft, die herablassende namentliche Verurteilung von René Leibowitz („he is a pain in the neck“) aber vollends unhaltbar. Leibowitz wie Wolpe verdanken die Darmstädter Ferienkurse wesentliche und folgenreiche Anregungen, und zwar weniger deren eigener Musik als deren Hinweis auf andere. Und Harry Halbreich, der einziger Musikologe, den der Ferienkursleiter in die engere Jury des Kranichsteiner Kompositions- und Interpretationspreises gebeten hatte, neigt nicht nur zu spektakulären Fehlurteilen vom Muster: Dieser sei der Komponist des einundzwanzigsten Jahrhunderts, jener der Varèse der Achtzigerjahre, sondern auch dazu, Abwertungen eines Stücks schon während seiner Aufführung zu verbreiten, vor allem wenn Stücke aus ihm nicht so sehr vertrauten Zusammenhängen wie zum Beispiel der experimentellen amerikanischen Musik stammen.

Aber auch die Rezeptur, die ein so renommierter Musikwissenschaftler wie Carl Dahlhaus in der Schlussdiskussion angeboten hat, man solle halt die bewährten Virtuoseninterpreten der Siebzigerjahre wieder nach Darmstadt holen, denn diese hätten schon rein informell bestimmte Stücke gar nicht erst zur Aufführung zugelassen, löst das Problem nicht. Ein rein restauratives Zurück hinter die erfolgte Öffnung kann es wohl kaum mehr geben. Stattdessen führt es vielleicht weiter, sich auf die Traditionsmomente zu besinnen, in denen mit musikgeschichtlicher Akzentuierung immer wieder der Zustand des Stilpluralismus beschrieben wurde – zum Beispiel von Stefan Wolpe bereits 1956 in einer Darmstadt-Lecture –, um zu erkennen, dass bei aller subjektiven Überzeugung für den eigenen ästhetischen Standpunkt eine Voraussetzung der Diskussion um die kompositionsgeschichtlichen Entwicklungen eine bestimmte Fairness und Toleranz gegenüber gänzlich anderen Standpunkten ist. Und letztlich führt wohl nur die Diskussion um den Verhaltenskodex selbst hier weiter.

Versucht man nun, auch auf der Ebene der Konzerte und Studiokonzerte, eine Summe der diesjährigen Kurse zu ziehen, so haben sie – mehr in einer Art Nachholbedarf – wichtige Informationen zu Entwicklungen und einzelnen Stücken der nordamerikanischen Szene gebracht, dazu mit Coriún Aharonián aus Uruguay und Bernardo Mario Kuczer aus Argentinien zwei Komponisten Lateinamerikas mehr zufällig entdeckt, Kuczer mit einem auf Tonbandkassetten mit den einfachsten Mitteln produzierten Stückzyklus „Civilización o Barbarie“ und Aharonián mit „Los cadadías“ für Ensemble im Eröffnungskonzert mit dem Ensemble Modern der Gesellschaft für Neue Musik; sie haben für Darmstadt die späte Entwicklung von John Cage und Morton Feldman entdeckt, dazu erstmals mit Terry Rileys ausufernden Streichquartett und zwei eher belanglosen Stückchen von Philip Glass den amerikanischen Minimalismus nachgeholt – beides eher Beispiele, dass es hierzu nun fast schon zu spät ist; sie haben mit Hilfe des Hessischen Rundfunks vor allem das phänomenale Kronos Quartet aus San Francisco in Kontakt zu vielen jungen Musikern gebracht, aber nicht weniger brillante Interpretationen des Londoner Arditti Quartet etwa mit Stücken von Xenakis, Rihm und Klaus K. Hübler, eines der umstrittenen Stücke, ermöglicht, dazu das Deutsche Streichtrio mit Arbeiten jüngerer deutscher Komponisten wie Nikolaus Brass und Joachim Krebs in einer zu den Spitzenensembles tendierenden Leistung hören lassen. Demgegenüber fielen die Darmstadt-Debüts des hochtalentierten Ensemble Modern mit dem blassen Dirigenten Bernhard Wulff und des engagierten Clementi-Trio Köln doch noch etwas ab. Und die Kurse haben mit der improvisierten Variation einer Fassung aus „The Works“ von dem in Rom lebenden Amerikaner Alvin Curran wiederum ein Problemstück gebracht, in dem der Musiker auf einzelne aggressive Publikumsreaktionen nicht weniger aggressiv reagiert hat. All das zusammengenommen: Darmstadt lebt wieder auf, ohne dass sich etwa eine neue ästhetische Formulierung von einiger Verbindlichkeit und damit eine vierte Sternstunde abzeichnet.