MusikTexte 95 – August 2002, 57–69

Bestimmte Negation

Anspruch und Wirklichkeit einer umstrittenen Strategie anhand von Spahlingers „furioso“

von Rainer Nonnenmann

Der Akt des sich selbst Überspringens ist überall
der höchste, der Urpunkt, die Genesis des Lebens.
So ist die Flamme nichts, als ein solcher Akt. So hebt alle Philosophie da an, wo der Philosophierende sich selbst philosophiert, das heißt, zugleich verzehrt (bestimmt, sättigt) und wieder erneuert (nicht bestimmt, frei läßt).
Novalis1

Gäbe es nicht ständig Diskrepanzen zwischen Theorie und Praxis, Konzeption und Umsetzung, so wäre vermutlich längst allgemeine Übereinstimmung darüber zu erzielen, daß ein Komponist, wenn er originär neue, au­thentische Musik komponieren und nicht nur gängige Hörgewohnheiten und -bedürfnisse bedienen möchte, die ihm zur Verfügung stehenden Klangmaterialien nicht einfach in ihren herkömmlichen Gebrauchs- und Bedeutungszusammenhängen benutzen kann. Statt „Surrogate“ des ohnehin bereits Bekannten zu veranstalten, sollte er bestehende Bedingungen des Materials, die sich aufgrund ihrer Tragweite und Komplexität vielleicht am ehesten mit dem ebenso umfassenden wie komplexen Begriff der Tradition beschreiben lassen, durch veränderten Gebrauch zu negieren suchen, um das Material zu Neuem umzuformen und veränderten Hörperspektiven zugänglich zu machen. Weil indes eine komplette Annullierung bestehender Überlieferungszusammenhänge illusorisch und ebenso naiv wäre wie eine ganz in sich ruhende, unreflektierte Tradition, die sich selber noch nicht zum Problem geworden ist, oder wie hilflose Versuche zu ihrer Restauration, stellt Tradition den Komponisten heute vor den Widerspruch, daß sie weder gänzlich zu eliminieren noch nostalgisch zu beschwören ist. Diese Einsicht versetzt jeden Komponisten, egal ob er sie teilt oder nicht, in den prinzipiellen Zwiespalt, daß er weder innerhalb einer ungebrochenen Tradition operieren kann, weil diese überhaupt nicht mehr existiert, noch sich im traditionsfreien Raum aufzuhalten vermag, weil trotz dem Ende der bruchlosen Überlieferungszusammenhänge der abendländischen tonalen Musik dennoch buchstäblich jedes Material mit zahllosen Erinnerungsspuren an diese Tradition durchsetzt und dementsprechend auch bei den Hörern nach wie vor in dieser Weise wirksam ist.

Einen Ausweg aus diesem Dilemma, das die Musik der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nachhaltig bestimmte und für die des einundzwanzigsten nicht minder relevant sein dürfte, suchte Theodor W. Adorno bereits während der fünfziger und sechziger Jahre mit der kompositionsästhetischen Maxime der bestimmten Negation. Er war davon überzeugt, daß die von ihm favorisierte Strategie insgesamt Maßstäbe für einen kritisch-distanzierten Umgang der aktuellen Musikproduktion mit der Tradition setzt: „Soweit sie [die aktuelle Musikproduktion] authentisch ist, beginnt sie nicht frisch-fröhlich von vorn, übertrumpft nicht eine ersonnene Verfahrungsweise durch die nächste. Vielmehr ist sie bestimmte Negation.“2 Bestimmt wäre diese Negation, weil sie Tradition nicht schlichtweg als Gesamtheit verneint, sondern ausschließlich deren unerwünschte, zu leeren Konventionen erstarrte oder falsch gewordene Komponenten. Sie sollte sich sowohl gegen konkrete Traditionselemente und ungebrochene Fortschreibungs- oder Restaurationsversuche bereits bestehender Bedingungen wenden als auch gegen pauschale Antitraditionalismen und irreale Ansprüche auf totale Eliminierung jedweder traditionaler Elemente, wie sie am konsequentesten im Serialismus der fünfziger Jahre mit dem hybriden Reinheitsideal einer „tabula rasa“ zu realisieren versucht wurden. Insofern vereint die Idee der bestimmten Negation typische Denkfiguren der Moderne und Postmoderne. Sie setzt Ideale der Avantgarde fort und sorgt zugleich für deren kritisches Hinterfragen.

Mit Adorno ist auch Mathias Spahlinger davon überzeugt, daß bestimmte Negation bestehende Institutionen nicht einfach zerschlagen, sondern vielmehr rekonstruieren und durch ihre Zersetzung zum Medium ihrer Bewahrung werden soll: „sie bricht hinter sich die brücken nicht ab, die von einem alltagsbewußtsein zum anderen übergehen; sie schreitet nur fort, wo es ihr gelingt, die stufen zu bewahren, die sie verläßt.“3 Ferner ist Spahlinger davon überzeugt, daß sich ein Komponist weder schlicht konventionell verhalten kann, weil er sich dann überflüssig zu machen droht, noch aber einfach unkonventionell, weil ein Verhalten, das überhaupt nicht auf Konventionen rekurriert, schlechterdings nicht vorstellbar ist. Statt sich also entweder bloß konventionell oder möglichst unkonventionell zu verhalten, geht es ihm darum, beim Komponieren keine Konvention mehr unreflektiert und unverhandelt anzuwenden4. Aus der Einsicht, daß es keinen Sinn macht, über das Gewesene stramm hinwegzumarschieren und Kunst im Gegenteil integrativ arbeiten und bestimmte Negation sein müsse, folgert er, daß die Avantgardebewegungen der Moderne an ihr Ende gekommen, mithin also in das Stadium der Postmoderne eingetreten sind. In dieser Epoche kann für die neue Musik allenfalls noch ein Fortschrittsbegriff reklamiert werden, der den qualitativen Unterschied eines höher entwickelten kompositorischen Reflexionsbewußtseins beschreibt, nicht aber ein quantitativer Fortschritt an neuen Materialinnovationen5. In Abhängigkeit von Adornos Forderung zieht Spahlinger deshalb den Schluß, jede Musik, sofern sie authentisch ist, müsse zugleich negativ gegen sich selbst sein, „sei es als in sich reflektierte, sei es als bestimmte negation ihrer konventionen, was dasselbe ist“6.

Die zuerst von Georg Wilhelm Friedrich Hegel entwickelte, dann von Adorno theoretisch auf die Musik übertragene Idee der bestimmten Negation wurde seit den sechziger Jahren bevorzugt von Komponisten wie Helmut Lachenmann, Nicolaus A. Huber, Spahlinger und anderen kompositionspraktisch zu adaptieren versucht. Unter dem Vorzeichen einer „musica negativa“ wurden diese musikalischen Umsetzungsversuche ebenso oft leidenschaftlich propagiert wie heftig geschmäht und abgelehnt. Heute dient das Schlag- und Reizwort von der musikalischen Negation zur Kennzeichnung einer Richtung des zeitgenössischen Komponierens, die einerseits an der traditionskritischen Materialreflexion der historischen Avantgardebewegungen (der zweiten Wiener Schule und dem Serialismus) festhält und andererseits im Sinne der Postmoderne als einer kritischen Reflexion der Moderne7 die Tendenz der Avantgarde, sämtliche Traditionen und Konventionen rigoros auszuschließen, durch gezielte Konfrontation mit traditionellen Elementen dialektisch hinterfragt. Außerdem verfolgt diese Kompositionsrichtung ein im weitesten Sinne politisches Anliegen, indem sie vermittels der Kritik materialimmanenter Bedingungen implizit auf eine Kritik und Veränderung bestehender gesellschaftlicher Bedingungen hinzuwirken sucht. Zu Recht wurde und wird daher dieser Ansatz als „dialektisch“, „kritisch“ und „negativ“ bezeichnet8. Jedoch ist mit diesen begrifflichen Definitionsversuchen noch nichts über die immanenten Schwierigkeiten dieses Ansatzes und die Möglichkeiten seiner musikalischen Umsetzung gesagt.

Tatsächlich wirft die Idee einer Negation, bei der das Negierte gleichzeitig „aufgehoben“ sein soll in dem von Hegel beschriebenen dreifachen Sinne von überwunden, auf eine höhere Stufe gehoben und zugleich in dieser neuen Stufe in ursprünglicher Gestalt nach wie vor mitenthalten, zahlreiche grundsätzliche und folgenschwere Probleme auf. Bis heute besteht unter Philosophen kaum Einigkeit darüber, wie Hegels „Aufhebung“ eigentlich zu verstehen sei. Nicht weniger strittig ist – obwohl im Musikschrifttum stets davon die Rede ist –, ob bestimmte Negation überhaupt auf Musik übertragen werden kann, und falls ja, wie dies im einzelnen bewerkstelligt wird. Im folgenden soll daher diese umstrittene Strategie in einem ersten Teil auf ihre immanenten Schwierigkeiten und Widersprüche hin erörtert, in einem zweiten am Beispiel von Spahlingers Ensemblekomposition „furioso“ von 1991/92 in einigen musikalischen Umsetzungsmöglichkeiten dargestellt und schließlich in einem dritten Teil vor dem Hintergrund der Detailanalyse dieses Stücks auf ihr Verhältnis von philosophisch-theoretischem Anspruch auf der einen Seite und kompositions- und rezeptionsästhetischer Wirklichkeit auf der anderen befragt werden. Wenn die Idee bestimmter Negation dabei über das Œuvre Spahlingers hinaus problematisiert wird, so geschieht das nicht, um diesen für das moderne und postmoderne Komponieren nach wie vor zentralen Ansatz zu disqualifizieren, sondern im Gegenteil, um der Auseinandersetzung mit ihm neue Anstöße zu geben. Dies scheint gerade heute umso nötiger, als die Idee bestimmter Negation inzwischen vielerorts zu einem entweder falsch kolportierten oder unhinterfragt übernommenen Bestandsstück der neuen Musik zu werden droht und dadurch zunehmend Gefahr läuft, statt kritische, produktive Fortsetzungen zu finden vielmehr als abgeschlossene Stilrichtung der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts musikhistorisch stillgestellt oder gar als Ideologie und Masche einiger Alt-Achtundsechziger bagatellisiert, fetischisiert und damit in ihr Gegenteil verkehrt zu werden.

Immanente Schwierigkeiten und Widersprüche

Ein Hauptproblem bei der Übertragung der philosophischen Kategorie der Negation auf die Musik bereitet die präzise Bestimmung dessen, was bestimmt negiert werden soll. Im Grunde können sämtliche inner- und außermusikalischen Ordnungen und Besetzungen, die dem Klangmaterial im Laufe seiner Verwendung zugewachsen sind, Gegenstand des Negationsverfahrens werden. Prädestiniert sind vor allem Elemente aus dem tonal geprägten Sprachraum der klassisch-romantischen Musik des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, da diese das heutige Musikleben nach wie vor am stärksten dominiert und die tonalen Hörgewohnheiten des Publikums am nachhaltigsten prägt. Die Einschränkung bestimmter Negation auf tonale Konventionen läuft aber gleichzeitig Gefahr einer willkürlichen Verkürzung des Gegenstands. Obgleich beispielsweise der Dominantseptakkord als Paradigma einer unmißverständlich wirkenden, tonalen Konvention verstanden werden kann, macht es keinen Sinn, daß sich die neue Musik immer wieder an Dominantseptakkorden abarbeitet. Versteht man indes unter Tonalität nicht nur Dur-Moll-Dreiklänge mit eindeutiger harmonikaler Fortschreitungstendenz, sondern ein umfassendes präkompositorisches Normengefüge, das mit seinen hierarchischen Gesetzmäßigkeiten noch vor jeder konkreten kompositorischen Tätigkeit bereits einen geordneten Zusammenhalt aller Einzelelemente zu einem in Intervallik, Harmonik, Dynamik, Rhythmik, Klangfarbe und Form geschlossenen Ganzen garantiert, dann droht die Negation von Tonalität sich im Unbestimmt-Allgemeinen zu verlieren. Angesichts der Allgemeinheit der Bestimmung von Tonalität als System einer prästabilierten Harmonie läuft bestimmte Negation Gefahr, entsprechend konträr zu einem ebenso allgemeinen System instabilierter Disharmonie zu werden und also Tonalität nicht bestimmt, sondern allgemein, das heißt, unbestimmt beziehungsweise „abstrakt“ zu negieren.

Außerdem ist nicht einzusehen – selbst wenn die Einschränkung auf tonale Konventionen zunächst plausibel scheint –, warum das Negationsverfahren an der atonalen Revolution um 1910 seine Grenze finden soll und nicht auch diejenigen Konventionen negiert werden, die sich seit dieser Zeit während des langen zwanzigsten Jahrhunderts durch die expressionistische Atonalität, die formkonstruktive Dodekaphonie, den seriellen Strukturalismus, die Aleatorik sowie das postserielle Klang- und neu-einfach Ausdruckskomponieren gebildet haben. Zwar findet sich in der atonalen neuen Musik kaum etwas, was wie der Dominantseptakkord als bedingter Reflex oder syntaktischer Zwang wirkt und den verbindlichen Sprachregelungen der Tonalität vergleichbar wäre. Aber auch die neue Musik unterliegt seit bald hundert Jahren einem Konventionalisierungs- und Institutionalisierungsprozeß, der nicht schon allein dadurch entschärft ist, daß sie zu einer per se über ihr Material und sich selbst reflektierenden Kunst auf einer höheren Bewußtseinsstufe erklärt wird. Neue Musik ist keineswegs per se kritisch und selbstreflexiv, wie Spahlinger unterstellt, sondern nur allzu oft völlig unkritisch und selbstblind in ihr Material sowie die sozioökonomischen Zusammenhänge von Finanzen, Posten, Publizität, Medien und Vertrieb verstrickt. Wird sie dennoch generell als kritisch postuliert, so geschieht dies sowohl aus musikhistorischer Blindheit für das kritische Potential historischer Musik, etwa von Beethoven, Schumann, Mahler, als auch aus der Hypostasierung eines falsch verstandenen Alleinvertretungsanspruchs, der schnell zur Attitüde verkommt und selbstkritischem Denken über und in Musik eigentlich fern liegen sollte.

Tatsächlich sind typische Klänge der neuen Musik, zum Beispiel ein mit Bogen gestrichenes Becken, mittlerweile derart allgemein verbreitet und bekannt, daß sie im Strukturverlauf vieler Kompositionen voraushörbar geworden sind und ähnlich automatisierte Wahrnehmungsreaktionen auslösen wie der tonale Auflösungszwang eines Septakkordes. Statt sich also auf die Auseinandersetzung mit den Material- und Ordnungsstrukturen der klassisch-romantischen Tradition zu beschränken, wäre auch die hundertjährige Tonalitätskritik der historischen Avantgardebewegungen bestimmt zu negieren, da sich diese im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts dem Material ebenso eingebrannt hat, wie das tonale Komponieren während der drei Jahrhunderte zuvor. Wie die neue Musik insgesamt unterliegt auch die Idee der bestimmten Negation dem geschichtlichen Wandel und damit einem Prozeß historischer Relativierung. Durch ihre Institutionalisierung und Etablierung als eigenständige Musiksparte unter zahllosen anderen wird neue Musik im Konzertbetrieb nur mehr bedingt negativ als Differenzerfahrung gegenüber der alten Musik wahrgenommen. Stattdessen wird sie – wenn auch nach wie vor nur von geringen Publikumskreisen – verstärkt positiv als ästhetische Sphäre eigener Qualitäten und Gesetze rezipiert. Ein perforierter Streicherklang gilt heute eben nicht mehr nur einseitig als Negation des sonst gewohnten Schönklangs, als die er noch in den sechziger Jahren erfahren wurde, sondern ebenso als musikalische Qualität eigenen Rechts, die in keinem Negationsverhältnis mehr zur herkömmlichen Spiel- und Klangpraxis zu stehen braucht und zu hören ist. Daher kann heute selbst intendierte Negation leicht mit Position verwechselt werden, ein Umstand, der von Heinz-Klaus Metzger seit einigen Jahren als „Negativitäts-Verlust“ beklagt wird und spätestens seit den achtziger Jahren Komponisten wie Spahlinger, Nicolaus A. Huber und Lachenmann zu Umdenkprozessen gezwungen hat. Letzterer beispielsweise sah sich um 1980 durch die zunehmende Akzeptanz und „touristische Erschließung“ seiner vormaligen Verweigerungshaltung dazu veranlaßt, diese seinerseits nocheinmal gezielt zu verweigern.

Eine weitere Hauptschwierigkeit bestimmter Negation resultiert aus dem Umstand, daß jedes Klangmaterial gemäß der Häufig- und Unterschiedlichkeit seines Gebrauchs entsprechend mehrfach kodiert ist. Während der Serialismus zumindest vorübergehend der Illusion anhing, das Material lasse sich mit streng quantifizierbaren und damit seriell abstufbaren Parametern erfassen, gelangte man spätestens in den sechziger Jahren zur Einsicht, daß der serielle Physikalismus nicht der Komplexität des Klingenden und insbesondere den für die Wahrnehmung und das Verstehen von Musik weit wichtigeren qualitativen Materialeigenschaften gerecht wurde. Wenn das Material jedoch vor allem nach vielfältigen historischen, espressiven, assoziativen und auratischen Besetzungen bestimmt werden muß, welche sich den seriellen „Reinigungsversuchen“ gegenüber als resistent erwiesen haben, dann erhält man statt einer eindeutig benennbaren Monovalenz des Klangmaterials eine unabsehbare, kaum begrifflich, geschweige denn kompositorisch einholbare Polyvalenz. Ist das Material aber prinzipiell mehrwertig und nicht eindeutig bestimmbar, dann wird fraglich, ob es „bestimmt“ negiert werden kann.

Wenn die historischen, gesellschaftlichen und ideologischen Determinanten sowohl der traditionellen als auch der neuen Musik „bestimmt“ negiert werden sollen und nicht einfach pauschal beziehungsweise „abstrakt“, wie Adorno an der geschichtsvergessenen Materialdisposi­tion des frühen Serialismus kritisierte9, dann müssen sie sich klar bestimmen lassen. Grundvoraussetzung bestimmter Negation ist die Bestimmung der Präformationen des Materials, gemäß dem Motto: keine bestimmte Negation ohne vorhergegangene bestimmte Position. Genau diese Dialektik von Position und Negation verfolgt Spahlinger in seinem Komponieren: Ordnungen setzten, um sie zu brechen. Allerdings bleibt fraglich, ob und wie die Hörer die Dialektik von Position und Negation wahrnehmen können. Selbst wenn sich die „Bestimmbarkeit“ des Materials kompositorisch realisieren lassen sollte, ist damit noch nicht geklärt, wie die Hörer Positioniertes, Negiertes und das im Hegelschen Sinne Aufgehobene unterscheiden sollen. Schwierigkeiten bereitet insbesondere der Umstand, daß die Hörer das Klingende unwillkürlich in möglichst einfache Ordnungen zu bringen versuchen und dadurch gelegentlich das, was als Negation von Ordnung gemeint war, positiv als Setzung einer neuen Ordnung begreifen. Wenn sie die Zersetzung von Ordnung aber als allgemeinere und einfachere Form gesetzter Ordnung auffassen10, dürfte ihnen kaum je die eigene ordnungssetzende Tätigkeit beim Wahrnehmungsvorgang bewußt werden. Genau hierauf zielt aber Spahlingers Idee der Autoreflexion der Mechanismen des Hörens. Die Hörer können nur dann auf ihr Wahrnehmungs- und Dechiffrierungsverhalten aufmerksam gemacht werden, wenn es durch die Negation bestehender Material- und Ordnungsstrukturen in seiner herkömmlichen Ordnungstätigkeit gestört wird.

Grenzen der Aufklärung

Wie ein Großteil der modernen Kunst seit Marcel Du­champ soll Musik für Spahlinger zum Motor einer Selbst­reflexion der Wahnehmungsbedingungen werden. Indem Musik die für die Alltagssprache sonst primäre Vermittlungsfunktion ausblendet zugunsten der Art und Weise des ästhetischen Mitteilens selbst, ist sie laut Spahlinger in ihrer Grundstruktur ohnehin schon selbstreflexiv und dazu angetan, die Mechanismen des Hörens und die ordnende, selektierende, verstehende Tätigkeit des Bewußtseins hörbar zu machen. Demgegenüber ist einzuwenden, daß die Wahrnehmung des Klingenden nicht einfach zugunsten der Selbstreflexion der Wahrnehmung übersprungen werden kann und soll. Wird die musikalische Wahrnehmung durch eine solche Metaperspektive substituiert, dann tritt leicht das logische Problem einer unendlichen Iteration auf, denn warum sollte man bei der Wahrnehmung der Mechanismen der Wahrnehmung stehen bleiben und nicht konsequenterweise auch die Mechanismen der Wahrnehmung der Wahrnehmung wahrnehmen wollen beziehungsweise die Bedingungen der Reflexion der Reflexion reflektieren und so weiter ad infinitum. Zudem droht die Musik durch eine derart metatheoretische Reflexionsspirale ihren Kunstcharakter einzubüßen und als musikpädagogisches Aufklärungs- und Therapiemodell funktionalisiert zu werden. Der Eigenwert des musikalischen Kunstwerks und seine Wahrnehmung sollen nicht dadurch obsolet werden, daß die Hörer, statt Musik zu hören, nur noch die Introspektion der Bedingungen ihres eigenen Hörverhaltens betreiben. So wenig das Erfassen der spezifisch ästhetischen Eigenschaften des Kunstwerks belanglos oder beliebig werden sollte, so wenig sollte der genuine Kunstcharakter von Musik einer aufklärenden Hördidaktik untergeordnet werden, da sich diese, ist sie erst einmal durchschaut, womöglich schnell erschöpft und auf diese Weise ausgerechnet wieder diejenigen Gewohnheiten des Hören befördert werden, die durch Bewußtmachen eigentlich hätten überwunden werden sollen.

Schließlich birgt der Konflikt zwischen Wahrnehmung und gleichzeitiger Wahrnehmungsreflexion erkenntnistheoretische Schwierigkeiten. Für eine möglichst ex- und intensive Erfahrung der Eigenart des Ästhetischen, die jedes wirkliche musikalische Kunstwerk für sich beansprucht, ist es unerläßlich, daß sich der Rezipient möglichst ausschließlich auf das Objekt konzentriert und also gleichzeitig ablaufende Reflexionsprozesse über die subjektiven Bedingungen der Wahrnehmung erst einmal zurückstellt. Wolfgang Welsch spricht diesbezüglich von einer der ästhetischen Wahrnehmung eingeschriebenen „Anästhetik“11, also einer für den aktuellen Wahrnehmungsvorgang spezifischen Empfindungslosigkeit gegenüber den Voraussetzungen, die ihn bedingen. Einen möglichen Ausweg aus dem Problem, wie die auf das äußere Klingende konzentrierte Wahrnehmung gleichzeitig auf ihre subjektiven inneren Bedingungen gerichtet werden kann, deutet jedoch der Begriff der Wahrnehmung selbst an. Dieser beschreibt nicht nur eine sinnlich-auditive Erfahrung, sondern im Sinne von etwas „für wahr nehmen“ oder „gewahrwerden“ überdies eine Weise des Erfassens, die mit einem Wahrheitsanspruch verbunden ist und deswegen immer schon die Bedingungen mit in den Blick nimmt, unter denen der Akt des Verstehens zustande kommt12. So gesehen verfügt zwar jede Wahrnehmung eines Objekts bereits über eine selbstbezügliche Orientierung des Subjekts, aber damit diese zunächst nur latente Selbstwahrnehmung explizit und nicht von vornherein durch die „anästhetisierenden“ Beschränkungen und Hörschemata blockiert wird, braucht es als Katalysator das Verfahren bestimmter Negation. Dieses hält den Hörern im Idealfall einen Spiegel vor, in welchem sie die zumeist unbewußten (tonalen) Konditionierungen ihres Wahrnehmungsverhaltens gerade deswegen erkennen können, weil sie gestört oder durchbrochen und dadurch mit einem Signum der Auffälligkeit versehen sind.

„furioso“: Hegel, Büchner und die Revolution

Spahlingers „furioso“ für Ensemble entstand 1991/92 im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks Köln und wurde im April 1992 bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik vom Ensemble Modern unter der Leitung von Hans Zender uraufgeführt. Nicht von ungefähr stellte Spahlinger der Partitur des Stücks ein Zitat aus Hegels „Phänomenologie des Geistes“ (1807) als Motto voran. Es lautet: „kein positives werk noch tat kann also die allgemeine freiheit hervorbringen; es bleibt ihr nur das negative tun; sie ist nur die furie des verschwindens.“13 Das Zitat entstammt einer Schrift, die eine systematisch-wissenschaftliche Erklärung des Bewußtseins über sich selbst zu liefern beansprucht und einen Weg aufzeigen möchte, auf welchem vom Bewußtsein zum Selbstbewußtsein, zu Vernunft, Geist und schließlich zum absoluten Wissen fortgeschritten werden kann. Vor dem Hintergrund dieses teleologischen Progresses, bei dem der Geist durch Negation seiner Entfremdungen zu sich selbst kommt und sich über seine Freiheit verständigt14, kann das von Spahlinger angeführte Zitat als Reflex auf die Ideen der bestimmten Negation und des autoreflexiven Potentials der Musik gelesen werden.

Ein Bezug zur Französischen Revolution von 1789 ergibt sich dadurch, daß die Erfahrung dieses welthistorischen Ereignisses Eingang gefunden hat in Hegels Kapitel „Die absolute Freiheit und der Schrecken“, dem das Zitat entnommen ist. Hegels Begriff der „Furie“ begreift daher auch den Furor der Jakobinischen Schreckensherrschaft mit ein, die unter Robespierres Massenguillotinierungen diktatorische Züge annahm. Spahlinger selbst hebt an der Französischen Revolution hervor, daß hier erstmals die praktische Probe auf den durch die Aufklärung zuvor theoretisch erarbeiteten Begriff der Freiheit gemacht wurde. Ferner unterstreicht er ihren basisdemokratischen Impuls, daß immer dann, „wenn eine Institutionalisierung aufgetaucht ist, sofort auch die Mittel zur Kritik dieser Institutionalisierung da waren, und einfach perhorresziert wurde, was sich gerade institutionalisiert hatte“15. Seiner Auffassung nach beschreibt Hegels Metapher von der „Furie des Verschwindens“ – die mit zum Namen des Stücks beigetragen hat – genau diesen Umstand, daß nämlich alles, was positiv beziehungsweise institutionalisiert zu werden droht, „zugleich durch die Idee der allgemeinen Freiheit wieder abgeschafft werden muß und eben nichts Positives entsteht“16.

Von hier aus läßt sich eine Brücke schlagen zum zweiten Motto. Es handelt sich um eine Passage aus der zweiten Szene des ersten Akts von Georg Büchners Drama „Dantons Tod“ (1835), in der Robespierre den aus Mangel an Brot nach „Aristokratenfleisch“ schreienden Leuten im Namen des Volks Einhalt gebietet, woraufhin er von einem Lyoneser Bürger mit nüchtern-fanatischer Logik expliziert bekommt: „Wir sind das Volk, und wir wollen, daß kein Gesetz sei; ergo ist dieser Wille das Gesetz, ergo im Namen des Gesetzes gibt’s kein Gesetz mehr, ergo totgeschlagen!“17 Für Spahlinger bringt Büchners Satz „Wir sind das Volk“ – den sich 1989 auch die Bürgerrechtsbewegung in der DDR zu eigen machte – die Paradoxie der Idee der Volksherrschaft treffend zum Ausdruck, weil er dasselbe benennt wie Hegels Furien-Metapher, nämlich das Dilemma der die eigene Institutionalisierung bekämpfenden und sich so immer wieder selbst auffressenden Basisdemokratie18.

Hinsichtlich „furioso“ und der Idee bestimmter Nega­tion läßt Hegels Zitat von der „Furie des Verschwindens“ vor allem zwei Lesarten zu. Zum einen läßt sich das darin angesprochene „negative Tun“ auf die Arbeit des Komponisten beziehen, der mit bestimmter Negation auf die herrschenden Bedingungen des Materials und sonstige Institutionalisierungstendenzen im Bereich der Musik reagiert. Zum anderen beschwört das Zitat die romantische Auffassung der Musik als einem transitorischen Phänomen, weil jeder neu auftretende Klang den vorangegangenen verdrängt und sich das Musikwerk erst durch sein fortgesetzes Verklingen als ein Gebilde konstituiert, das in dem Moment, in dem es nach dem letzten Klang als Ganzes wahrgenommen werden kann, paradoxer Weise bereits „verschwunden“ ist. Tatsächlich war Hegel der Auffassung, daß sich Musik als eine in der Zeit stehende Kunst auf einen „negativen Punkt“ zubewegt, in welchem sie sich materialisiert und gleichzeitig in sich selbst aufhebt19. Aufgrund dieser Paradoxie galt Musik insbesondere den Romantikern Novalis und Friedrich Schlegel als Ideal des im „höheren“ Wortsinne ironischen Schreibens: „Sie ist die wahre Heimat der Ironie; denn als die im eminenten Sinne zeitliche Kunst führt sie uns die Furie des Verschwindens alles Gesagten als solches vor Augen.“20

Zugleich zeigt Spahlingers Rekurs auf Hegel, wie er von ihm speziell im Zusammenhang mit „furioso“, aber auch seinem Komponieren insgesamt bemüht wird, einen retrospektiven oder gar affirmativen Zug. Während die Musik Beethovens noch in unmittelbarer Zeitgenossenschaft mit Hegels Philosophie so etwas wie bestimmte Negation zu leisten versuchte, wagt sich Spahlinger nicht in das ungesicherte Terrain zeitgenössischer Philosophie sowie in prä-, post- oder neo-moderne ästhetische Theoriebildungen vor. Seine Fixierung auf Hegel gerät dadurch leicht in den Verdacht, unkritisch und historistisch zu sein. Seine permanente Berufung auf die in Forschung und Lehre etablierten Autoritäten Hegel und Adorno wirkt in der heute grundsätzlich gewandelten historischen Situation mehr wie der Versuch einer intellektualistischen Legitimation des eigenen Schaffens denn wie die Suche nach neuen Auswegen aus dem eingangs skizzierten Dilemma der neuen Musik, zwar nicht mehr ­innerhalb geschlossener Tradition operieren zu können, aber dennoch ständig durch die Allgegenwart des Tonalen darauf zurückverwiesen zu sein.

Material, Instrumentation, Form

In bezug auf „furioso“ sprach Spahlinger von einem Stück „Selbsttherapie“, und zwar insofern, als es ihm plötzlich gefährlich vorkam, daß er sich im Laufe der Jahre einen theoretischen Apparat angeeignet hatte, der ihm erlaubte, über eigene Arbeiten einigermaßen plausibel zu reden, aber gleichzeitig die Tendenz in sich trug, sich zu einer starren Haltung auszuwachsen. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, wollte er sich mit der Arbeit an „furioso“ gezielt in die Zwangslage versetzen, einmal etwas zu tun, was er nicht von vornherein begründen konnte21. Der Impuls, sich gegen sein bisheriges und gewissermaßen von schleichender „Institutionalisierung“ bedrohtes Komponieren und Musikdenken zu richten, ist ganz im Sinne der Idee von bestimmter Negation zu verstehen. Abgesehen von den durch die beiden Motti angesprochenen philosophisch-politischen Hintergründen empfiehlt sich „furioso“ deshalb besonders zur exemplarischen Analyse der Möglichkeiten und Schwierigkeiten bestimmter Negation in der Musik22.

Das etwa zwanzigminütige Stück besteht zu gleichen Teilen aus spieltechnischen Erweiterungen mit geräuschhaften Klangresultaten und herkömmlichen Spiel- und Klangpraktiken. Vertraute Klänge werden nicht, wie noch in Spahlingers zwanzig Jahre früher entstandenem Bläserquintett „phonophobie“ von 1972, systematisch eliminiert, sondern in direkte Relation zu unvertrauten Praktiken gestellt. Auffallend sind insbesondere Spieltechniken, bei denen Tonhöhen nur absichtslos erkennbar oder lediglich ungefähr und manchmal sogar gänzlich unbestimmt sein sollen. Den approximativen Angaben hinsichtlich der traditionellen Primäreigenschaft Tonhöhe werden äußerst präzise Notationen der sonst lediglich akzidentell behandelten, klangfärbenden Eigenschaften gegenüber gestellt: etwa die Ausdifferenzierung von Flageo­lettspiel in sechs verschiedene Grade, vier verschiedene Abstufungen erhöhten Bogendrucks, rhythmisch genaues Abdämpfen von Pizzikati, exakt ausnotierte Tremoli und bis auf Achteltöne aufgefächerte Mikrointervalle. Die traditionelle Hierarchie der Toneigenschaften wird dadurch nahezu umgekehrt.

Formal gesehen besteht das Stück aus drei eng miteinander verknüpften Teilen. Außerdem gliedert es sich in dreiundzwanzig alphabetisch numerierte Abschnitte von zumeist sehr charakteristischen Klang- und Struktur­ideen, die sich zueinander sowohl antithetisch als auch synthetisch verhalten und den Gesamtverlauf als eine Abfolge von Negationen eines Abschnitts durch Position seines bestimmten Gegensatzes in einem anderen konstituieren. Zudem können wechselseitige Verschränkungen von Abschnittsreihungen und dreiteiliger Großform (die Folge der alphabetischen Abschnitte stimmt nicht mit derjenigen der Formteile überein) insofern mit der Idee der bestimmten Negation in Verbindung gebracht werden, als sie das parataktische Prinzip und die traditionelle Dreiteiligkeit so negieren, daß die Abschnitte und Teile im übergeordneten dramatischen Gesamtverlauf des Stücks „aufgehoben“ sind und gleichzeitig in ihrer Individualität kenntlich bleiben. Tendenzen zu einer laut Spahlinger richtig angewendeten offenen Form23 zeigt der Verlauf des Stücks schließlich darin, daß sich in ihm die statische Architektur der Abschnitte und Teile mit der dynamischen Dramaturgie eines durch ständige Instrumentations- und Registerwechsel stetig sich wandelnden Klangverlaufs durchdringt.

Offenheit eignet auch der zeitlich-räumlichen Disposition des Ensembleapparats. Nach Spahlingers Vorstellung wäre es ideal, „wenn die musiker, jeder in eigenem tempo, auf podien mit rädern über die bühne gezogen würden, mit dem ersten ton in erscheinung tretend, mit dem letzten verschwindend“24. Hinter der Bühne würden die Musiker ihr Instrument gegen ein anderes ihrer Instrumentenfamilie vertauschen, schnell wieder zurücklaufen und dann mit dem neuen Instrument abermals so lange über die Bühne gezogen, wie sie dieses zu spielen haben. Freilich bleibt diese Prozedur fiktiv, weil sie technisch zu aufwendig ist und die Aufmerksamkeit vermutlich zu stark von der Musik ablenken würde. Gleichwohl aber wäre sie keine bloße Spielerei, sondern hätte eine doppelte Funktion zu erfüllen: Zum einen würde sie den in steter Veränderung begriffenen Klangverlauf visualisieren und den Hörern neben der hörbaren auch eine sichtbare Formarchitektur des Stücks bieten. Zum anderen würde die Inszenierung des Auf- und Abtretens der Instrumentalisten die gesellschaftlichen Rituale der Aufführungspraxis thematisieren. Davon abgesehen ist auch die nicht-szenische Realisation des mobilen Instrumentationsplans eine Auseinandersetzung mit Phänomenen, die eine unausgesprochen einheitsbildende Wirkung haben, wozu eben nicht nur tonale Vorzeichen gehören, die von vorneherein den harmonischen Verlauf eines ganzen Stücks bestimmen, sondern auch eine identische, ein für alle Mal den Verlauf eines Stück fixierende Instrumentalbesetzung25. Statt das Ensemble einfach als selbstverständliches Medium der Klangproduktion vorauszusetzen und damit der bewußten Wahrnehmung tendenziell zu entziehen, würden die Musiker mit ihren Instrumenten gezielt in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestellt. Außerdem hätte die visuelle Realisation der Instrumentationswechsel signalisiert, daß das Ensemble kein geschlossenes ist und am Schluß des Stücks eine ganz andere Besetzung dasitzt als am Anfang, obwohl es dieselben Musiker bleiben26.

Punktualismus als Bestimmungsfolie

Am Anfang von „furioso“ ereignen sich permanente Wechsel von Instrumentation, Lage, Spieltechnik, Artikulation und Dynamik, so daß eine Hörorientierung nach klanglichen, rhythmischen oder metrischen Ordnungszentren unmöglich ist. Es entsteht der Eindruck einer radikal atonalen, punktuellen Struktur, aus der alles herkömmlich Gestalthafte eliminiert ist. Derlei Strukturen begegnen mehrfach in „furioso“. Sie sind das Resultat eines Verfahrens, das insofern mit der Idee bestimmter Negation zu tun hat, als Spahlinger hier versucht hat, jeden Klang als Gegenteil des unmittelbar vorangegangenen oder alles bisher Erklungenen zu komponieren. Beispielsweise folgt einem hohen, lauten und langen Klang ein tiefer, leiser und kurzer. Weil der Begriff des Gegensatzes jedoch nicht absolut, sondern nur eine Frage der Kategorie beziehungsweise des Tertium comparationis ist, muß der Komponist bei einer weiteren Entgegensetzung nicht einfach wieder zum ersten Klang zurückkehren, um so immer bloß zwischen zwei gegensätzlichen Klängen hin und her zu springen, was er freilich kann und Spahlinger wiederholt getan hat. Er kann auch die Vergleichskategorie wechseln und beispielsweise einem Einzelton einen aus möglichst vielen und verschiedenen Tönen zusammengesetzten Klangkomplex folgen lassen27. Durch diese Art der Entgegensetzung wird das Aufkommen größerer Struktureinheiten vermieden und stattdessen eine punktuelle Folie geschaffen, die zur relationalen Positionierung des sonst aufgrund seiner semantischen Vieldeutigkeit kaum bestimmbaren Mate­rials dient. Vor dem punktuellen Hintergrund können nicht-punktuelle, das heißt übergeordnete Ordnungs- und Klangvorstellungen (zum Beispiel regelmäßige Pulsationen, Symmetrie- und Parallelbildungen, obligate Metren, Wiederholungen, Motivkerne, Unisoni und andere tonale Allusionen) als charakteristische Abweichungen profiliert und als Elemente des historisch überkommenen und im weitesten Sinne tonalen Sprachsystems kenntlich gemacht werden. Als solche provozieren sie inmitten des atonal-punktuellen Kontexts tonale Wahrnehmungsmechanismen, die sie zugleich negieren, weil sie tonale Hörerwartungen zwar aus- aber nicht einlösen.

Auch in Abschnitt B (Takt 72–94, vergleiche Notenbeispiel) dominieren punktuelle Aktionen. Jedoch fällt hier auf, daß charakteristische Aktionen entweder direkt hintereinander oder in unterschiedlichen Abständen mehrmals begegnen und in gleicher oder ähnlicher Reihenfolge wiederholt werden. Die Anzahl identischer Aktionen pro Stimme beträgt dabei jeweils ein Vielfaches von drei, was laut Spahlinger auf die für den böhmischen Tanz „Furiant“ charakteristische und in „furioso“ streckenweise angewandte Verschachtelung dreihebiger Metren zu­rück­­­zuführen ist28. Die Aktionsfolge ergibt sich aus einem einfachen Permutationsverfahren, bei dem durch simple Rotation (zum Beispiel bei vier verschiedenen Aktionen 1234-2341-3412-4123) stets unterschiedliche Reihenfolgen mit jeweils verschieden großen Abständen zwischen identischen Ereignissen entstehen. Der Mechanismus gleicht einem Kaleidoskop, bei welchem eine bestimmte Anzahl geometrisch und farblich charakteristischer Einzelelemente durch Drehen zu immer neuen Gestalten konfiguriert wird und trotz der ständigen Wiederkehr derselben Elemente stets neue Gebilde entstehen, die aufgrund der identischen Materialsubstanz mit dem Vorangegangenen korrespondieren: „alles ist ... variante voneinander. aber wichtig ist eben, daß das, was gestalt heißt, noch gewahrt bleibt.“29

Die Wiederholungen wirken syntaktisch und bringen gestaltähnliche Miniaturordnungen hervor, die vom Hintergrund der atomisierten Grundstruktur deutlich ab­stechen. Während diese temporären Ordnungen tonale Zentripetalkräfte entfalten, macht zugleich die ständige Wandlung des Gesamtgefüges eine verbindliche tonale Fixierung unmöglich. Aus dem wechselseitigen Verhältnis von quasi tonalen Oberflächenstrukturen und punktueller Grundstruktur resultiert ein auditives Feld, in welchem die Hörperspektive ständig zwischen Einzeleigenschaften und Gestaltzusammenhängen oszilliert, so daß tonale Dechiffrierungsversuche gleichzeitig provoziert („bestimmt“) und ad absurdum geführt („negiert“) werden. Auf diese Weise wird den Hörern Gelegenheit gegeben, sich ihre automatische Fixierung auf tonale Elemente bewußt zu machen. Außerdem läßt sich so verhindern, daß die von allem Gestalthaften gereinigte punktuelle Grundstruktur nur noch ornamental als „Tapetenmuster tönend bewegter Formen“ wahrgenommen wird, wie Adorno gegen den frühen Serialismus polemisierte30. Darüber hinaus kommt es zu der von Spahlinger des öfteren beschriebenen Dialektik von Ordnung und Unordnung: Einerseits werden die Wiederholungssegmente als periodisch geordnete Klang- beziehungsweise Rhythmusfolgen aufgefaßt und deswegen sofort mit tonalen Ordnungsvorstellungen identifiziert, während die punktuelle Struktur defizitär als Ordnungslosigkeit oder Unordnung erfahren wird. Andererseits können sie ebenso gut als unerwartete Störungen der strikt wiederholungslosen Grundfolie wirken, nachdem diese vorab als neue atonale Ordnung etabliert wurde.

Abschnitt D (Takt 116–131) basiert ebenfalls auf einem punktuellen Muster, bei dem in allen Stimmen zweitaktige Aktionsfolgen in exakt derselben Reihenfolge und Relation zueinander auftreten (Takt 121 und folgende). Obwohl diese Zweitakter insgesamt vier Mal hintereinander auftreten, erstarrt die Musik nicht in stereotypen Wiederholungen, weil unterdessen das Tempo um das Vierfache reduziert wird (von Viertel = 120 MM auf Achtel = 60  MM), was eine fortwährende Wandlung des scheinbar Identischen bewirkt. Da Pizzikatofolgen in Harfe, Viola und Violoncello „so schnell wie möglich“ gespielt werden sollen, also „absolut zum tempo“ ohne zu ritardieren, kommt es in Relation zu den übrigen verlangsamten Aktionen zusätzlich zu proportionellen Verschiebungen.

Zu Beginn von Teil IIa (Takt 184–402) wechselt der Cellist zu einem exponierten Pult direkt neben dem Dirigenten, was ein Solokonzert für Violoncello und Ensemble erwarten läßt. Verglichen mit den anderen Stimmen zeigt der Cellopart eine wesentlich höhere Ereignisdichte, ohne jedoch gängige Virtuosenpraktiken zur Schau zu stellen. Wer also meint, jetzt würden endlich doch noch die mit dem Titel geweckten Erwartungen an eine wild rasende, zupackende und hoch kapriziöse „Furien“- oder „Teufelsmusik“ von nachgerade Paganinischen Ausmaßen erfüllt, sieht sich enttäuscht. Die Vorrangstellung des Cellisten ergibt sich vielmehr aus einer eulenspiegelhaft anmutenden Konsequenz bei der Umsetzung des konzertierenden Prinzips. Das Soloinstrument wird den Orchesterinstrumenten insofern vollkommen gleichgestellt, als der Cellopart gelegentlich dieselbe Aktionsdichte zugeschrieben bekommt wie alle anderen Instrumentalparts zusammen. Das zeigt sich besonders an Stellen, an denen das sonst gleichmäßig dicht agierende Ensemble zurücktritt und den Solisten augenblicklich wie durch Schneisen hervortreten läßt. Ansonsten ist das klassische konzertierende Prinzip kaum ausgeprägt. Der zweite Teil von „furioso“ ist deshalb weniger ein Cellokonzert mit Ensemble, denn vielmehr ein Ensemblekonzert mit Cello. Das Verhältnis von Cello und Tutti gleicht demjenigen von Klavier und Orchester in Spahlingers „inter-mezzo. concertato non concertabile“ von 1986, einem Stück, das bereits im Titel die traditionelle Gattung des Instrumentalkonzerts ebenso beschwört wie verneint31.

Abschnitt H (Takt 215–240, siehe Notenbeispiel) zeigt – ähnlich wie vorige Abschnitte – inmitten einer punktuellen Grundstruktur plötzliche Wiederholungen, die, angefangen bei zwei direkt hintereinander in einem Instrument erfolgenden Klängen, nach und nach auf drei, vier und mehr Klangwiederholungen anwachsen. Gelegentlich treten verschiedene Instrumente auch zu Gruppen zusammen, die sich mit anderen Instrumentengruppen entweder nach dem Schema abab im Sinne eines Hoquetus abwechseln (Takt 224–226), symmetrisch umfassen (abba, Takt 216) oder sowohl symmetrisch als auch parataktisch zueinander verhalten (abcbca, Takt 219). Die Kombination von zwei-, drei- und vierfachen Wiederholungen findet ihr Pendant in Wechseln von zwei- und dreizeitigen Metren. Diese sind charakteristisch für den bereits erwähnten und im Werktitel anklingenden böhmischen „Furiant“ (gelegentlich auch „Furie“ genannt), dessen Alternieren von Sechsachtel- und Dreiviertel-Metrik zu hemiolischen Verschiebungen der Betonungsverhältnisse führt. Statt die Schwerpunkte der verschiedenen Metren zu synchronisieren hat sie Spahlinger so gegeneinander verschoben, daß sie sich wechselseitig neutralisieren. An die Stelle der üblichen metrischen Akzentorientierung tritt ein „virtuelles Klangfarbenspektrum“ von zwei- oder dreizeitig sich wiederholenden Instrumentationstypen32.

Anti-Durchbruch und Anti-Melodie

Wie zu Beginn des Stücks sind in Abschnitt I (Takt 241–252) singuläre Klangpunkte über den gesamten Ensembleapparat verteilt und in Tonhöhe, Spieltechnik, Aktionsort und Dynamik von Mal zu Mal so variiert, daß im Tempo von Achtel = 120 MM (bei Sechzehntel-Rhythmus also einer Impulsfrequenz von 240 pro Minute) schließlich doch noch so etwas wie ein „furios“ über alle Stimmen hinwegfegender Bewegungsduktus entsteht. Da sich die Einsatzwechsel bei dieser Geschwindigkeit kaum je ganz exakt realisieren lassen, lösen schon geringste Abweichungen vom Grundimpuls die starre Pulsation in eine „irrationale“, teils regelrecht „swingende“ Impulsfolge auf. Die positionierte Ordnung schlägt in ihr Gegenteil um. Obwohl jeder Zeit- beziehungsweise Klangpunkt die Negation des jeweils vorangegangenen ist, bleiben sie alle dialektisch miteinander vermittelt, da jeder Glied ein und desselben kontinuierlichen Verlaufs mit derselben streng gequantelten Zeiteinheit ist. Das entspricht der Dialektik bestimmter Negation und Spahlingers Idee, daß jeder Punkt „zugleich vermittelt und unmittelbar ist, also zugleich ein erstes und zusammenhang, das heißt zugleich die hauptgestalt sein kann, und alles andere ist hintergrund, wie umgekehrt den kontext abliefern kann zu allem anderen“33.

In Abschnitt K (Takt 253–269) verdichten sich die Sechzehntel-Ketten plötzlich zu einer homophonen, marsch­artigen Struktur, die augenblicklich zum Tutti anschwillt, vom Piano ins Fortissimo crescendiert und stark ritardiert. So entsteht ein expressiv gedrängter Gestus, der in der Sinfonik von Beethoven bis Mahler üblicherweise als Stauung, Abschluß oder Durchbruch kodifiziert ist (Takt 255 und folgende). Der Position dieses Traditionselements folgt seine Negation auf dem Fuße, denn statt tatsächlich zum Schluß oder zu etwas Neuem zu führen, wie es die sinfonische Tradition erwarten läßt, läuft die wuchtige Klangfolge krebsgängig in sich selbst zurück: das Tutti dünnt aus, die Stimmen diminuieren zum Piano und das Tempo zieht wieder über das Ausgangsmaß hinaus an. Auf diese Weise kommt es zur Umkehrung eines üblicherweise eben gerade nicht reversiblen Prozesses, dessen Energie ebenso plötzlich verpufft, wie sie sich zuvor aufgebaut hat. Die Stelle liefert ein gutes Beispiel dafür, wie Spahlinger mit einem traditionell symphonischen Gestus eine im weitesten Sinne tonale Erwartungshaltung weckt, um sie dann bestimmt zu negieren, indem er sie neutralisiert und in ihr Gegenteil verkehrt.

Während die Teile I und IIa vorwiegend durch diskontinuierliche Aktionen geprägt sind, besteht der Schlußteil IIb (Takt 403–475, vergleiche Notenbeispiel) fast aus­schließlich aus lang gehaltenen Bläserklängen in zumeist höchster Lage. Spahlinger verfolgt hier die Idee der bestimmten Negation dessen, was gewöhnlich unter Melodie verstanden und von Spahlinger für den „Repräsentanten alles Konservativen in der Musik“34 gehalten wird. Anstelle der traditionell melodischen Gestalteinheit von zumeist relativ wenig verschiedenen und oft wiederholten Tonhöhen mit größtenteils einfacher Rhythmik, wollte er gerade das Gegenteil komponieren, nämlich aus­schließlich verschiedene Tonhöhen mit immer anderen und zumeist sehr langen Dauern. Außerdem sollten durch Kombination unterschiedlicher Instrumente (auch Weingläser mit darin rotierenden Glaskugeln) in wechselnden Lagen, Lautstärken, Artikulations- und Dämpfungstechniken differenzierte Ein-, Misch- und Spaltklänge, Dynamik- und mikrotonale Tonhöhenmodulationen entstehen. Die teils quiekend hohen, teils – um noch einmal den Werktitel zu bemühen – „furienhaft“ kreischenden Klänge sind gedacht als „falsche“ Melodietöne. Hinzu kommt, daß die Instrumentalisten statt synchron einzusetzen oftmals zu unterschiedlichen Zeiten ihre Klänge beenden oder wechseln. Von einer einstimmigen Melodie kann also nicht die Rede sein.

Diese Anti-Melodie erinnert an eine Idee, die Spahlinger kurz zuvor in seinem Orchesterwerk „passage/pay­sage“ von 1990 realisiert hatte, nämlich „daß alle veränderungen, alle komponierten eingriffe dort anknüpfen, wo in der sache selbst sozusagen der keim des zerfalls steckt. wenn das unisono nicht ganz synchron sein kann, dann ist das der gesuchte und gefundene anlaß, das ganze auseinanderflattern zu lassen“35. Die sehr langen, hohen und extrem anstrengenden Liegeklänge führen die Instrumentalisten an die Grenzen ihrer Belastbarkeit, so daß die Klänge vor Anstrengung oder Luftknappheit zu flattern beginnen, geringfügig an Höhe verlieren oder die Musiker unvorhergesehen nach Luft schnappen müssen. Die körperlichen Bedingungen der Klangproduk­tion, die sonst in der herkömmlichen Instrumentalpraxis als stö­rend empfunden und deswegen weit möglichst zurückgedrängt werden, geraten in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Außerdem wird mit den individuellen Möglichkeiten der Musiker die Grenze des Komponierbaren ausgelotet und dem Unvorhergesehenen Raum gegeben.

Der Gesamtverlauf von „furioso“ zeigt in seinen drei Teilen eine merkliche Reduktion von heterogenen Klangpunkten und Abschnitten auf ein homogenes und kontinuierliches Klangmaterial im Schlußteil. Gleichzeitig kommt es zu einer Konzentration des Wahrnehmungsverhaltens, das in den Teilen I und IIa auf weiten Strecken durch die Fülle und Schnelligkeit sich jagender Klangpunkte geblendet, dagegen im letzten Teil IIb durch eine Reduktion der Ereignisdichte gerade für diejenigen Klangphänomene sensibilisiert wird, die normalerweise überhört oder als störend zurechtgehört werden. Parallel zum Strukturverlauf vollzieht sich so ein Wandel von extensiver zu intensiver Hörerfahrung. Indes wäre es vermutlich eine Überinterpretation, hierin eine Parallele zu der von Hegel in seiner „Phänomenologie“ beschriebenen und sowohl individualpsychologisch als auch weltgeschichtlich-politisch deutbaren Entwicklung des Bewußtseins zu höheren Selbstbewußtseinsformen zu sehen, wie es das Hegel-Motto des Stücks eventuell nahelegt. Unverkennbar aber bleibt, daß Spahlinger mit der Reduktion des Materials die Evokation eines autoreflexiven Hörverhaltens beabsichtigt.

Negation als Reflexionsleistung der Hörer

Die Beispiele aus Spahlingers „furioso“ zeigen, daß bestimmte Negation als kompositorische Strategie auf allen Ebenen des Materials und seiner Organisation ansetzen kann. Konsequent verfolgt wird sie zu eine Ästhetik im umfassenden Sinne. Sie impliziert eine Traditions- und Tonalitätskritik mit genuin rezeptionsästhetischer Ausrichtung und wendet sich – gleichsam aus „basisdemokratischer“ Opposition – gegen jedwede Form von Institutionalisierung. Indem bestimmte Negation den emanzipatorischen Idealen der Aufklärung und Avantgarde verpflichtet bleibt und gleichzeitig die Auseinandersetzung mit denjenigen überkommenen tonalen Strukturen sucht, die durch die Avantgardebewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts zu eliminieren versucht wurden und dennoch bis auf den heutigen Tag ihre rezeptionsästhetische Wirksamkeit hartnäckig behielten; indem sie derart die Fortsetzung von Avantgarde mit deren Kritik verbindet, kann sie – wie eingangs angedeutet – womöglich die Kluft zwischen atonaler neuer Musik und alten tonalen Hörgewohnheiten schließen helfen.

Spahlingers Versuch, bestimmte Negation kompositorisch umzusetzen, ist kein originär eigener und singulärer, wie die vielfältigen Überlegungen und praktischen Ansätze von Lachenmann, Nicolaus A. Huber und auch zahlreichen jüngeren Komponisten zeigen. Sehr wohl eigenständige künstlerische Leistungen sind dagegen seine Kompositionen. Besonders „furioso“ weist mit der materialen Umsetzung der Dialektik von Position und Negation eine konzeptionelle Grundidee auf, die exemplarisch für viele Werke Spahlingers ist. Die Hauptidee des Stücks ist die Negation eines Detailklangs, Segments, Abschnitts und Formteils durch konträre Positionierung jeweils bestimmter anderer Detail-, Segment-, Abschnitts- und Formordnungen. Indem konträre Strukturbildungen jedoch auf allen Ebenen negiert werden, überlagern sich die Negationsverhältnisse und entsteht aufs Ganze gesehen ein Strudel wechselseitiger Negationsverhältnisse, in welchem alles durch alles negiert scheint, so daß Negation nicht mehr als bestimmt und gezielt auf einzelne unreflektierte Konventionen gerichtet erfahren wird, sondern als unbestimmt und leer. Beispielsweise wird die Negation von Melodie im Schlußabschnitt nicht als solche kenntlich, weil auf keiner Materialebene mehr etwas von Melodie erhalten ist. Totalisierte Negation wird auf diese Weise zum Opfer ihrer unerbittlichen Eigendynamik. Sie ist damit – laut Hegel – „weder positive Tat noch Werk“, sondern „Furie des Verschwindens“.

Damit kommt die Dialektik konsequent verfolgter Negation allerdings noch nicht zum Stillstand. Vielmehr treibt sie weiter über sich hinaus auf etwas, was letztlich doch wieder „positives Werk“ genannt werden kann. Gerade aus der totalisierten Verschränkung von Positions- und Negationsverhältnissen entsteht ein Gebilde, das zwar nicht mehr im Sinne eines linearen oder organischen Prozesses zu verstehen ist, wohl aber als ein offener, entmystifizierter Werktypus, der die Bedingungen seines Zustandekommens, seiner Aufführung und Wahrnehmung in sich reflektiert. Die positive Setzung des Werks erweist sich jetzt nicht als Voraussetzung von Negation, sondern resultiert umgekehrt aus dessen konsequenter Zersetzung.

Die Vermutung, in „furioso“ ereigne sich tatsächlich ein Umschlag von Zersetzen in Setzen, wird durch Spahlingers Feststellung gestützt, daß an dieser Arbeit das Faszinierendste und zugleich Irritierendste gewesen sei, „wie der negative Ansatz in neue Setzungs-Automatismen umschlug, wie die ‘Komponiermaschine’ unwillkürlich doch wieder übergeordnete Zusammenhänge hergestellt habe“36. Wenn aber das Auseinandernehmen dessen, was – auf welcher Ebene des Klingenden auch immer – unmittelbar zusammenhängt, selbst zu neuen übergeordneten Zusammenhängen führt, dann wird fraglich, ob die Hörer die Brechung unreflektierter Zusammenhänge überhaupt registrieren und den doppelten dialektischen Umschlag nachvollziehen können, um dann zur Autoreflexion ihrer Wahrnehmungsstrukturen zu gelangen. Skepsis ist jedenfalls angebracht und legt die Vermutung nahe, die Idee bestimmter Negation könnte für den Komponisten vielleicht nur die Funktion einer regulativen Idee wie Immanuel Kants kategorischer Imperativ haben, die zu verfolgen aus Einsicht in die untilgbaren Besetzungen des Materials und die lähmende Traditionsfixiertheit des Hörens zwar notwendig ist, die aber aufgrund theoretischer und praktischer Schwierigkeiten weder einer ästhetischen Letztbegründung Stand halten noch vollständig realisiert und von den Hörern in allen ihren Stufen nachvollzogen werden kann.

Einige der genannten Einwände kann indes ein Perspektivwechsel in der Argumentation entkräften, der zugleich jedoch den kompositorischen Sinn und Zweck von bestimmter Negation in der Musik insgesamt relativiert. Wenn bestimmte Negation nicht länger als Voraussetzung eines autoreflexiven Wahrnehmungsvorgangs begriffen wird, sondern umgekehrt – worauf einiges hindeutet – als Ergebnis eines solchen Rezeptionsvorgangs, dann wird der Haupteinwand hinfällig, daß sich bestehende Konventionen wegen der Polyvalenz des Klangmaterials kaum je eindeutig bestimmen und deswegen auch nicht bestimmt negieren lassen. Weil das Klangmaterial prinzipiell vieldeutig ist und trotz intersubjektiv allgemeiner Prägungen von jedem Hörer individuell anders wahrgenommen wird, bleibt letztlich die Entscheidung über die Umsetzbarkeit bestimmter Negation an die subjektiven Instanzen der Wahrnehmung, des Denkens, Erinnerns, Fühlens und Assoziierens eines jeden einzelnen Hörers delegiert. Auch Spahlinger ist sich bewußt, daß Musik, welche durch bestimmte Negation traditioneller Material- und Satzstrukturen das autoreflexive Hörpotential zu wecken sucht, ganz wesentlich von der Erfahrung, Sensibilität und dem ästhetischen Wahrnehmungskontext der Hörer abhängig ist37. Ist bestimmte Negation aber in erster Linie eine Konstitutions- und Reflexionsleistung der Rezipienten, dann stellt sich die Frage, ob nicht auch die radikal informelle Musik des Serialismus oder eines John Cage autoreflexiv wirksam werden kann, und zwar auf eine viel einfachere und unangestrengtere Weise. Die Hörer würden hier den seriellen beziehungsweise aleatorischen, in jedem Fall gestaltlosen Klangverbindungen, sobald sie im Entferntesten an vertraute Wendungen erinnern, Gestalthaftigkeit unterstellen und sich dann aufgrund der dabei eklatant werdenden Differenz von strikt atonalen, gestaltlosen Klängen und tonalen Gestaltkategorien die eigenen Wahrnehmungs- und Deutungsmechanismen bewußt machen können.

Indes spricht nach wie vor vieles dafür, daß sich die Autoreflexion der Wahrnehmungsbedingungen am ehesten durch das Verfahren der bestimmten Negation evozieren läßt, weil diese mit der modellhaften Reflexion der Bedingungen des Materials die Hörer gezielter zur Reflexion der Bedingungen ihres eigenen Hörverhaltens einlädt und es nicht ihrem Gutdünken anheimstellt, sich zum Beispiel auch unreflektiert, pseudotonal oder meditativ zu verhalten. Bestehen bleibt allerdings die relativierende Einschränkung, daß ein Komponist noch so sehr das Ideal der Übereinstimmung von materialkritisch reflektierendem Komponieren und Hören intendieren kann, daß aber letztlich allein die Hörer (wer immer diese sein mögen) mit ihren je individuellen Wahrnehmungsweisen (wie immer diese beschaffen sind) über Art und Weise des Zugangs zu und den Grad der Selbst­reflexion im Umgang mit Musik entscheiden. Wie jede Musik kann letztlich auch die der bestimmten Negation nur ein Angebot sein, dessen Sinn sich bloß in dem Maße erfüllt, in dem es von den Hörern angenommen und dazu genutzt wird, sich von überkommenen Bestimmungen zu befreien und – wie Novalis sagt –- selbst zu überspringen, um sich anders zu bestimmen und neu zu entwerfen.

1Novalis, Fragmente vermischten Inhalts, in: Derselbe, Werke in zwei Bänden Band 2, herausgegeben von Rolf Tomann, Köln: Könemann, 1996, Fragment 271, 228.

2Theodor W. Adorno, Über Tradition, in: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1967, 38.

3Mathias Spahlinger, vorläufiges zu theodor w. adornos musik, in: Theodor W. Adorno. Der Komponist (= Musik-Konzepte Band 63/64), herausgeben von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München: edition text + kritik, 1989, 27.

4Vergleiche: Geschichte der Musik als Gegenwart. Hans Heinrich Eggebrecht und Mathias Spahlinger im Gespräch, Musik-Konzepte Sonderband, herausgegeben von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München: edition text + kritik, 2000, 20.

5Mathias Spahlinger, gegen die postmoderne mode. zwölf charakteristika der musik des 20. jahrhunderts, in: MusikTexte 27, Köln 1989, 3.

6Mathias Spahlinger, wirklichkeit des bewußtseins und wirklichkeit für das bewußtsein. politische aspekte der musik, in: MusikTexte 39, Köln 1991, 41.

7Vergleiche: Albrecht Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985, unter anderen 48.

8Vergleiche dazu jüngst: Frank Hilberg, Dialektisches Komponieren, in: Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert: 1975–2000 (= Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert Band 4), herausgegeben. von Helga de la Motte-Haber, Laaber: Laaber, 2000, 171–206.

9Vergleiche: Theodor W. Adorno, Das Altern der Neuen Musik, in: Derselbe, Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1956, 127.

10Vergleiche: Peter Niklas Wilson, Komponieren als Zersetzen von Ordnung. Der Komponist Mathias Spahlinger, in: Neue Zeitschrift für Musik, April 1988, 20.

11Wolfgang Welsch, Ästhetik und Anästhetik, in: Derselbe, Ästhetisches Denken, Stuttgart: Reclam, 1990, 34

12Vergleiche: Wolfgang Welsch, Zur Aktualität Ästhetischen Denkens, in: ebenda, 48.

13Die Textstelle ist nachweisbar in Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes (= Werke Band 3), herausgegeben von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986, 435–436.

14Vergleiche: ebenda, 362 und folgende Seiten.

15Spahlinger im Gespräch mit dem Verfasser vom 19. Juni 2000.

16Ebenda.

17Die Textstelle ist nachweisbar in Georg Büchner, Dantons Tod, Stuttgart: Reclam, 1988, 12.

18Spahlinger im Gespräch mit dem Verfasser vom 19. Juni 2000.

19Vergleiche: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I (= Werke Bandd. 13), herausgegeben von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986, 121–122.

20Manfred Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989, 369.

21Spahlinger im Gespräch mit dem Verfasser vom 19. Juni 2000.

22Eine umfassendere Erörterung des Komplexes findet sich bei: Rainer Nonnenmann, „Furie des Verschwindens“. Über Möglichkeiten und Schwierigkeiten bestimmter Negation in der Musik anhand von Mathias Spahlingers „furioso“ (1991/92), in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz, herausgegeben von Günther Wagner, Stuttgart: Metzler, 2001, 136–188.

23Vergleiche: Mathias Spahlinger, gegen die postmoderne mode, am angegebenen Ort, 5.

24Mathias Spahlinger, furioso für Ensemble, Studienpartitur, Partitur-Bibliothek 5415, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 1996.

25Spahlinger im Gespräch mit dem Verfasser vom 19. Juni 2000.

26Ebenda.

27Ebenda.

28Ebenda.

29Spahlinger, gegen die postmoderne, am angegebenen Ort, 6.

30Adorno, Das Altern, am angegebenen Ort, 132.

31Vergleiche: Peter Niklas Wilson, Mathias Spahlinger. inter-mezzo, Beiheft zur CD WER 6513-2, 14.

32Spahlinger im Gespräch mit dem Verfasser vom 19. Juni 2000. Die Suspension der Betonungsmetrik wurde von Peter Niklas Wilson als rhythmisches „Symbol des radikalnegativen Ansatzes“ gedeutet. Vergleiche: Wilson, Mathias Spahlinger. furioso (1991) für Ensemble, in: Dokumenta­tion Wittener Tage für neue Kammermusik 1992, Beiheft zur CD WD 03, 9.

33Spahlinger, gegen die postmoderne mode, am angegebenen Ort, 4.

34Spahlinger im Gespräch mit dem Verfasser vom 19. Juni 2000.

35„alles aus allem entwickeln“. mathias spahlinger im gespräch über „passage/paysage“ für großes orchester mit Reinhard Oehlschlägel, in: MusikTexte 39, Köln 1991, 28.

36Zitiert nach: Wilson, furioso, am angegebenen Ort, 11.

37Vergleiche: Spahlinger, vorläufiges, am angegebenen Ort, 31.