MusikTexte 93 – Mai 2002, 92–93

... zu kurz gegriffen

Eine Biographie über Sofia Gubaidulina

von Rainer Nonnenmann

Würde Sofia Gubaidulina nicht seit zehn Jahren zu den weltweit bekanntesten Komponisten gezählt, wäre ihr Leben für die Darstellung in einer ausführlichen Biographie nicht eben besonders prädestiniert. Äußere und innere Brüche, geistige Kehren, künstlerische Krisen, Entdeckungen, Abwege und Experimente, die einen Lebenslauf zumeist erst interessant machen, scheint der ihre kaum zu kennen. Selbst unter den wechselvollen Verhältnissen von Stalinismus, Perestroika und ihrer späten Übersiedlung 1991 nach Deutschland verlief ihr künstlerischer Werdegang dank fester Verwurzelung im christlichen Glauben sowie eines zielbewußten und unermüdlichen Schaffens weitgehend linear. Diesen Eindruck vermittelt jedenfalls die von der Komponistin autorisierte Biografie, die jetzt der langjährige Waldorflehrer und heutige Mitarbeiter am Goetheanum im schweizerischen Dornach, Michael Kurtz, vorgelegt hat.

Grundlage seiner Biographie sind Gespräche, die der Autor seit 1990 mit der Komponistin geführt hat, sowie an die achtzig Briefe von und Interviews mit ihren Verwandten, Bekannten, Kollegen, Interpreten, Literaten, Konzertveranstaltern. Hinzu kommen einige teils mehrseitige Originalbeiträge von Mstislav Rostropowitsch, Enzo Restagno, Simon Rattle und anderen. Auf der Grundlage dieses Reichtums an Zeitzeugnissen, der zweifellos die Stärke des Buchs ausmacht, werden Gubaidulinas Kindheit und künstlerischer Werdegang geschildert, ihre Ausbildung als Pianistin und Komponistin von den ersten Werken und Aufführungen bis zu ihrem weltweiten Durchbruch Ende der achtziger Jahre. Darüber hinaus werden Einblicke in das Moskauer Musikleben eröffnet, in die politische und personelle Situation am dortigen Konservatorium Mitte der fünfziger Jahre, in die Struktur und Arbeit des Sow­jetischen Komponistenverbandes unter seinem jahrzehntelangen Ersten Sekretär Tichon Chrennikow, ferner in das elektronische Labor Jewgenij Mursins, das 1966 zum offiziellen Moskauer elektronischen Studio avancierte, und in den von Grigorij Frid gegründeten Musikalischen Jugendclub, wo während der sechziger Jahre Werke von Gubaidulina, Alfred Schnittke und Edison Denissow uraufgeführt wurden. Anschaulich schildert Kurtz die zermürbenden Verhandlungen mit Polit- und Verbandsfunktionären um Aufführungs-, Druck- und Reisegenehmigungen, die in ähnlicher Form auch aus Arbeiten zu anderen sowjetischen Komponisten bekannt sind.

Gut dokumentiert werden die ersten Anfänge der schnell anwachsenden Rezeption von Gubaidulinas Musik im Westen. Dadurch erschöpft sich die Darstellung allerdings im letzten Viertel in ermüdenden Aufzählungen von Namen, Titeln, Orten und Reiserouten, die leichter und übersichtlicher in einer Tabelle hätten dargestellt werden können. Der Autor scheint hier lediglich aus den Werk- und Aufführungskarteien von Gubaidulinas Hamburger Musikverlag zu zitieren, was für einen Musikhistoriker zwar eine wichtige Datenmenge liefert, über das Leben der Komponistin und die Beschaffenheit ihrer Werk aber wenig aussagt. Besonders ausgiebig zu Wort kommen Interpreten von Ur- und Erst­aufführungen mit ausführlichen Berichten über Auftragsvergabe, Veranstalter, Entstehung und persönliche Erfahrungen mit Gubaidulinas Musik. Über die Musik selbst ist jedoch auch hier wenig zu erfahren. Dieser Schwerpunktsetzung folgt auch die Wahl der Abbildungen, bei der an die neunzig Fotos lediglich zwölf Skizzen und Notenbeispiele gegenüberstehen.

Im Anhang der Biographie trägt ein umfassendes Personenregister wesentlich zu ihrem Gebrauch als Material- und Quellensammlung bei. Auf ein Werkregister, das auch einen gezielt werkspezifischen Zugriff ermöglicht hätte, wurde leider verzichtet. Ansonsten enthält der Anhang ein komplettes chronologisches Werkverzeichnis (leider ohne Verlagsangaben), eine umfassende Diskographie, ein chronologisches Verzeichnis veröffentlichter Interviews und Sekundärliteratur sowie einige Angaben zu weiterführender allgemeiner Literatur vor allem zu Rußland.

In der Vielzahl persönlicher Stellung­nahmen liegt zugleich eine entscheidende Schwäche von Kurtz’ Publikation. Die Quellen sind oft nicht ausreichend redaktionell überarbeitet und gefiltert (darüber hinaus stören zahlreiche Druckfehler). Viele Äußerungen bleiben in der Schilderung subjektiver Eindrücke stecken oder vermitteln Belanglosigkeiten: daß man nett bei einigen Flaschen Wodka zusammen saß, eine Busfahrt ermüdete, die Komponistin am Telephon schwer zu erreichen war und dergleichen mehr. Der Autor übernimmt die Äußerungen kommentarlos und trifft kaum Unterscheidungen zwischen zentralen und marginalen Informationen. So ist ausgerechnet über diejenigen bestimmenden Momente von Gubaidulinas Persönlichkeit wenig Substantielles zu erfahren, die das größte Interesse auf sich ziehen. Gerade zu ihnen hätte man sich eine umfassendere und kritischere Aufklärung erwartet. Völlig unklar bleiben die Motive, die Gubaidulina 1967 dazu bewogen, sich trotz des kommunistischen Systems russisch-orthodox taufen zu lassen. Als Erklärung nennt der Autor lediglich das religiöse Drängen der befreundeten Pianistin Maria Judina, nicht jedoch die Beweggründe der Komponistin selbst. Auch der Verweis auf Gubaidulinas Beschäftigung mit der christlichen Freiheits- und Schöpfungslehre Nikolaj Berdjajews vermag nur einen schwachen Einblick in ihre religiösen Überzeugungen und die spirituellen Motive ihrer Werke zu geben.

Hinsichtlich der russisch-tartarischen Herkunft der Komponistin und deren Bedeutung für ihr Schaffen beschränkt sich Kurtz auf atmosphärische Gemeinplätze: „Der Russe liebt die Melancholie dieser weiten Landschaft und hat ihre farbige Schönheit im Wechsel der Jahreszeiten immer wieder in Gedichten und Liedern besungen“ (Seite 22). Ähnlich nebulös bleiben seine Ausführungen über die Weiblichkeit der Komponistin. Der Umstand, daß sich Gubaidulina erst einige Jahre nach ihren Kollegen Schnittke und Denissow mit der Zwölftontechnik beschäftigte, wird mit dem Verweis auf ihre „feinere und zartere weibliche Konstitu­tion“ erklärt, die sie nötige, langsamer als ihre männlichen Kollegen zu arbeiten (Seite 101–102). Derlei Stilblütenträume eines empfindsamen Musiktheoretikers finden sich auch in Zusammenhängen, in denen die spezifisch „weibliche Hingabe“ als diffuses Erklärungsmuster für die Art und Weise bemüht wird, mit der die Komponistin bestimmte Texte vertont oder Instrumentalkonzerte bekannten Interpreten auf den „Leib“ komponiert. In der pauschalen Darstellung der ethnischen, religiösen und geschlechtsspezifischen Hintergründe von Sofia Gubaidulinas Leben und Werk enttäuscht die neue Biographie. Hier greift Kurtz entschieden zu kurz.

Michael Kurtz, Sofia Gubaidulina. Eine Biographie, Stuttgart: Freies Geistesleben & Urachhaus, 2001.