MusikTexte 92 – Februar 2002, 23–30

Der blinde Pluralismus

Kritische Anmerkungen zu Matthias Pintschers „Fünf Orchesterstücken“ (1997)

von Rainer Nonnenmann

Der einstweilige Werdegang und die internationalen Erfolge von Matthias Pintscher, 1971 in Marl (Nordrhein-Westfalen) geboren, stehen in der jüngeren Musikgeschichte nahezu beispiellos da. Seine Ausbildung erhielt Pintscher zunächst bei Giselher Klebe an der Musikhochschule in Detmold, dann von 1992 bis 1994 bei Manfred Trojahn an der Düsseldorfer Robert-Schumann-Hochschule. Parallel dazu nahm er seit 1990 private Studien bei Hans Werner Henze, der ihn 1991 und 1992 zu seinen „Cantiere Internazionale d’Arte“ nach Montepulciano einlud und bald maßgeblich zu fördern begann. Schon frühzeitig erhielt der junge Komponist nationale und internationale Kompositions- und Förderpreise, Stipen­dien, Auftragskompositionen, Porträtkonzerte und reprä­sentative Ur-, Erst- und Wiederaufführungen. In den letz­ten Jahren wurde Pintscher, der überdies immer erfolgreicher als Dirigent eigener Werke und derjenigen anderer Komponisten auftritt, als „Jungstar“ der neuen Musik von einem Musikfestival, Rundfunksender, Orchester und Konzertveranstalter zum anderen weitergereicht, so daß er heute in seinem vielerorts in Programmheften kursierenden Lebenslauf stolz einen mit Kompositionsaufträgen, Gastdirigaten, Zusammenarbeit mit international be­kannten Orchestern und Opernhäusern bis fünf Jahre im voraus ausgebuchten Terminkalender vorweisen kann.

Zu dieser Karriere lassen sich im Rückblick auf die letzten drei Jahrzehnte allenfalls Parallelen zu Wolfgang Rihm ziehen, der seit Anfang der siebziger Jahre von einem zuerst heftig umstrittenen jungen Musiker bald zu einem der weltweit agilsten und präsentesten Komponisten aufsteigen konnte. Mit Rihm verbindet Pintscher nicht nur die früh entdeckte Vorliebe für den großbesetzten Orchesterapparat und der künstlerische Anspruch, sich in der Musik rückhaltlos expressiv und pathetisch zu äußern. Auch die Thematik von Pintschers erster Oper „Thomas Chatterton“ von 1998, die den psychischen und physischen Untergang eines jungen Dichters zum Thema hat, zeigt deutlich gedankliche Entsprechungen zu Rihms Opernerstling „Jakob Lenz“ von 1978. Darüber hinaus fällt an Pintschers Musik eine große Nähe zu den ästhetischen Anliegen der Komponistengeneration von Rihm und Trojahn auf, die seinerzeit mit dem Schlagwort „Neue Einfachheit“– treffender wäre wohl „Neue Expressivität“ oder „Neue Verständlichkeit“ gewesen – belegt wurde, weil sie sich gegen das Primat des konstruktiven Strukturalismus auflehnte und unter Berufung auf Komponisten wie Gustav Mahler und Alban Berg wieder expressiv nachvollziehbare und verständliche Musik schrei­ben wollte.

Matthias Pintschers Fünf Orchesterstücke entstanden 1997 als Auftragskomposition für die Salzburger Festspiele und wurden dort am 1. August desselben Jahres durch das Philharmonia Orchestra London unter der Leitung von Kent Nagano uraufgeführt. Sie sind eines der bei Dirigenten und Publikum beliebtesten Werke Pintschers und finden sich dementsprechend häufig in Konzertprogrammen. Geschrieben sind sie für ein großes Sinfonieorchester, das kaum über das des späten Beet­hoven hinausgeht und an Besonderheiten lediglich Englisch Horn, zwei Harfen, einen Konzertflügel und Synthesizer aufweist. Hinzu kommen freilich fünf Schlagzeuger, die alle über ein reiches Instrumentarium und einige auffallende, aus Mahlers Symphonien bekannte Zusatzinstrumente wie Amboß, Hammer, Celesta und Kuhglocken verfügen. In Pintschers Gesamtwerk, das bisher gerade zehn Jahre umfaßt, nehmen die Fünf Orchesterstücke insofern einen besonderen Stellenwert ein, als es sich bei ihnen um seine erste größere Arbeit handelt, in der er versuchte, sich ganz auf formale Aspekte zu beschränken und rein strukturell zu arbeiten, ohne sich – wie er selbst sagt – auf die „Schützenhilfe von Poesie“ zu verlassen und Strukturen aus einem literarischen Vorwurf abzuleiten1. Bis dato war seine Musik fast ausnahmslos aus der Begegnung mit Literatur entstanden, meistens mit der Lyrik von Arthur Rimbaud, weil er diese als eine Art Metapher für eine informelle Musik begreift, die mit an sich verständlichen Worten und Klängen gleichwohl keine direkten Aussagen formuliert, sondern eher Atmosphären, Stimmungen und Gefühle vermittelt. Vermutlich diente Pintscher die Assoziation mit Poesie nicht nur als Inspirationsquelle, sondern überdies als Versuch, das haltlos flüchtige Medium der Musik im konkret Sprachlichen, Anschaulichen zu verankern.

In den „Fünf Orchesterstücken“ hat er zum ersten Mal unabhängig von metaphorischen Bild- oder Sprachkonstellationen für jedes der fünf Stücke bestimmte Materialien zu exponieren und entfalten gesucht. Die Absenz einer literarischen Vorlage dürfte auch den Ausschlag für die Wahl des nüchternen Werktitels gegeben haben. Obwohl Pintscher definitiv klargestellt hat, daß er keine bewußte Parallele zu den berühmten Orchesterstücken der Wiener Schule gesucht hat 2, sind Parallelen zu Schönbergs gleichnamigem Opus 16 von 1909, zu Weberns Opera 6 und 10 von 1909 beziehungsweise 1913 und Bergs „Drei Orchesterstücken“ opus 6, ebenfalls von 1913, dennoch erkennbar. Entsprechungen zeigen sich insbesondere in der nicht zuletzt über die Wiener Schule vermittelten Nähe zum Œuvre Mahlers, in Pintschers Vorliebe für eine expressiv-atonale Intervallik und teils hochfahrende, teils resignativ zurücksinkende Gestik und Trauermarschidiomatik, ohne jedoch auch nur ansatzweise die epigrammatische Verdichtung epischer Formmodelle und die extreme kammermusikalische Durchsichtigkeit etwa der Orchesterstücke Weberns zu erreichen. Unverkennbar ist auch, daß Pintschers Stücke – obwohl ausdrücklich ohne Textvorlage entstanden – einer Idee der Musik als Sprache verpflichtet bleiben, was für seine textgebundenen und musikdramatischen Arbeiten in noch weit stärkerem Maße zutrifft. Pintscher selbst spricht hinsichtlich der deklamatorischen Art seiner Musik von „Sprachmusik“3.

Die Stücke

Das erste Stück ist „apertamente, respirando“4 überschrieben, was so viel wie „eröffnend, atmend“ meint. Wie die meisten Kompositionen Pintschers beginnt es mit einem kurzen Einleitungsabschnitt (Takte 1–6), in welchem das für dieses sowie die weiteren Stücke zentrale intervallische Material (kleine Sekunde und daraus abgeleitet große Septime und kleine None) sowohl in sukzessiver als auch synchroner beziehungsweise melodischer und harmonischer Hinsicht exponiert wird. Eine unbestrittene Vorrangstellung als geheime Impulsgeber erhalten dabei die beiden Harfen. Im Gegensatz zur zweiten Harfe, die hinten im Orchester postiert ist, nimmt die erste Harfe den Platz eines Soloinstruments direkt vorne neben dem Dirigenten ein und dominiert, durch ihr Echoinstrument sekundiert, über weite Strecken das Geschehen des übrigen Orchesters, das sich zunächst auf fortgesetzte Aus- und erweiterte Nachklänge von Pizzikati und Arpeggi der Harfen beschränkt. So entsteht der Eindruck, als ob sich das Stück mit zunehmendem Fortschreiten der Zeit gleichzeitig von den Harfen aus auch immer weiter im Raum nach allen Richtungen entfaltet.

Nach einer ersten Klangverdichtung und sphärischen Harfenklängen in Verbindung mit Flautati und hellen Metallklängen „con delicatezza“ (Takt 42) führt eine zweite Verdichtungswelle zum Höhepunkt des Stücks. Vor dem Hintergrund in sich bewegter Cluster schwingen sich die Hörner hier zu einer Melodie „con enfasi“ (Takt 50 und folgende, vergleiche Notenbeispiel) auf, deren abwärtsgerichteter Chromatik immer entschiedener aufwärtsgerichtete große Septimsprünge entgegengesetzt werden, welche die Trompeten ein Dutzend Mal als durchdringende Fanfarenstöße wiederholen. Obwohl alle Einzelstimmen exakt ausnotiert und einer elaborierten Polyphonie verpflichtet sind, wirkt der Kulminationspunkt „al fresco“ über die Partitur gezeichnet. Nach seinem plötzlichen Abbrechen bleibt eine verhaltene Klangfläche zurück, in welcher die vorige Klangmassierung in Gestalt leiser Streicherbalzati und zarter Metallklänge („delicatissimo, molto irreali, misterioso“) nachzittert. Wie an weiteren analogen Stellen der Partitur versucht Pintscher hier die harmonikalen Strukturen der Verdichtung in entzerrter Form nocheinmal aufzugreifen und „come una risonanza da lontano“ neu zu bespiegeln.

Die letzten sechs Takte des Stücks entsprechen dem Einleitungsabschnitt. Außerdem zeigt der Gesamtverlauf eine traditionelle Bogenform mit geradezu klassisch fünfteiliger Dramaturgie von Einleitung, Steigerung, Entspannung, Höhepunkt und Schluß, wie sie in viel ausgreifenderen Extensionen etwa aus den langsamen Sinfoniesätzen von Anton Bruckner bekannt ist. Mit der wiederholten Abfolge von voller Kraftentfaltung des Orchesterapparats und leise nachzitternden Metallklängen verrät Pintschers Stück zudem eine formal auf Ausgleich und proportionelle Ausgewogenheit von Energie- und Entspannungszuständen, Komplexion und Reduktion bedachte Anlage.

Die Vortragsanweisung zum zweiten Orchesterstück lautet „con vigore violento e precipitoso“, also „mit gewaltsamer und überstürzter Kraft“. Tatsächlich platzt das Stück mit rasenden Klangketten, Skalenläufen, forcierten Tutti- und Schlagzeugeinsätzen förmlich heraus und entfaltet mit seiner aufgepeitschten, exaltierten Virtuosität einen deutlichen Kontrast zum insgesamt verhaltenen ersten Stück. Es basiert in erster Linie auf der blockhaften Entgegensetzung von Tutti und solistisch eingesetzten Kontrabässen. Die Tutti-Teile bestehen aus Kombinationen melodischer Linien, fortlaufender Repetitionssegmente, Schlagwerk-Kaskaden, Skalen- und Intervallketten. Die Fülle der Stimmen bewirkt ein dichtes polyphones und polyrhythmisches Gesamtgefüge, in welchem sich die Konturen der Einzelstimmen verlieren, so daß die Summe der exakt fixierten Details eher den Eindruck eines frei improvisierten Tumults macht. Jedenfalls erfüllt sich Pintschers Ziel, wie er es sich für die „Fünf Orchesterstücke“ und sein weiteres Komponieren vorgenommen hat, nur äußerst bedingt, nämlich ein Höchstmaß an Klarheit und Plastizität gerade auch bei dichten und komplexen Strukturen zu erreichen durch die „extreme kammermusikalische Aufsplitterung eines sehr kompakten und sehr großen Orchesters“5. Auch sein Anspruch, die Instrumente virtuos zu benutzen, um Virtuosität gegen Fläche und Monochromie abzugrenzen6, wird nicht erfüllt. Vielmehr resultiert gerade im Gegenteil wie in György Ligetis frühen Klangkompositionen aus der Hyperproduktivität virtuoser Einzelstimmen eine zwar in sich bewegte, aber letztlich nach außen hin summarische, monochrom und flächig wirkende Gesamttextur.

Wie bei harten Filmschnitten sind die solistischen Kontrabässe abrupt gegen die Tuttiblöcke abgesetzt. Sie spielen „mit ganzer Kraft“ chromatisch kreisende Melodien (Takt 5), die in höchster Lage – wie Pintscher anmerkt – „wimmernd“ klingen sollen, was an das in gepreßter Höchstlage vorgetragene Kanonthema aus dem dritten Satz von Mahlers Erster Sinfonie erinnert. In Satztechnik und Wirkung jedoch unterscheiden sich die Kontrabaß- und Tutti-Einsätze kaum. Selbst der ohrenfälligste Unterschied, daß dort fast vierzig verschiedene Orchesterstimmen mit einem Gesamtambitus von mehr als fünf Oktaven spielen und hier nur drei Stimmen in identischer Klanglage von jeweils drei gleichen Instrumenten; selbst dieser Gegensatz nivelliert sich, weil die einzelnen Kontrabaß-Stimmen durch ihren identischen Tonvorrat ebensowenig voneinander unterschieden sind, wie die durch verschiedene Klanglagen zwar profilierteren, aber gleichzeitig durch ihre Akkumulation wechselseitig verdeckten Tuttistimmen. In beiden Fällen resultieren aus heterophoner Vielstimmigkeit homophon wirkende Klangblöcke, die allenfalls durch ihren schnellen montageartigen Wechsel eine übergeordnete primitive Zweistimmigkeit entstehen lassen.

Das dritte Stück bildet chronologisch sowie hinsichtlich des Klangmaterials und der kompositorischen Faktur das Mittelstück des gesamten Zyklus, der sich laut Pintscher von hier aus gleichsam nach vorne und hinten entfaltet 7. Es ist ein Adagio und eine Art Synthese der beiden vorangegangenen Stücke. Die dort exponierten Gegensätze in Tempo, Dynamik, Klang, Fläche und Impuls werden hier wechselseitig interpoliert. Die erste Hälfte besteht aus einer metallisch-gläsernen Klangschicht von Harfen, Vibraphon, Glockenspiel et cetera aus dem ersten Stück. Eine zweite, kontrastierende Klangschicht besteht aus einer schleppenden Rhythmusfolge fahler und diminuierender Cluster (Takt 11 und folgende), die durch zusätzliche Ritenuti einen Gestus wie im dritten Satz von György Kurtágs Erfolgsstück „Stele“ für großes Orchester opus 33 (revidiert 1994)8 bildet und an einen verhaltenen Trauermarsch denken läßt.

In der zweiten Hälfte dominieren fast ausschließlich tiefe Tremoli der Violoncelli und Bässe, Liegetöne der Baßklarinette und Glockenschläge. Unterstrichen wird diese düstere Atmosphäre durch einen weiteren Einsatz des funeralen „Schlepp-Motivs“ (Takt 71) und diesem harmonisch verwandte Tutti-Akzente (Takte 74, 76, 80). Bis zum Schluß gleicht das Stück einem aufgewühlten Marsch, bestehend aus dem Trauermarschgestus und dessen rhythmisch akzentuierten Varianten in der Instrumentation von schweren Bläser- und Streicherakkorden in tiefer Lage, durchdringenden Trompetenfanfaren, heftigen Glockenschlägen, Wirbeln auf Kleiner Trommel mit Schnarrsaiten und gewichtigen Schlägen der Großen Trommel. Im vierfachen Forte und mit erhobenen Stürzen und Schalltrichtern der Blechbläser bricht das Stück schließlich ab, was Reminiszenzen an den Finalsatz von Mahlers Erster Sinfonie weckt, auch wenn die dortige Choral-Apotheose hier ins Katastrophische gewendet ist.

Das vierte Stück ist das kürzeste. Es umfaßt lediglich sechzehn Takte und dauert gerade mal eine Minute. Aufgrund seiner geringen Extension und diffusen, geräuschhaften Klanglichkeit, die sich nur ein bißchen auffächert und schon wieder ins Nichts versickert, wirkt es weniger wie ein eigenständiges Stück denn vielmehr wie ein schattenhafter Reflex auf vorangegangene Ereignisse oder ein flüchtiges Interludium vor dem Finale. Obwohl es wegen seiner geringen Ausdehnung mit dem ebenfalls merklich kürzeren zweiten Stück korrespondiert und also die Symmetrie um das zentrale dritte Stück an­nä­hernd gewahrt bleibt, fällt dennoch eine leichte Disproportion im Verhältnis zu den übrigen Stücken auf. Tatsächlich ist das vierte Stück – worauf auch der Titel „sequenza“ hindeutet – mehr transitorischen Charakters und hat laut Pintscher als eine Art Bindeglied zum fünften die Funk­tion, vor dem großen Finalsatz noch einmal die Konzentration der Hörer zu bündeln.9

Es beginnt mit leise absteigenden Impulsen der Bongos, gleichsam ins Pianissimo gewendeten Varianten der heftigen Bongo-Wirbel gegen Ende des zweiten Stücks. Aus vorigen Stücken begegnen auch leise Battuti, mit Bögen gestrichene Crotales und zitternde Zweiunddreißigstel-Repetitionen der hohen Holzbläser. Neu hinzu kommen tonlose Blasgeräusche und ebenso tonlose Bogenstriche auf Steg und Saitenhalter, in die sich Klänge eines mit Besen gescharrten Beckens mischen. Diese Ereignisse markieren den Extremwert eines Klangspektrums, das in den „Fünf Orchesterstücken“ sonst weitgehend der herkömmlichen Instrumentalpraxis verpflichtet bleibt und kaum je wirklich bis ins G­räuschhafte reicht. Ab der Mitte des Stücks dünnen die Aktionen wieder bis auf leise Bongo-Impulse aus, die jetzt nicht wie zu Beginn des Stücks abwärts, sondern aufwärts gerichtet verebben und dadurch sowohl das Stück bogenförmig beschließen als auch spannungsvoll auf das nachfolgende verweisen.

Das letzte Stück ist „sospeso, molto irreale, come da lontano“ überschrieben, was soviel bedeutet wie „schwebend, sehr unwirklich, wie von fern“. Tatsächlich zielt Pintscher hier auf möglichst ungreifbare Klangzustände, auf die Diffusität von Klang und seiner Hervorbringung auf der Schwelle zwischen realer Tonartikulation und tonlosen Geräuschen. Wie das erste Stück beginnt es mit einem kurzen Dialog der zwei Harfen, in dem be­stimmte Saiten wie die Aliquotsaiten einer Viola d’amore unangezupft als sphärische Resonanzen mitschwingen sollen. Ebenfalls wie im ersten Stück klingen Harfen-Arpeggi in den übrigen Orchesterinstrumenten wie leise Echos nach und exponieren die Hörner auch hier wieder zentrale Sekund-, Septim- und Nonintervalle. Ein zweites Harfen-Solo, das „sehr frei und träumerisch vor sich hin ...“ gespielt werden soll (Takt 8), führt in einen „trasognato“ („träumerisch“) überschrieben Abschnitt, der mit den Takten 59–62 aus dem ersten Stück identisch ist, so als träume hier das letzte rückgewandt noch einmal vom ersten.

Später brechen die Hörner plötzlich mit einer lauten Fanfare los und initiieren damit einen massiven Klangausbruch mit schreienden Dissonanzen und brutalen Schlagzeugwirbeln (Takt 59 und folgende). Wie in den vorangegangenen Stücken bricht auch diese Klangballung ebenso plötzlich wieder ab, wie sie begonnen hat. Zurück bleiben tiefe Liegeklänge der Bässe und verhaltene Paukenschläge, über denen sich eine weitgeschwungene Kantilene des Englisch Horn erhebt, die von absteigender Chromatik und einem großen Septimsprung geprägt ist. Ihr eignet ein tonaler Charakter, weil sie die Tonschritte der Bässe mit Seufzersekunden, Vorhalt- und Durchgangsnoten figurativ umkreist. Die Aura von Trauer, Einsamkeit und Resignation, wie sie dem Englisch Horn und seiner Klangfarbe spätestens seit seiner exponierten Verwendung im dritten Akt von Richard Wagners „Tristan und Isolde“ anhaftet, wird hier ungebrochen beschworen.

Der Beginn des Schlußabschnitts (Takte 85–98) schließlich wird markiert durch einen Glockenschlag in Verbindung mit einem dunklen Blechbläser-Akkord, leise nachschleppenden Paukenschlägen und Harfenarpeggi. Ähnlich wie im dritten Stück wird hier der Duktus eines Trauermarschs angeschlagen, dem sich auch chromatische Abwärtsbewegungen im Violoncello, leises Pochen der großen Trommel und ein kurzes Solo der Hörner einfügen, in welchem das für den gesamten Orchesterzyklus zentrale Intervall der aufwärtsgerichteten großen Septime noch einmal als Kernmotiv aufgegriffen wird (Takte 87–88).

Uneingestandener Mahlerismus

Matthias Pintschers „Fünf Orchesterstücke“ sind mit ihrer zumeist bogenförmigen Geschlossenheit und ihren jeweils in sich ausgewogenen klanglichen Erscheinungsbildern Charakterstücke, die in der zyklischen Konzep­tion ihrer Abfolge eine gewisse Nähe zum Sonatenzyklus einer Sinfonie zeigen: Das reprisenhaft geschlossene erste Stück entspricht in etwa einem Sonatenhauptsatz, das zweite einem furiosen Scherzo, das dritte einem Adagio, das vierte einem kurzen Interludium und das fünfte einem Finale, dessen Klimax in die Coda eines Trauermarschs mündet. Darüber hinaus sind die fünf Stücke durch ein einheitliches Intervallkonzept verbunden, das wie etwa in der Sinfonik von Bruckner und Brahms als eine Art „Substanzgemeinschaft“ die melodisch-harmonikalen Verläufe bestimmt. Für eine zyklische Verklammerung der Stücke sorgen außerdem instrumentatorische, klangliche und gestische Korrespondenzen.

In den Pressestimmen zur Uraufführung der „Fünf Orchesterstücke“ wie auch zu Aufführungen anderer Werke Pintschers wurde mehrfach die brillante und reife Instrumentation hervorgehoben. Tatsächlich zeigen Pintschers Partituren eine perfekte Behandlung des Orchesterapparats, eine ausgeprägte Phantasie für raffinierte Instrumentalkombinationen, Farbnuancierungen und eine handwerklich solide Notation. Im Zusammenhang mit seiner Vorliebe für Orchestermusik verwies Pintscher wiederholt darauf, dass schon am Anfang seiner kompositorischen Karriere keine Solo- oder Kammermusikwerke standen, wie das sonst bei vielen Komponisten der Fall sei, sondern durchweg Stücke für große Besetzung. Eine ähnliche Vorliebe zeigen auch die frühen Sinfonien in den Werkverzeichnissen von Pintschers Mentoren Henze und Trojahn oder auch von Müller-Siemens, Rihm und anderen. Das initiale Ereignis sei für ihn die Begegnung mit dem lokalen Jugendorchester seiner Heimatstadt Marl gewesen, das er schon als Fünfzehnjähriger zu dirigieren die Gelegenheit hatte und in ihm den Wunsch weckte, statt wie ursprünglich beabsichtigt Dirigent zu werden, ein Orchester nicht nur zu leiten, sondern selbst Musik für diesen Apparat zu schreiben. Zweifellos dürfte Pintscher auf diese Weise wie auch durch Lektüre einiger Partituren von Strawinsky, Bartók, Debussy, Ravel und Monteverdi frühzeitig Bekanntschaft mit orchestralen Mitteln und ihren Realisationsmöglichkeiten gemacht haben. Indes ist anzumerken, daß er damals lediglich mit einem konventionellen und „schulmäßig“ gehandhabten Apparat in Berührung kam und angesichts der aus dieser Erfahrung gespeisten „schulfertigen“ Instrumentation seiner ersten Werke für Orchester – entgegen dem verbreiteten Lob von Pintschers früher „Fertigkeit“ im Instrumentieren und seiner Souveränität im Umgang mit vertrautem Klangvokabular – vielleicht schon damals gut daran getan hätte, sich durch eine detalliertere Auseinandersetzung mit einzelnen Instrumenten im Rahmen von Solo- und Ensemblekompositionen von landläufigen Instrumentationspraktiken zu lösen, wie sie auch in den „Fünf Orchesterstücken“ noch begegnen.

Pintschers frühe Bekanntschaft mit Orchesterliteratur der musiksprachlichen Tradition von Monteverdi bis Bartók liefert womöglich auch eine Erklärung dafür, daß die Klanglichkeit seiner Orchesterstücke in einer Art und Weise beredt und assoziationsreich ist, bei der sich affektive Topoi von Licht und Schatten, Kampf, Sieg, Niederlage, Gewalt, Bedrohung, Trauer und Einsamkeit und so weiter aufdrängen. Die Morphologie seiner Musik ist einer Auffassung der Musik als „poetische Klangrede“10 verpflichtet, wie sie zunächst um 1600 mit dem stile rappresentativo in der frühbarocken Oper entwickelte und ab 1800 mit der Idee der sogenannten absoluten Musik die gesamte Musikgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts bis weit ins zwanzigste hinein prägte. Dementsprechend entfaltet Pintschers Musik mit ihren historisch codifizierten Gesten, Stilmustern und Instrumentationstypen eine quasi referentielle Semantik. Ihre musiksprachlichen Elemente, die in Pintschers textgebundenen Arbeiten noch stärker ausgeprägt sind, kommen tonal-expressive Kommunika­tionsstrukturen entgegen, wie gleiche Chiffren, die das an der traditionellen Symphonik, Opern- und Konzertmusik geschulte Publikum in einer Art spekulativen Hermeneutik zu dechiffrieren versuchen kann.

Unabhängig davon, was oder ob diese Musik überhaupt etwas darstellt, scheint der Schlüssel für ihren großen Publikumserfolg in ihrem „darstellenden Stil“ zu liegen. Daß sie die szenisch-dramatische Phantasie der Hörer anregt hängt offensichtlich mit Pintschers Idee der Musik als „imaginäres Theater“11 zusammen: „Die Affinität zum Narrativen, ‘Rappresentativen’ findet sich auch in kleinsten musikalischen Einheiten ... Meine Musik denkt sich in erster Linie in gestischen Zusammenhängen“12. Laut Pintscher sind fast alle seine bisherigen Musiken der Vorstellung eines „imaginären Theaters“ verpflichtet. Zurück geht diese Idee auf Hans Werner Henze und, wenn man sie noch weiter zu­rück­verfolgt, auf Mahler, dessen sprechende Ausdruckscharaktere und dramatische Inhalte – seien sie nun durch gesungene Texte konkretisiert oder nicht – die traditionellen Verlaufsformen seiner Sinfonien permanent sprengen. Beispielsweise bezeichnete Pierre Boulez den „Abschied“ im „Lied von der Erde“ als „imaginäres Theater“, also als eine Opernszene, die der realen Handlung und Szene des Theaters nicht bedarf 13. Vor diesem Hintergrund wird auch besser einsichtig, warum Pintschers Musik die Identifikation mit einem in ihr verkörperten fiktiven Handlungssubjekt nahelegt und traditionell hermeneutische Lesarten provoziert.

In Verbindung mit seiner Affinität zum „instrumentalen Theater“ bekannte Pintscher: „Ich liebe das Pathos und leiste es mir auch“14. Er begreift Pathos als einen Wesenszug seiner Musik und versteht darunter ganz allgemein die Tatsache, daß seine Musik expressive Momente mit einer gewissen Wucht und Unmittelbarkeit transportiert 15. Dabei orientiert er sich an Vorstellungen von Expressivität und Faßlichkeit, wie sie schon in den siebziger Jahren die damals junge Komponistengeneration vertrat, als sie gegen die als abstrakt empfundene Strukturkomplexion des Serialismus revoltierte und stattdessen wieder eine Musik schreiben wollte, deren Strukturen klar und deutlich gehört werden und von unmittelbar expressiv erlebbarer Qualität sein sollten, wobei sie – wie Pintschers Lehrer Trojahn – vor allem die von Bruckner, Mahler und Berg geprägten Form- und Ausdruckskonzepte aufgriffen. Auch wenn Pintscher heute sagt, ihm sei Mahlers Œuvre nicht durch seinen Lehrer vermittelt worden und nach ersten Beeinflussungen zu Beginn seiner Kompositionstätigkeit wegen der angeblichen Redundanzen, Plakativität und Effekthascherei von Mahlers Musik im Laufe der Zeit immer fremder geworden, so daß sie ihn heute überhaupt nicht mehr interessiert und er in ihr nur noch eine „diametrale Gegenerscheinung“ zu seinen eigenen musikalischen Absichten sieht16: So können Pintschers Äußerungen doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß sein Schaffen anfänglich maßgeblich von Mahler beeinflußt wurde und auch später noch materialiter und durch die Idee des „imaginären Theaters“ verbunden blieb. Ähnlich wie die Musik der „Neuen Expressivität“ der siebziger Jahre verraten seine frühen Orchesterwerke – allen voran eine unveröffentlichte Erste und Zweite Symphonie von 1989, letztere bezeichnenderweise in gut Mahlerscher Manier „für Altstimme und großes Orchester“ komponiert – aber auch noch die „Fünf Orchesterstücke“ passagenweise mehr von unreflektierter Mahler-Rezeption denn von wirklich souveräner Überwindung oder kritischer Brechung der von Mahler überlieferten Ausdruckscharaktere. Darüber hinaus sind Pintschers Vorstellungen von „Sprachmusik“ und Pathetik nicht so weit von Mahler entfernt, wie er selber gerne glauben machen möchte, auch nicht von dem, was er heute an Mahlers Musik als „plakativ“ und „effektheischerisch“ ablehnt.

Eine neue „Neue Verständlichkeit“

Im Zusammenhang mit der Salzburger Uraufführung der „Fünf Orchesterstücke“ äußerte Pintscher über seine Vorgehensweise beim Komponieren, daß er im Hinblick auf die Besetzung, für die er schreibt, zuerst einen Katalog mit klanglichem Vokabular zusammenstellt und aus diesem dann die Dramaturgie des Stücks entwickelt17. Dies liefert vermutlich eine Erklärung für den streckenweise rhapsodisch-improvisatorischen Charakter seiner Musik und die oft wörtlichen Wiederholungen von bestimmten Vokabeln“ in mehreren Stücken gleicher oder ähnlicher Besetzung, zum Beispiel aus den Fünf Orchesterstücken in der „Musik aus Thomas Chatterton“ (1998) für Bariton und Orchester. Ferner erklärt es den Umstand, daß seine Musik oft zu ausschließlich für und zu wenig gegen den verwendeten Orchesterapparat geschrieben zu sein scheint. Mit deutlichen Nachbildungen des Bekannten im neu Komponierten erinnert sie an das, was seinerzeit an Mahlers Symphonien – durchaus nicht nur pejorativ gemeint – als „Kapellmeistermusik“ beschrieben wurde. Vermutlich aufgrund des additiven Kompositionsverfahrens verhalten sich Teile von Pintschers Musik eklektizistisch oder – wie Theodor W. Adorno an Mahlers Musik konstatierte – „anachronistisch modern“18. Pintscher scheint zu verkennen, daß die Klänge und Gesten, die er als „elementare Primärzustände“ betrachten zu können glaubt19, bereits mannigfach geschichtlich tradierte und auratisch hoch codierte Komplexe sind, also alles andere denn elementar und primär.

Indes wäre es unsinnig, Pintscher pauschal eine eklektizistische Vorgehensweise vorzuhalten, weil heute unter den Vorzeichen der Postmoderne und des totalen Materialpluralismus jede Komposition gezwungen ist, musikgeschichtlich bereits geprägtes Material zu verwenden. Daß Eklektizismus kein Verdikt sein muß, hat schon Mahler in seiner Sinfonik eindrücklich gezeigt, als er mit der gezielten Kompilation verschiedener Gattungs- und Stilebenen eine den Verwerfungen seiner Zeit adäquate Musik komponierte. Aber auch ohne an einer überkommenen Fortschritts- und Materialdoktrin festhalten zu müssen, läßt sich an einer Musik, die historisch vermitteltes Material verwendet ohne die dabei mitschwingenden Konnotationen genügend zu reflektieren, kritisieren, daß sie sich der komplexen Verweisungszusammenhänge des von ihr verwendeten Materials nur unzureichend bewußt ist und in Zeiten eines allgemein zu sich selbst gekommenen Pluralismus sich selber für singulär hält, während sie in Wirklichkeit nur blind ist für die eigene Pluralität. Eine solche Musik zeigt deutliche Inkonsistenzen und offenkundig postmoderne Züge im Sinne materialer Beliebigkeit.

Hätte Pintscher nicht selbst wiederholt gesprächsweise geäußert, er habe zumindest auf intellektueller Ebene viel von Helmut Lachenmann gelernt, und hätten nicht einige Kommentatoren eine ästhetische Nähe zwischen beiden Komponisten behauptet, dann bestünde keine Notwendigkeit, auf die Verschiedenartigkeit beider Komposi­tionsansätze hinzuweisen. Selbstverständlich braucht und soll Pintscher nicht wie Lachenmann komponieren. Auch hat er nicht, wie gelegentlich kolportiert, bei Lachenmann studiert. Und tatsächlich ist sein Denken in und über Musik auch kaum beeinflußt von dem, was Lachenmann wiederholt als Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Apparat beschrieben hat. Es verrät nichts von Lachenmanns skrupulösem, kritisch distanziertem Umgang mit der Gesamtheit der Materialbesetzungen, der bestehenden Wahrnehmungskategorien, Musikvorstellungen, Instrumente, Notationstechniken, Spielweisen und verbalen wie medialen Vermittlungsformen von Musik. Statt von der Reflexionsfigur einer Musik über Musik und deren rezeptionsästhetischem Pendant einer Wahrnehmung der Wahrnehmung getragen zu werden, wie es bei Lachenmanns Konzeption einer „musique concrète instrumentale“ der Fall ist, zielt Pintscher im Gegenteil auf ein direktes, unmittelbar emotionales Musik­erlebnis.

Wenn ferner an Pintscher besonders hervorgehoben wird, er wage sich wieder an „krafvolle musikalische Expressivität ... ohne die technischen Errungenschaften der Nachkriegsavantgarde zu negieren“20, und gleichzeitig beteuert wird, sein Komponieren habe weder mit seriellem Konstruktivismus noch mit rückgewandtem Traditionalismus etwas zu tun, so wird hinter der Behauptung einer geglückten Verbindung beider Pole nur mühsam ein Denken kaschiert, das weiter im Antagonismus von Expressivität versus Konstruktivität befangen bleibt. Auch bei Pintscher selbst klingt etwas von diesem Argumentationsschema an, wenn er sich im Hinblick auf serielle Kompositionsansätze insgesamt gegen materiale Durchorganisation sowie jedwede formale oder sonstige Verlaufskonzeption wendet und stattdessen auf die „Aktivierung einer vegetativen Entwicklungsform“ und ein freies, „dramatisch agogisches Komponieren“21 pocht, welches in jedem Moment jeden Richtungswechsel gestattet. Tatsächlich jedoch konnte von einer strikten Alternative zwischen Expressivität und Konstruktivität kaum jemals wirklich die Rede sein. Schon als sich die Vertreter der „Neuen Expressivität“ dieser Alternative als Mittel zur Abgrenzung gegenüber ihrer seriellen Vätergeneration bedienten, verfehlten sie die aktuelle Musikproduktion, weil sich die einstigen „Serialisten“ bereits seit Anfang der sechziger Jahre von ihren seriellen Methoden entfernt und Konstruktivität außerdem stets vorrangig als Mittel zum Zweck der Reinigung des Ausdrucks und nicht als technizistischen Selbstzweck begriffen hatten.

So wenig von einem jungen Komponisten zu fordern ist, er solle wie die „Altmeister“ der Avantgarde komponieren, so wenig ist von ihm zu erwarten, daß er immer wieder alles neu und anders macht als bisherige Komponisten. So ist auch eine gestisch beredte und expressiv mitteilsame Musik nicht apodiktisch als antiquiert zu verwerfen, wie es die Serialisten in den fünfziger Jahren getan haben und sich damit gegenüber so manchem ihrer Vorgänger und Zeitgenossen massiv ins Unrecht setzten. Aber statt von einem jungen Komponisten zu erwarten, daß er mit einer bereits weitgehend fertigen, gefestigten Tonsprache auftritt, die schnell als glatte handwerkliche Professionalität empfunden werden kann, wünschte man sich von ihm vielmehr Verunsicherungen oder Unsicherheiten, mit denen er selbstverständlich scheinende Ansichten, Aufführungs- und Rezeptionsmechanismen hinterfragt. Hingegen fällt an Pintschers Musik neben ihrer gestischen und emotionalen Direktheit das Festhalten an den traditionellen Gattungen Streichquartett, Sinfonie, Oper, Kammer-, Orchester- und Chormusik auf. Statt sich gegen den fest institutionalisierten Rahmen von Konzert, Oper und Kammermusiksaal aufzulehnen, bewegt er sich in seiner Musik auf dem sicheren Boden der überlieferten Gattungen und Musikvorstellungen. Mit ihrem artifiziellen Klang- und Formempfinden zielt seine Musik – gerade auch bei den extremen Kontrastmomenten der „Fünf Orchesterstücke“ – stets auf klanglich-formale Ausgewogenheit und zeigt kaum je Ansätze, die vertraute Sphäre des geschlossenen Werks oder insgesamt des Ästhetischen zu konterkarieren. Hinzu kommt, daß ihre teils amorphen Klangstrukturen allesamt aus „schönen“ Klängen bestehen und die in der konventionellen Musikästhetik tabuisierten Geräusche bis auf wenige Ausnahmen ausgespart bleiben. Auch instrumentale Virtuosität findet hier ungebrochen als Ausdrucksform Verwendung, welche die Musiker gelegentlich zwar an die Grenzen ihrer Kräfte führt, sich dafür aber als umso dankbarer erweist und den Bedürfnissen der meisten Musiker, Dirigenten und Konzertbesucher entgegen zu kommen scheint.

Pintschers „Fünf Orchesterstücke“ sind eine ganz normale, seriöse neue Konzertmusik, welche der im Musikbetrieb standardisierten Aufführungssituation keinerlei Widerstände entgegensetzt. In ihr zittert nichts mehr von der fundamentalen Verunsicherung des herkömmlichen Musikverständnisses durch den Serialismus oder John Cage nach. Und auch die expressive Emphase und Vehemenz, mit der seinerzeit etwa Wolfgang Rihm auf der Freiheit des künstlerischen Subjekts insistierte und weite Teile des Musiklebens brüskierte, scheint bei Pintscher formal geglättet und auf vertraute, konventionelle Maße zurechtgestutzt. Statt auf eine Revolution der Klang- und Wahrnehmungsart abzuzielen, ist es eine rundum gekonnt, raffiniert und effektvoll komponierte Musik mit hohem Unterhaltungs- und Gebrauchswert, die ihren Hörern wenig Fragen nach der Gültigkeit der traditionellen, habituellen und normativen Prägungen ihres Musikbegriffs und Wahrnehmungsverhaltens stellt. Bei aller Skepsis gegen geschichtsphilosophische Konstruktionen und normative Fortschrittsmodelle ist deshalb der Feststellung von Heinz-Klaus Metzger zuzustimmen, daß Matthias Pintscher als Komponist einstweilen noch den „Eingriff in die Geschichte“ vermissen lasse, weil er zu denen gehört, die bislang „weder etwas eingeführt noch etwas abgeschafft haben“22

Vielmehr scheint er sowohl mit seiner „autonomen“ als auch erst recht mit seiner textgebundenen und musikdramatischen Musik vorerst nichts anderes zu betreiben, als eine moderate Reformulierung der neo-expressiven Anliegen der um 1970 in Erscheinung getretenen Komponistengeneration seines Lehrers Manfred Trojahn. Aber freilich steht der heute eben erst dreißigjährige Komponist noch am Beginn seiner Entwicklung und ist bei ihm – wie seine jüngsten Werke zeigen, etwa die neuesten Arbeiten aus dem Figura-Zyklus, „Sur ‘Départ’“ (1999) für drei Orchestergruppen, drei Solocelli und sechzehn Frauenstimmen oder „vers quelque part ... – façon de partir“ (2000) für acht Frauenstimmen a cappella und Crotali – vieles im Werden und noch so offen, daß man in einigen Jahren vermutlich anderes über seine Musik wird sagen können.

1Matthias Pintscher im Gespräch mit dem Verfasser am 7. Februar 2001.

2Ebenda.

3Zitiert nach Thomas Schäfer, Imagination aus der Kraft des Poetischen. Über den Komponisten Matthias Pintscher, in: neue musikzeitung, Jahrgang 46 (1997), Heft 10, 12.

4Daß Pintscher bevorzugt italienische Werktitel und durchweg italienische Vortragsanweisungen verwendet, wurde ihm gelegentlich als Manierismus vorgehalten. Seiner eigenen Auskunft nach sind die Vortragsanweisungen mehr „atmosphärische Angaben“ (im Gespräch mit dem Verfasser am 7. Februar 2001) und Teil des Versuchs, alle verbalen Angaben einheitlich in der traditionellen Sprache der Musik zu notieren, was nicht zuletzt durch den Wahl-Italiener Henze angeregt worden sein dürfte.

5Pintscher im Gespräch mit dem Verfasser am 7. Februar 2001.

6Ebenda.

7Ebenda.

8Hierauf aufmerksam machte bereits Thomas Schäfer, „Eiszeichen im Gestirn. Notizen zur Musik von Matthias Pintscher“, in: CD-Beiheft KAIROS 0012052, 1999, 7.

9Pintscher im Gespräch mit dem Verfasser am 7. Februar 2001.

10Vergleiche Schäfer, Imagination aus der Kraft des Poetischen, am angegebenen Ort, 12.

11Reinhard Kager, Matthias Pintscher – „Fünf Orchesterstücke“, in: Österreische Musikzeitschrift, 52. Jahrgang, 1997, Heft 8, 38.

12Zitiert nach: Die erste Oper: Fragen an Matthias Pintscher, in: takte. Informationen für Bühne und Orchester, Kassel; Bärenreiter, 1998, Heft 1, 6.

13Vergleiche Pierre Boulez, Wille und Zufall. Gespräche mit Célestin Deliège und Hans Mayer, Stuttgart: Belser, 1977 161.

14Matthias Pintscher, Über mich selbst, Manuskriptkopie 1993 aus der Presseabteilung des Bärenreiter-Verlags, 1.

15Pintscher im Gespräch mit dem Verfasser am 7. Februar 2001.

16Ebenda.

17Vergleiche Schäfer, Eiszeichen im Gestirn, am angegebenen Ort, 3.

18Theodor W. Adorno, Mahler. Eine musikalische Physiognomik, in: derselbe, Die musikalischen Monographien, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986, 256.

19Pintscher im Gespräch mit dem Verfasser am 7. Februar 2001.

20Reinhard Kager, Theatralik im Blut. Der Komponist Matthias Pintscher, in: Neue Zeitschrift für Musik, 159. Jahrgang, 1998, Heft 1, 44.

21Pintscher, Über mich selbst, am angegebenen Ort, 1.

22Heinz-Klaus Metzger, Was noch geht und was nicht mehr. Matthias Pintschers Auftritt als Komponist und Dirigent beim Berliner „UltraSchall“-Festival, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. Februar 1999.