MusikTexte 6 – Oktober 1984, 62–63

Wird neue Musik populär?

ECM ediert Arvo Pärt und John Adams

von Gisela Gronemeyer

Das Schallplattenlabel ECM, vor allem durch seine Jazzproduktionen bekannt, tritt in neuerer Zeit mit einigen Aufnahmen neuer Musik hervor, die auf ein breiteres Publikum zielen. Namen wie Steve Reich oder Meredith Monk sind inzwischen auch schon so populär, dass der Hörer sich wahrscheinlich gar nicht bewusst ist, dass er ein Stück Avantgarde konsumiert, wo doch der Horror vor der neuen Musik im allgemeinen recht groß ist.

Amerikanische Komponisten, allen voran die Minimalisten Terry Riley, Philip Glass und Steve Reich haben es fertiggebracht, die Fronten aufzuknacken, die Grenzen zu verwischen, eine Musik zu machen, die von Avantgarde- wie Jazzhörern goutiert wird. „New Music“ ist in Amerika denn auch etwas ganz anderes als hier, umfasst Avantgarde, progressiven Jazz und Rock gleichermaßen. Und es scheint, dass auch ECM diesen Trend gespürt hat.

Mutig und anerkennenswert ist nun der Versuch, mit zwei dem Publikum sicherlich relativ unbekannten Namen auf den Markt zu kommen: Arvo Pärt und John Adams. In Neue-Musik-Kreisen ist Pärt einschlägig bekannt, aber viele Komponisten und Kritiker lehnen seine Musik ab, weil sie, so heißt es, ein zu simples Spiel mit Dreiklängen treibe, man höre sich dann doch lieber richtige Volksmusik an.

Die seltsame, herbe Schönheit von Pärts Musik, aufbauend auf einfachen und oft – wie bei den US-amerikanischen Minimalisten – wiederholten Elementen, akzeptieren diese Urteiler nicht. Man kann sich in der Tat kaum eine Musik vorstellen, die vom Avantgarde-Idiom weiter entfernt wäre, und doch berührt sie den solche Klänge gewohnten Hörer eigenartig, fasziniert als eine ernstzunehmende Auseinandersetzung mit dem Alten und Reinen.

So hat Pärts Musik manches mit der der amerikanischen Minimalisten gemeinsam, obwohl sie sich aus ganz anderen Quellen speist. Und nicht zuletzt wird durch seine Musik – wie auch die der Amerikaner – der Begriff der neuen Musik wieder umfassender und lässt ihre Schrecken ein wenig verlieren.

„Tabula rasa“ – in einer ganz hervorragenden Aufnahme mit Gidon Kremer, Tatjana Grindenko, dem russischen Komponisten Alfred Schnittke und dem Lithuanian Chamber Orchestra eingespielt – ist eines meiner Lieblingsstücke überhaupt, weil es von unvergleichlicher Ruhe und fragiler Schönheit ist, die mich in gewisser Weise an die nicht minder eindrucksvollen Langzeit-Stücke von Morton Feldman erinnert, auch wenn dieses Stück gegliedert und durchstrukturiert ist. Die ebenso klare und stille Komposition „Fratres“ ziehe ich in der Originalversion für Violine und Klavier (Gidon Kremer und Keith Jarrett) unbedingt der für die zwölf Cellisten der Berliner Philharmoniker geschriebenen vor, die ebenfalls auf der Platte ist. Keith Jarrett hat übrigens der amerikanische Dirigent Dennis Russell Davies für die E-Musik entdeckt, und für die ECM und ihr Zielpublikum ist er natürlich ein ideales Zugpferd.

Etwas rätselhaft ist mir offen gestanden, wie ECM auf John Adams aus San Francisco (nicht zu verwechseln mit dem Komponisten John Adams aus Alaska) verfallen ist. Mit „Shaker Loops“ und „Phrygian Gates“ (1750 Arch Records) hat John Adams vor vier Jahren eine ansprechende Platte mit Minimal-Klaviermusik vorgelegt. Sein „Harmonium“ für Chor und Orchester scheint mir nun eher ein in die Patterns der Minimalästhetik gestecktes bürgerliches Oratorium zu sein, das romantische Texte in gewaltigen, nach harmonischen Prinzipien aufgebauten Klangmassen bewegt. Anlage und Besetzung des Stücks sind eher konventionell zu nennen, so dass man nicht recht weiß, wer hier eigentlich angesprochen werden soll. Ausführliche Textkommentare ergänzen ansonsten das Bild von einer auch technisch vorbildlichen Edition.

Arvo Pärt, Fratres, Cantus, Fratres, Tabula Rasa, München: ECM, 1984.
John Adams: Harmonium, München: ECM, 1984.