MusikTexte 93 – Mai 2002, 19–23

Musica contemplativa

Eine Porträtskizze von Sofia Gubaidulina

von Rainer Nonnenmann

Als sie aber weiterzogen, kam Jesus in ein Dorf. Da war eine Frau mit Namen Mar­tha, die nahm ihn auf. Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu. Martha aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen.

Lukas 10, 38–40

Die deutsche wie auch die gesamte mittel- und westeuropäische Auseinandersetzung mit der Musik von Sofia Gubaidulina neigt zu mehr oder minder ausgeprägten Klischeebildungen. Einer der Hauptgründe dafür dürfte in der russisch-tatarischen Herkunft der Komponistin liegen. Die verbreitete Vorstellung von der sprichwörtlichen „russischen Seele“, die bekanntlich nicht minder tief, dunkel und weit ist als das unermeßliche Land zwischen Nord- und Schwarzmeer, Ostsee und Pazifik, geht einher mit exotistischen Phantasien von archaischer Ursprünglichkeit, tiefer empfundener Spiritualität, Melancholie und ungestümen Leidenschaften, wie sie allesamt aus Romanen von Gogol, Tolstoj, Dostojewski oder Pasternak bekannt sind. Auch die wiederholt auf Musik von Sofia Gubaidulina gemünzten Schlagworte „Neo-Archaismus“, „kosmische Sakralität“ oder die Idee von „Musik als Gottesdienst“ und von Komponieren als „religiösem Akt“ wecken zwangsläufig Assoziationen an das mystische Halbdunkel prächtiger russisch-orthodoxer Kuppelkirchen, an vollbärtige Patriarchen, goldgrundierte Ikonostasen und vielstündige byzantinische Meßliturgien.

Tatsächlich kommt die Musik von Sofia Gubaidulina diesen oder ähnlichen Klischeebildungen entgegen. Sie bildet einen komplexen symbolistischen Kosmos, der sich gleichermaßen aus christlichen, byzantinischen, mystischen, schamanischen sowie islamischen und asiatischen Überlieferungen vor allem des Mittelalters speist und kaum aus dem Blickwinkel der europäischen Aufklärung und Moderne erfassen läßt. Einen Eindruck vom rituellen Charakter ihrer Musik gibt ihr erstes Streichquartett von 1971, dessen Anfang Ähnlichkeiten mit liturgisch gebundenem Reponsorialgesang aufweist. Eine auf wenige Töne und das Zentralintervall der kleinen Sekunde konzentrierte Psalmodie wird hier – wie in einigen anderen Kompositionen – von mehreren Stimmen im Wechselgesang vorgetragen.

Ähnliches gilt von Gubaidulinas „Stunde der Seele“ für Mezzosopran, großes Orchester und Schlagzeug aus dem Jahr 1974. Durch die dunkle und expressiv aufgeladene Stimmung sowie den deklamatorisch sprechenden Gesangsstil, der sich frei an russisch-orthodoxe Vokalisen anlehnt, trägt das Stück stark oratorienhafte Züge.

Sofia Gubaidulinas Neigung zu christlicher Spiritualität, Liturgie und Mystik spiegelt sich in ihrem Werkverzeichnis. Sie schrieb mehrere geistliche Werke, ein Orato­rium, zwei Kantaten und die im vorvergangenen Jahr im Rahmen der Internationalen Bachakademie unter dem Motto „Passion 2000“ in Stuttgart uraufgeführte Johannes-Passion. Auch verwendete sie immer wieder geistliche Werktitel wie „Offertorium“, „De profundis“, „Jubilatio“, „Alleluja“ oder „Lauda“ für Werke traditionell weltlicher Gattungen wie Konzert, Sonate, Sinfonie oder Ballettmusik. Wie stark ihre Spiritualität durch die Geisteswelt des christlichen Mittelalters geprägt ist, zeigen ferner ihre Verwendung von Texten des heiligen Franz von Assisi und der Hildegard von Bingen. Hinzu kommt in ihren Partituren eine musikalische Zeichensprache, deren rhethorische Figuren, Proportionsbildungen, visuelle Kreuzesdarstellungen und zahlensymbolische Anspie­lungen in vielem an die Musik des „Fünften Evangelisten“ Johann Sebastian Bach erinnern. Auch altrussische Volks- und Kirchenmusiktraditionen bilden einen integralen Bestandteil ihrer Musik.

Zum einen wurzelt Gubaidulinas spiritueller musikalischer Kosmos in ihrer tiefen Religiosität und psychisch-künstlerischen Disposition. Zum anderen läßt er sich auch als Folgeerscheinung der langjährigen Isolierung der sowjetischen Musik von den internationalen Musikentwicklungen des zwanzigsten Jahrhunderts verstehen, durch die sich die russischen Komponisten ihrer Generation mangels Alternativen auf die in Rußland und der Tatarei noch lebendigen byzantinischen beziehungsweise islamischen Musiktraditionen zu besinnen genötigt ­sahen. Nicht ganz ohne Einfluß dürfte auch die rigorose Nationalitätenpolitik Jossif Stalins geblieben sein, derzufolge in den einzelnen Sowjetrepubliken jeweils die Folk­lore der entsprechenden ethnischen Majorität besonders gefördert wurde.

Religiöse Ideenmusik

Geboren wurde Sofia Asgatovna Gubaidulina am 24. Oktober 1931 in Tschistopol in der damaligen Tatarischen Autonomen Sowjetrepublik als dritte Tochter eines tatarischen Vaters und einer russischen Mutter. Bereits mit fünf Jahren wurde dem Kind der Flügel der Eltern zum wichtigsten Spielplatz. Nachdem Gubaidulina zuerst Klavier am Konservatorium in der tatarischen Republikhauptstadt Kazan, dann bis 1963 Komposition am Mos­kauer Konservatorium bei Nikolaj Pejko studierte, einem ehemaligen Schüler und Assistenten Dimitrij Schostako­witschs, wirkte sie als freischaffende Komponistin in Mos­­kau und verdiente sich – wie damals viele sowjetische Komponisten – ihren Lebensunterhalt mit der Komposition von Filmmusik. 1969 komponierte Gubaidulina eine Sammlung von vierzehn kleinen Klavierstücken für Kinder, die sie in Erinnerung an ihren frühen spielerischen Umgang mit diesem Instrument „Musikalisches Spielzeug“ nannte. Die Stücke verraten eine ungebrochene Spielfreude und setzen ihre jeweilige Thematik anschaulich um. In „Der Trompeter im Wald“ klingen beispielsweise kurze Fanfaren und Einzeltöne im Klavier als Echos nach; in „Der magische Schmied“ hämmern schnelle Anschlagsrepetitionen so auf die Tasten ein, daß hinter den vordergründigen Melodiefloskeln die Hammermechanik des Instruments hörbar wird.

Während der politischen Tauwetterperiode, die Nikita Chruschtschow nach Stalins Tod 1953 einleitete, konnten Kompositionen von Sofia Gubaidulina in der Sowjetunion regelmäßig aufgeführt werden und auf durchaus positives Echo stoßen. Dagegen wurden nach der neo-stalinistischen Wende unter Leonid Breschnjew Mitte der sechziger Jahre Aufführungen ihrer Orchesterwerke unmöglich und selbst Aufführungen ihrer Kammermusik schwie­rig. Zusammen mit ihren Komponistenkollegen Edison Denissow und Alfred Schnittke war Gubaidulina jetzt zunehmend ideologischen Anfeindungen ausgesetzt. Unter oft fadenscheinigen Begründungen wurden diese drei bedeutenden russischen Komponisten wegen ihres Subjektivismus und ihrer als formalistisch denunzierten Verwendung zwölftöniger Kompositionstechniken vom offiziellen Sowjetischen Komponistenverband boykottiert. Das hatte beispielsweise zur Folge, daß Gubaidulinas 1967 komponierte dodekaphone Kantate „Nacht in Memphis“ für Mezzosopran, Männerchor und Orchester nach der Uraufführung in Zagreb 1971 erst über zwanzig Jahre später 1988 erstmals in Moskau aufgeführt werden konnte. Das Stück basiert auf altägyptischen Texten und ist – inspiriert von der Kulisse der Totenstadt Memphis – ein Klagelied über Tod und Vergänglichkeit, was dem staatlich verordneten Fortschritts- und Jubelpathos der damals herrschenden Doktrin vom sozialistischen Realismus freilich völlig zuwider­lief.

Sofia Gubaidulinas Werke der siebziger Jahre verraten – wie das Œuvre vieler sowjetischer Komponisten – eine Vorliebe für barocke und klassische Formmodelle wie Toccata, Invention, Rondo, Sonate, Sinfonie und Konzert. Gleichwohl ist es kaum möglich, ihre Musik deswegen mit den Rubriken von „Neuer Einfachheit“ oder „Neo-Tonalität“ treffend zu erfassen, wie im Zusammenhang mit den etwa zeitgleichen kompositonsästhetischen Erscheinungen in Westdeutschland verfahren wurde. Bezeichnenderweise findet sich in Gubaidulinas Werkverzeichnis kaum etwas von dem, was sich mit einem Begriff des neunzehnten Jahrhunderts als „absolute Musik“ bezeichnen ließe. Trotz der manchmal neobarock anmutenden Faktur und neoklassizistischen Formensprache handelt es sich bei ihrer Musik stets um eine Art Ideen- oder „Programm-Musik“, die über sich selbst hinaus auf außermusikalische und zumeist religiöse Inhalte verweist.

Im Fall von „Introitus“ für Klavier und Kammerorchester aus dem Jahr 1978 deutet die Besetzung mit solistischer Bläsergruppe und Streichorchester auf die Tradi­tion des barocken Concerto grosso, in dem sich solistisch besetzte Couplets mit Tutti-Ritornellen abwechseln. Gleichzeitig erinnert das Soloklavier sowie der prägende Themendualismus und die dreiteilige Formanlage an die klassisch-romantische Sonaten- und Konzerttradition. Diese teils barocke, teils klassische Anlage überformt Gubaidulina mit einer außermusikalisch-religiösen Dimension, die der Titel „Introitus“ benennt. Gemäß dem feierlichen Einzug der Priester und Ministranten zur Messe gestaltet sie ihr Klavierkonzert als Eintritt des Menschen in einen sich in vier Stufen entfaltenden Klangraum, dem sie bestimmte religiöse Stadien zuordnet. Die Komposition wird zu einer Art Gottesdienst mit rein instrumentalen Mitteln.

Den Anfang macht ein psalmodierendes Thema, bei dem einzelne Bläser und Streicher einen Zentralton in Mikrointervallschritten meditativ umspielen. Als charakteristische thematische Entgegensetzung folgt im Soloklavier ein kontrastierendes zweites Thema, an das sich gemäß der Concerto-grosso-Form später wieder das litaneiartige Bläser-Streicher-Thema anschließt. Im weiteren Verlauf wird die mikrointervallische Ausgangsdisposition in drei Stufen zu einer chromatischen, dann diatonischen und schließlich pentatonischen Skala erweitert. Als einer der ältesten, schon im alten China und der russischen Volksmusik bekannten Modi wird die Ganzton­skala für Gubaidulina zum Ausdruck höchster Vollkommenheit. In ihrem religiösen Gedankengebäude entspricht die intervallische Entwicklung des Stücks einem Aufstieg von der niedersten sinnlichen Empfindungs- und Bewußtseinsstufe bis zur höchsten geistigen Erfüllung.1 Weil dabei die entscheidenden Impulse jeweils vom Klavier ausgehen, wächst diesem die Bedeutung des nach Gott suchenden Menschen zu. Tatsächlich begreift Gubaidulina die einzelnen Instrumente als lebende Personen und bevorzugt deswegen die Gattung des Instrumentalkonzerts, zu der sie einsweilen Werke für Violoncello, Fagott, Schlagzeug, Violine, Viola und Koto beisteuerte. In „Introitus“ wird der pentatonische Modus dementsprechend durch sphärische Akkorde und Skalenläufe des Klaviers eingeführt, die dann vom Orchester weitergetragen werden (siehe Beispiel).

Gegen Schluß erklingen alle vier Tonskalen zugleich in verschiedenen Instrumentengruppen, und die beiden Hauptthemen finden zu einer vielstimmigen, dichten Apotheose zusammen, die schließlich durch Triller im höchsten Register des Klaviers gekrönt wird. Die Freiheit und Unbekümmertheit mit der Gubaidulina dabei unterschiedliche historische Stilelemente kombiniert, erinnert entfernt an den Polystilismus ihres russischen Komponistenkollegen Alfred Schnittke.

Schwierigkeiten und später Erfolg

Während man Sofia Gubaidulina in den sechziger Jahren in der Sowjetunion weitgehend ignorierte, wurden ihre Werke im benachbarten Polen beim bedeutendsten Avantgardemusikfestival des damaligen Ostblocks, dem Warschauer Herbst“, sowie bei der Internationalen Biennale für zeitgenössische Musik in Zagreb aufgeführt und schon damals einem kleinen Kreis von Hörern, Komponisten und Musikkritikern aus Westeuropa bekannt. In den siebziger Jahren erhielt Gubaidulina bereits Kompositionsaufträge aus dem westlichen Ausland und einige ihrer Werke wurden, sofern sie nicht in Schubladen verschwinden mußten, jenseits des Eisernen Vorhangs uraufgeführt, wenngleich stets in Abwesenheit der Komponistin, der der sowjetische Komponistenverband und sein Generalsekretär Tichon Chrennikow jede Ausreisegenehmigung für das westliche Ausland verweigerte, weil er in Gubaidulinas Werken keine angemessene Vertretung der sowjetischen Musik sah.

Vermutlich auch als ein Versuch der inneren Emigra­tion gründete Sofia Gubaidulina zusammen mit den Komponistenkollegen Viktor Suslin und Wjatscheslaw Artjomow 1975 die Improvisationsgruppe „Astreja“. Dieser private Experimentierkreis, benannt nach einer russischen Freimaurerloge des frühen neunzehnten Jahrhunderts, trat nur sporadisch in öffentlichen Konzerten auf und war in erster Linie darum bemüht, traditionelle russische, kaukasische sowie mittel- und ostasiatische Volksinstrumente für die neue Musik zu adaptieren. Das Ensemble bestand bis zur äußeren Emigration Suslins 1981 in die Bundesrepublik Deutschland. Durch ihr Interesse an Volksinstrumenten und Folklore lernte Gubaidulina auch den Bajan kennen, das russische Knopfakkordeon, das bislang nur ein Schattendasein in folkloristischer Unterhaltungsmusik fristete. Sie komponierte daraufhin als erste einer ganzen Reihe von Werken für den Bajanspieler Friedrich Lips 1978 „De profundis“ und 1985 „Et exspecto“. Ferner autorisierte sie die 1991 von der Akkordeonistin Elsbeth Moser vorgenommene Umarbeitung ihres 1979 für Violoncello und Orgel komponierten Stücks „In croce“ für Violoncello und Bajan. Der Werktitel beschreibt neben der Kreuzigung Christi den kreuzförmigen Verlauf des Werks, bei dem sich beide Instrumente aus entgegengesetzten Richtungen aufeinander zubewegen und im Moment, da sie sich überkreuzen, mit wilden Klangkaskaden losbrechen. „In croce“ wird so zu einer ekstatischen Meditation über den theologischen Begriff des Kreuzes.

In Auseinandersetzung mit der evolutionären Musiktheorie von Pjotr Meschtschaninow (eine aufgrund elementarer Intervall-, Rhythmus- und Formproportionen vorgenommene Periodisierung der abendländischen Musikgeschichte) zentrierte Gubaidulina während der achtziger Jahre ganze Kompositionen auf elementare Materialien wie Einzel- und Dreiklänge, Unisoni oder Glissandi. Sie verwendete diese Elemente als musikalische Zeichen für diejenigen außermusikalischen Bedeutungen, die den Klängen durch ihre verschiedenen funktionellen, rituellen Bindungen in Kirchen- und Gebrauchsmusik im Laufe mehrerer Jahrhunderte der Musikgeschichte zugewachsen waren. Auf diese Weise wollte sie strukturelle Konstruktivität sinnvoll mit Spontaneität und Intuition verbinden und eine Musik schreiben, die die Gefühle der Hörer unmittelbar anspricht und die Qualität eines überindividuell gültigen Symbols gewinnt, statt bloß subjektive Ausdrucksmusik zu sein. Ein eindrückliches Beispiel für dieses symbolistische Komponieren liefert ihre zwölfsätzige Symphonie „Stimmen ... verstummen ...“ aus dem Jahr 1986. In den geradzahligen Sätzen werden jeweils verschiedene exemplarische Klangphänomene vorgestellt wie Glissandi, Cluster oder Kanon. In ihrer wechselnden Abfolge sollen diese verschiedenen Klangzustände die Veränderlichkeit des menschlichen Lebens symbolisieren. Dagegen basieren alle ungeraden Sätze – wie bei einem Rondo – durchgehend auf ein und demselben D-Dur-Akkord, der ähnlich wie in Richard Wagners „Lohengrin“-Vorspiel allmählich aus der höchsten Klang­sphäre in tiefere Regionen hinabsinkt und ähnlich wie bei Wagner Vorstellungen von göttlicher Vollkommenheit und paradiesischem Frieden vermitteln soll.

Als 1981 zu Gubaidulinas fünfzigstem Geburtstag ein Festkonzert in der Düsseldorfer Tonhalle veranstaltet wurde, war die Komponistin in Westeuropa noch kaum jemandem bekannt. Im Laufe der achtziger und neunziger Jahre änderte sich diese Situation jedoch derart gravierend, daß Gubaidulina heute zu den weltweit bekanntesten Komponistinnen und Komponisten zählt. Die späte, aber umso nachhaltigere internationale Resonanz, die ihre Musik heute findet, verdankt sich in erster Linie dem Engagement einiger international bekannter Interpreten, allen voran dem Geiger Gidon Kremer, der sich mit der Uraufführung und zahllosen Folgeaufführungen des Violinkonzerts „Offertorium“ von 1980 als einer der ersten Emigranten aus der Sowjetunion in Westeuropa und den USA nachhaltig für ihre Musik einsetzte. Nicht minder entscheidend war die politische Wende in der So­w­jetunion unter Mikhail Gorbatschow, die mit Glasnost und Perestroika dazu beitrug, daß die Komponistin zu Aufführungen ihrer Werke in den Westen reisen konnte. Nach einem ersten Aufenthalt 1984 in Helsinki wurde sie fortan zu den Musikfestivals des Westens eingeladen, von denen sie seit Mitte der achtziger Jahre Kompositionspreise und immer mehr Kompositionsaufträge erhielt, die sie schließlich gar nicht mehr alle annehmen und bewältigen konnte. 1992 erwarb die rennomierte Paul Sacher Stiftung in Basel sämtliche Manuskripte ihrer bisherigen und zukünftigen Werke. Endlich wurden auch in Rußland umfangreiche Porträtkonzerte mit ihrer Kammer- und Orchestermusik veranstaltet. Und schließlich erfuhr Gubaidulina auch im eigenen Land höchste offizielle Anerkennung, als sie 1992 den großen Russischen Staatspreis erhielt.

Und dennoch übersiedelte sie wegen der politischen, sozialen und kulturellen Unsicherheiten in der zerfallenden Sowjetunion 1991 endgültig in die Bundesrepublik nach Appen-Unterglinde in der Nähe von Hamburg. Durch ihre wiedergegründete Improvisationsgruppe und die Zusammenarbeit mit ihrem Hamburger Musikverlag eröffneten sich ihr hier bessere Wirkungs- und Aufführungsmöglichkeiten als in den großen russischen Zentren Moskau oder Petersburg, deren Musikleben bis heute unter den maroden wirtschaftlichen und desolaten finanziellen Folgewirkungen des politisch-ökonomischen Zusammenbruchs zu leiden hat. Auffallend ist, daß die Übersiedlung aus der russischen Metropole in ein deutsches Dorf und die damit verbundenen neuen Lebens­umstände keinerlei Spuren in ihrem kompositorischen Schaffen hinterlassen haben. Dasselbe gilt von den revolutionären Veränderungen in Politik, Gesellschaft und Kultur, die sich zwischen dem Stalinismus der fünfziger und der Perestroika der achtziger Jahre ereigneten. Auch sie scheinen Gubaidulinas erstaunlich geschlossen und einheitlich wirkendes Œuvre kaum tangiert zu haben. Eine Erklärung liefert vermutlich der Umstand, daß ihr Komponieren durch eine extrem weltabgewandte Geisteshaltung geprägt ist. So gestand die Komponistin einmal, daß ihr in der Außenwelt fast alles unsympathisch sei, der Lärm, die Oberflächlichkeit, die viele Musik und vor allem die viele Unterhaltungsmusik im Getriebe des Alltags2. Ihre Aufgabe sieht sie deshalb in erster Linie darin, ähnlich den mittelalterlichen Mystikern in ihrer Musik eine Distanz zur Außenwelt herzustellen, um den Menschen die Möglichkeit zu geben, nach innen in die Stille und zu Gott zu gehen. Eine solche Musik der Stille, der inneren Einkehr und Gottesverherrlichung ist auch ihr „Sonnengesang“ von 1997 für Solovioloncello, Chor und Orchester nach dem gleichnamigen Text des Franz von Assisi.

Vor dem Hintergrund der jahrzehntelangen ideologischen Vereinnahmung der Künste durch die repressive Kultur- und Propagandapolitik der ehemaligen Sowjetunion ist Gubaidulinas Neigung zu mystischer Weltflucht durchaus verständlich. Als Vorbild für westliche und jüngere russische Komponisten kann sie indessen nicht gut gelten, weil in ihr etwas von dem Eskapismus und Fatalismus mitzuschwingen scheint, mit dem das russische Volk immer schon erschütternde Beweise seiner Leidensfähigkeit zu erbringen hatte, und weil diese quietistische Abkehr von der Welt vermutlich heute noch die Veränderung der Mißstände der russischen Gesellschaft, Wirtschaft und Politik lähmt.

Musik, die geglaubt werden will

Ohne Zweifel ist Sofia Gubaidulina eine ausgezeichnete Vermittlerin sowohl autochthoner musikalischer als auch geistiger Traditionen von Ost nach West. Allerdings nur unter der Bedingung einer intensiven Auseinandersetzung mit diesen geistig-musikalischen Traditionen und Hintergründen. Weil ihre Musik trotz zahlreicher anderslautender Meinungen keine „universale Sprache“ ist und sich in der modernen, säkularisierten Kultur- und Lebenswelt des Westens alles andere denn von selbst versteht, wird ihre Musik im Westen bislang sehr einseitig in ihrer vordergründig tonalen, sinnlich-klangmalerischen und für den Mitteleuropäer oft exotistisch anmutenden Erscheinungsform wahrgenommen. Dadurch kommt sie antiintellektuellen und antimodernen Affekten gegen die angeblich internationalistisch gleichförmige, verkopfte, profane, unfaßlich publikumsferne atonale neue Musik des Westens entgegen. In dem Maße, in dem Gubaidulinas Musik gegen die entzauberte Moderne auszuspielen versucht wird, wird sie zur ungehemmten Projektionsfläche längst überwunden geglaubter kunstreligiöser und nationaler Kategorien aus der Musikgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Sie zieht Klischeevorstellungen auf sich von „tatarischem Feuer“, „russischer Seele“ und einer wiederholt postulierten, jedoch nie eingehender spezifizierten Form ausgesprochen weiblicher Inspiration, Religiosität und Mystik. Auch die distanzlose Begeisterung vieler Musikologen, Journalisten und Kommentatoren für das hochexpressive, ethnisch, spirituell und rituell geprägte Idiom ihrer Musik, läßt für eine fundierte Auseinandersetzung mit den ästhetischen und kompositionstechnischen Grundlagen ihrer Kunst einstweilen noch manches zu wünschen übrig. Diese einseitige Rezeption kommt nicht von ungefähr, da sich die Komponistin in zahllosen Interviews fast ausschließlich zu den spirituellen Gehalten und Wirkungsabsichten ihrer Musik geäußert hat, kaum je aber zur konkreten Faktur einzelner Werke.

Ebenso zweifellos wie Gubaidulinas potentielle Vermittlerrolle von Ost nach West ist auch, daß sie – abgesehen von ihrer Rezeption der Zwölftonkomposition in den sechziger Jahren – keine Vermittlerin aufklärerischer oder avantgardistischer Ideen von West nach Ost ist. Mit ihrer unpolitischen und spirituell in sich selbst ruhenden Musik gibt sie ihren russischen Landsleuten keinen Anstoß, der statt in die Stille nach innen, nach außen führen könnte in Richtung auf eine eigen- und sozialverantwortliche Lösung anstehender Probleme. Für dieses, freilich utopische künstlerische Anliegen ist ihre Musik zu sehr an den Vorbildern von Meister Eckehard, Johannes vom Kreuz oder anderen mittelalterlichen Mystikern und ihrem Ideal eines ganz auf die Schau Gottes ausgerichteten Lebens orientiert. Sie ist vorrangig kontemplativ auf die letzten Dinge des Kosmos und die nach Erlösung strebende Einzelseele gerichtet.

So ist es symptomatisch, daß die Schluß-Strophe ihres „Sonnengesangs“, in dem der heilige Franziskus Gott dankt und demütig zu dienen gelobt, nichts von der Auffassung erkennen läßt, daß Gottesdienst nach christlicher Lehre auch einen durchaus diesseitigen und aktiven Dienst am Nächsten und der Gesellschaft bedeuten kann. Nach dem Vorbild der verzückten Gottesschau des Propheten Jesaja wird der Schluß von Gubaidulinas „Sonnengesang“ zu einem ekstatischen Lobpreis Gottes mit Glockenspiel und den himmlisch jauchzenden Chören schwirrender Seraphime und Cherubime, in deren paradiesische Lauterkeit das freudig umherflatternde Solovioloncello schließlich als verklärte Seele Eingang findet. Diese Musik will mehr geglaubt als gehört werden. Und vermutlich ist es eben diese ungebrochene, naive Klanglich- und Gläubigkeit, die in einer zunehmend säkularisierten, pluralistischen Welt religiöse und nostalgische Sehnsüchte auf sich zieht und die Musik von Sofia Gubaidulina während der letzten Jahre in der ganzen Welt, vor allem aber den westlichen Industrieländern so populär hat werden lassen.

1Vergleiche: Robert Nemecek, „Introitus“, Sonate und Konzert. Einführende Bemerkungen zum Klavierkonzert „Introi­tus“ von Sofia Gubaidulina, Vortragsmanuskript, Köln 1999, ohne Seitenangabe.

2Vergleiche: Albrecht Dümling, Auf dem Weg nach innen. Die sowjetische Komponistin Sofia Gubaidulina im Gespräch, in: MusikTexte 21, Köln 1987, 11.