MusikTexte 6 – Oktober 1984, 62
Musikperformance als Buch
„United States“ von Laurie Anderson
von Reinhard Oehlschlägel
Von außen sieht es wie ein schnell konsumierbares Bilderbuch aus, als Paperback im amerikanischen Querformat auf Glanzpapier gedruckt: „United States“ in simulierter grünlicher Neonröhren-Schreibschrift auf blaugrauem Hintergrund, vier Uhrbilder darunter, in gleicher Schrift und Farbe, die Uhrzeit von 1, 2, 3 und 4 Uhr anzeigend, die vier amerikanischen Zeitzonen symbolisierend. Aus dem neblig blaugrauen Hintergrund löst sich noch weiter unten das Bild eines felsigen, hier und da Schnee bedeckten Bergs heraus, an dessen Fuß sich in ähnlicher Weise wie die Schreibschrift über dem Berg in Druckschrift der Name „LAURIE ANDERSON“ abhebt, in goldgelbes Licht getaucht. Wer Laurie Andersons vierteilige und zweimal abendfüllende Musikperformance „United States I–IV“ in New York im Februar 1983 oder kurz danach in Europa erlebt hat und dort auf die bevorstehende Drucklegung der dabei verwendeten Texte hingewiesen wurde, weiß auf den ersten Blick, dass er keine Quellenpublikation vor sich hat, keine Dokumentation des Text- und Bildmaterials dieser wohl erfolgreichsten und faszinierendsten Musikperformance der New Yorker Szene, sondern eher eine Art Buch-Show der Performance in Progress, ein Spiel mit Text und Bild auf etwa zweihundertdreißig 11 x 8,5 inches großen Seiten in Schwarzweiß (davon acht Farbseiten in der Mitte des Buchs ohne rechten Bezug zum Umfeld), in der sich allerdings der Ablauf der Performance aus vierundsiebzig einzelnen Stückchen in der originalen Reihenfolge und Gliederung widerspiegelt. Text- und Bildeindruck erinnern zumeist nur sehr entfernt an die Wahrnehmung der Aufführungen. Extremfall der Mediendifferenz sind die reinen Instrumentalstücke: Im „Violin Solo“ des ersten Teils – einem Duett für Violine und Harmonizer 949 – wird noch ein Blatt Noten mitgeteilt, das „Saxophone Trio“ dagegen ist nur noch in einer Fotografie aufgenommen und das „Saxophone Solo“ des ersten Teils existiert nur noch im Inhaltsverzeichnis, nicht im Buch selbst.
Unschätzbare Dienste erweist der vollständige Abdruck aller gesprochenen, gesungenen und projizierten Texte der Performance, vor allem den Anderson-Fans in anderssprachigen Ländern: Man kann das meist nur halbwegs Verstandene in Ruhe nachlesen, wenn auch manche sprachliche Wendung in keinem Wörterbuch zu finden ist. Wenn auch musikalische Analphabeten angesprochen (und beeindruckt) werden sollen, so richtet sich das Buch doch vornehmlich an Schriftkundige (der englischen Sprache) und an Bildkundige. Und bis die als Mitschnitt der Uraufführungsserie angekündigte Gesamtaufnahme auf Schallplatten der Warner Communications (WEA) erscheinen wird, kann noch viel Zeit vergehen. Der bloße Mitschnitt entspricht offenbar nicht den Perfektionsansprüchen der Autorin und der Produzenten.
Laurie Anderson, United States, New York, Harper & Row, 1984.