MusikTexte 92 – Februar 2002, 13–14

An einem hellen Tag

Avantgarde und Experiment

von Alvin Lucier

Die Frage wird oft gestellt: Was ist der Unterschied zwischen Avantgardemusik und experimenteller Musik? Sie ist schwierig zu beantworten. Die meisten großen Komponisten waren experimentierfreudig, und es gab und gibt in unserer eigenen Zeit viele von ihnen: Ligeti, Xenakis, Lachenmann und Cage, um nur einige wenige zu nennen. Mir scheint, daß ein Unterschied darin bestehen kann, daß die Avantgarde-Komponisten ihre Experimente vor oder während des Komponierens anstellen, aber den Zuhörer vor ein vollendetes Ergebnis stellen. Varèse hat so gearbeitet. Ebenso Lutosławski, der oft Zufallsoperationen benutzt hat, um interessantes Material hervorzubringen.

Experimentelle Komponisten schaffen dagegen Werke, in denen Experimente oder zumindest Entdeckungen während der eigentlichen Aufführung gemacht werden. In Christian Wolffs „For One, Two or Three People“ spielen Interpreten, ohne vorher zu wissen, wann, mit wem und mit welchen Klängen zusammen. Ein Spieler kann aufgefordert werden, gleichzeitig mit dem nächsten Klang, den er hört, einzusetzen. So schnell er auch sein mag, er wird immer etwas zu spät sein. Sein Versuch, gleichzeitig einzusetzen, ist zum Scheitern verurteilt und erscheint, gemessen an professionellen Standards, unzulänglich. Der Zuhörer spürt, daß er in der Patsche sitzt. Er wird in die Aufführung hineingezogen, indem er die Erfahrung mit dem Interpreten teilt. (Wir alle sind hier und da in der gleichen Situation gewesen). Vorausnahme, Zögern und eine gewisse Amateurhaltung zum Musikmachen sind einige der Qualitäten von Christians Musik.

Es hat wohlüberlegte Aufführungen von „For One, Two or Three People“ gegeben, in denen die Spieler in der Probe planen, was sie in der Aufführung tun werden. Sie erschaffen ihre eigenen Entdeckungen für das Publikum nachträglich aufs Neue. Es gibt kein Zusammenspiel in Echtzeit; eine Spannung ist nicht vorhanden. Ihre Aufführungen sind zuverlässig und professionell. Sie haben die Prinzipien einer Art von Musik auf eine andere übertragen. Sie enthalten den Zuhörern dabei auch jenen Aspekt der Menschlichkeit vor, der Christians Musik von aller anderen unterscheidet. Erstaunlich ist, daß Chris­tians Art des Zusammenspiels wirklich anders klingt, wenn es nicht geplant ist. (Cage konnte Boulez nie von der Leuchtkraft der Zufallsereignisse überzeugen).

Ist es zu einfach, zu sagen, daß experimentelle Musik mehr durch ihre Struktur als durch ihre Materialien charakterisiert wird und daß sie in gewisser Weise die Neutralität eines wissenschaftlichen Experiments oder einer akustischen Untersuchung beinhaltet? Viele experimentelle Stücke sind durch den unveränderten Ablauf einer einzigen Aktion gekennzeichnet. Eine Versuchsanordnung wird in der Hoffnung in Gang gesetzt, daß sie ein interessantes Resultat hervorbringt. In James Tenneys „Having Never Written a Piece for Percussion“ wirbelt ein Spieler ununterbrochen auf dem Tamtam, indem er ein einziges Crescendo und Diminuendo, vom Pianissimo zum Fortissimo und zurück, ausführt. Während die dynamischen Veränderungen sich langsam und Schritt für Schritt ereignen, ist die Reaktion des Tamtam unerwartet und abrupt, wobei es verschiedene Schwingungsformen durchläuft. Da Jim eine ununterbrochene Geste zugrunde legt, kann er sich sicher sein, daß alle Resonanzspitzen erfaßt werden. Hätte er die Dynamik in der Absicht, interessant zu sein, umgekehrt oder verändert, wäre das Porträt des Tamtam entstellt gewesen.

In meinem Stück „I am sitting in a room“ wird eine Sprachaufnahme mehrfach in einen Raum zurückgespielt. Jede folgende Aufzeichnung gibt etwas mehr von den charakterischen Raumresonanzen wieder. Der Prozeß ist repetitiv; der Veränderungsgrad ist jedoch unterschiedlich. Das Stück hat seine eigene Form.

In „On a Clear Day“, einem neuen Orchesterwerk von Markus Trunk, erklingen dreißig Akkorde gleicher Länge, getrennt durch virtuelle Pausen. Jeder nachfolgende Akkord erscheint durch Auslassung bestimmter Instrumente ausgedünnt, als würde jeder Akkord durch einen Schmalbandfilter geschickt. Und indem dieses Stück bei seiner Aufführung nichts weiter entdeckt, läßt es die ungeheure Konzentration spüren, die von vielen experimentellen Werken ausgeht. Wie in den beiden vorausgegangen Stücken ist die Form vorhersagbar. Wenn der Zuhörer einmal begriffen hat, daß die Dinge sich nicht ändern werden, erhält jeder kleine Unterschied Bedeutung. Der Zuhörer ist in einem Zustand ständiger Erwartung. Weil jegliches Metapherndenken strikt zurückgenommen wird, kommt die Präsenz des Klangs in einer Weise zum Ausdruck, die in einer den Zuhörer von Punkt zu Punkt führenden Musik nicht möglich ist.

Ein anderes Merkmal experimenteller Musik ist die Unmittelbarkeit, mit der Komponisten vorgehen. Sie scheinen weniger an konventionellen Kompositionsweisen und -künsten interessiert zu sein als an der persönlichen Begegnung mit ihrer natürlichen Umwelt. Pauline Oliveros und die Deep Listening Band bringen ihre Musik­instrumente buchstäblich unter die Erde, in große Zisternen, um deren Nachhall-Eigenschaften zu ergründen. Sie bewirken das nicht, indem sie ihrer Umgebung eine Struktur auferlegen, sondern nur durch freie Improvisation. In einer Diskussionsrunde, an der ich vor einigen Jahren in Dänemark teilnahm, beklagte ein bedeutender Komponist die Tatsache, daß Lautsprecher in einer Aufführung nicht in nennenswerter Weise bewegt werden können. Ich mußte ihn an Gordon Monahans „Speaker Swinging“ erinnern, ein Stück, in dem die Spieler Lautsprecher tatsächlich durch die Luft kreisen lassen und damit Doppler-Effekte in Echtzeit erzeugen. Und in meinem Stück Vespers“ bewegen sich Interpreten, die mit tragbaren Impulswellengeneratoren ausgerüstet sind, durch dunkle Räume – in einer groben Annäherung an die Schallortungsgenauigeit der Fledermäuse. Dadurch nehmen sie eine langsame akustische Photographie des Raums auf. Die Echos, die das Publikum hört, sind wirklich.

1965 habe ich Edmond Dewan getroffen, einen Wissenschaftler, der für die US-Regierung in der Hirnstromforschung tätig war. Er lieh mir seinen Differenzverstärker in der Annahme, daß ich ihn für musikalische Zwecke verwenden könne. Meine Kollegen regten an, daß ich Muster meiner Alpha-Wellen aufnehme, sie anschließend in einem elektronischen Studio bearbeite und ein Tonbandstück daraus herstelle. Stattdessen beschloß ich, eine Live-Aufführung zu wagen. Für die Aufführung baute ich einen Elektroenzophalogram-Test auf, wie er in Krankenhäusern jeden Tag vorgenommen wird. Anstelle eines Ausdrucks auf Papier versetzten die enorm verstärkten Hirnströme, die durch die Lautsprechermembranen schlugen, eine ganze Batterie von Schlaginstrumenten in Schwingungen. Die Lautsprecher wurden zu Ausführenden; sie taten die Arbeit. Ich meinte immer noch, das Werk strukturieren zu müssen, bis ich schließlich gewahr wurde, daß Alphawellen sich in fast unmerklicher und sehr poetischer Weise verändern, so daß sie durch eine Strukturierung kaum gewinnen können. Das theatrale Element der Aufführung war ebenso bedeutsam. Es war wichtig, daß das Publikum Zeuge war, wie die Alphawellen erzeugt wurden und sie nicht nur als körperloses Klangmaterial wahrnahm. Nach der Uraufführung sagte David Tudor, der im Publikum gesessen hatte, daß die Aufführung „beeindruckend“ gewesen sei.

Seit dieser Zeit gründen sich viele meiner Stücke auf wissenschaftliche Experimente oder akustische Untersuchungsverfahren. „Music for Bass Drums, Pure ­Waves and Acoustic Pendulums“ ist einem physikalischen Schulexperiment entlehnt, in dem eine Glocke angestrichen wird und dadurch einen aufgehängten Korkball veranlaßt, angetrieben durch die Klangkraft, von ihr wegzuspringen. In meiner Klanginstallation werden vier große Trommeln durch langsam ansteigende Sinustöne, die aus hinter ihnen aufgestellten Lautsprechern fließen, in Schwingungen versetzt. Vor den Trommeln sind Tischtennisbälle aufgehängt. Sobald die Resonanzbereiche erreicht werden, springen die Bälle in Ablenkungen von bis zu zweieinhalb Metern von den Trommelfellen weg. Es ist entscheidend, daß die Trommeln die gleiche Größe haben und daß alle vier gleichzeitig von einer Sinusschwingung erregt werden. Manche Leute haben auch angeregt, daß ich Trommeln verschiedener Größe benutze oder daß ich jede einzelne mit einem eigenen Generator abtaste. Wenn ich das tue, gibt es keinen Grund zur Annahme, daß die Trommeln nicht die gleichen sind. Indem ich aber diese beiden Faktoren gleich halte, kann ich zeigen, daß jede Trommel ganz verschieden von den anderen reagiert. Ich möchte, daß das Publikum die Ironie wahrnimmt. (In „Sodom und Gommorra“ stellt Proust die beiden schönen, aber ungleichen Söhne von Madame de Surgis vor. Ihre Ungleichheit ist um so bemerkenswerter, als sie nicht nur dieselbe Mutter, sondern auch denselben Vater haben).

In meinen neueren Stücken, in denen klassische Musik­instrumente sich eng mit Sinuston-Generatoren reiben, mußte ich einen gewissen Experimentalanteil in der Aufführung aufgeben. Ich notiere feste Tonhöhen, die frei in der Zeit gespielt werden und die Geschwindigkeit der Schwebungen verändern können. Aber ich bewahre mir einfache Abtastmuster – die elektronische Welle steigt an und fällt und zeichnet einfache Schwingungsformen, gegen die die Spieler lange Töne aushalten. Es gibt immer ein gewisses Maß an Unsicherheit, wie direkt die Schwebungen auf die Zuhörer wirken. Viel hängt von der Saalakustik ab. Ich versuche, das Ausgangsmaterial einfach zu halten, so daß der Zuhörer die optimale Möglichkeit hat, das Phänomen zu hören, unbeeinflußt von irgendwelchen komplexen Gedanken, die ich vielleicht zur Form habe. Der Kompositionsprozeß besteht oft im Abstreifen von Ideen, im Zurücknehmen überflüssiger Materialien und Klangereignisse. Er ist oft mühsam, weil ich das, was ich erreichen kann, in konventionelleren musikalischen Begriffen verwirklichen möchte. Ich akzeptiere das als eine Einschränkung.

Bei Aufführungen solcher Stücke stellen Zuhörer oft fest, daß sie sich der Empfindung gewahr werden, wie sie zuhören und weniger, daß sie auf etwas hören, das ihnen vorgeführt wird. Es ist vielleicht dieser Wechsel der Perspektive von Reisen durch die Zeit zu Reisen in der Zeit, der die Avantgarde vom Experiment unterscheidet.

Text für das Programmheft der Donaueschinger Musiktage 2001, in das es nicht aufgenommen worden ist.

Übersetzung aus dem Englischen: Gisela Gronemeyer