MusikTexte 102 – August 2004, 15–21

Wanderer, kommst du nach ...?

Zur Aufführungspraxis der Werke Luigi Nonos bei der MusikTriennale Köln 2004

von Rainer Nonnenmann

Vom 17. April bis zum 9. Mai bot die MusikTriennale Köln 2004 neben den etwas vagen Veranstaltungsreihen „Kontinent Klang“, „Immer jetzt“ und „Folklore Imagi-naire“ mit der „Omaggio a Luigi Nono“, die ein Drittel aller hundertdreißig Veranstaltungen einnahm, die weltweit umfassendste Präsentation der Musik des Venezianers, der dieses Jahr achtzig Jahre alt geworden wäre. Neben Konzerten, Gesprächen, Vorträgen, Filmen, Ausstellungen waren Nono mehrere Schulprojekte und Workshops sowie zahlreiche Konzerte gewidmet, bei denen seine Musik in den Kontext von Werken seiner Vorgänger, Lehrer, Zeitgenossen, Schüler und Nachfolger gestellt wurde. Zu hören waren von Nono Stücke aus allen Schaffensphasen, von der Uraufführung der „Due liriche greche“ von 1948/49 über die großen Chorwerke der fünfziger Jahre, die Tonbandkompositionen und politisch engagierten Werke der sechziger und siebziger Jahre bis hin zu den live-elektronischen Werken der achtziger Jahre, dem zwischen 1981 und 1984 entstandenen „Prometeo“ und den letzten zwischen 1986 und 1989 vollendeten Werken des „Caminantes“-Zyklus.

Nicht der schlechteste Nebeneffekt dieser großen Werkschau war es, über tagesaktuelle, technische und personelle Detailfragen hinaus einmal grundsätzliche aufführungspraktische Probleme aufgeworfen zu haben, die mit diesem Œuvre verbunden sind. Durch die Einbeziehung der sonst als sekundär eingestuften Variablen Raum und Interpretation als primäre Struktureigenschaften kommt es bei vielen Kompositionen Nonos zu einer dynamischen Verflüssigung des sonst durch Fixiertheit und Abgeschlossenheit definierten Werkbegriffs. Die sich daraus ergebenden Möglichkeiten sind noch lange nicht ausgeschöpft und machen nach wie vor die Aktualität dieser Musik aus. Zugleich bergen sie zahlreiche Schwierigkeiten und führen zu der absurden Situation, daß Stücke des 1990 verstorbenen Komponisten heute schon ähnliche Interpretationsprobleme bereiten wie Musik von Monteverdi, Bach, Händel und Mozart. Da viele Details zur Gestaltung von Klang und Raum nur unzulänglich notierbar sind, manches vom Komponisten erst gar nicht zu fixieren versucht wurde, sind die Interpreten gezwungen, wie bei der historischen Aufführungs­praxis alter Musik die Kategorien und Modalitäten zu rekonstruieren, die Nono bei der Aufführung seiner Musik noch selbst praktizierte.

Klang-Raum-Zeit-Gefüge

Einen deutlichen Schwerpunkt innerhalb der Kölner „Omaggio“ bildeten Nonos Werke aus den achtziger Jahren, die zunehmend Konzeptcharakter annahmen und nur zu Teilen wiedergeben, was und – vor allem – wie etwas auszuführen ist. Dasselbe gilt für einige Werke seit „La fab­brica illuminata“ von 1964, die auf der Grundlage umfangreicher Experimente mit Interpreten entstanden oder, wie im Fall von „A floresta è jovem e cheja de vida“ von 1966, statt Berufsmusiker Schauspieler und theatralische Elemente einbezogen, um neue, unvorhergesehene Ausdrucksformen zu provozieren. Nono entwickelte viele seiner Stücke in enger Zusammenarbeit mit Instrumentalisten, Vokalisten, Sprechern, Klangtechnikern und notierte daher in einigen Partituren anstelle der Besetzungsangabe die Namen der Interpreten, von denen er sich maßgeblich beeinflussen ließ.

Aus der Personenbezogenheit seiner Stücke entstehen zahlreiche Schwierigkeiten, da Nono viele Details nur skizzierte und auch später auf eine exakte schriftliche Fixierung verzichtete. Der Zirkel der Interpreten, die noch gemeinsam mit Nono die Werke erarbeitet und aufgeführt haben, wird immer enger, und aufführungspraktische Erfahrungen drohen verloren zu gehen. Zudem hat Nono stets kreative Musiker gefordert, die im Sinne seiner Musik in der Lage waren, selbständig Entscheidungen zu treffen, wenn es die Rahmenbedingungen einer Aufführung erforderten. Eine Interpretation, die sich pein­lich genau an seine schriftlich oder mündlich tradierten Anweisungen hält, trägt daher dasselbe Gefahr, richtig oder falsch zu sein, wie eine, die über die autorisierten Hinweise hinaus auf die veränderten Verhältnisse einer Aufführung adäquat zu reagieren sucht. Die Beurteilung der Interpretationen wird zusätzlich dadurch erschwert, daß sich Aufführungen von Musikern, die noch mit Nono zusammengearbeitet haben, weitgehend der Kri­tik entziehen, weil diese als echte oder vermeintliche Erbwalter über ein exklusives Wissen verfügen, das von Außenstehenden zuweilen nur schwer überprüft werden kann.

Als Schwierigkeit kommt hinzu, daß Nono viele Werke im Hinblick auf die Räume ihrer Uraufführung komponierte. Aus der Konzeption seiner Musik in Abhängigkeit von den dispositionellen und akustischen Möglichkeiten bestimmter Räume folgt die Notwendigkeit, sie bei Aufführungen in anderen Räumen den dortigen Verhältnissen anzupassen. Ist der spezielle Raum aber integraler Bestandteil der Konzeption eines Werks, so ist jede Adaption für einen anderen Raum ein Eingriff in seine Substanz. Man steht also vor der Alternative, entweder dem notierten Text die Treue zu halten und unter veränderten Raumverhältnissen möglicherweise die intendierte Wirkung der Musik zu verfehlen, oder der vom Komponisten intendierten Wirkung zu folgen und eventuell in Widerspruch zu den textlich verbürgten Aufführungshinweisen zu geraten. Diese Entscheidung ist riskant und wäre nur vermeidbar, wenn man sich darauf beschränkte, Nonos Werke ausschließlich dort aufzuführen, wo er sie selbst erarbeitet, aufgeführt und auf Grund seiner Hörerfahrungen überarbeitet hat. Ein solcher Purismus – eine Art Bayreuth für Luigi Nono – wäre jedoch weder mit den Anforderungen des Musikbetriebs noch mit den Auffassungen des Komponisten vereinbar. Gerade in späteren Jahren betonte Nono stets das auratische Hier und Jetzt von Musik, indem er darauf beharrte, daß sich jedes Ereignis in einer charakteristischen Raum-Zeit-Konstella­tion bewegt und nicht eins zu eins von einem Ort auf einen anderen übertragen werden kann. Ändert sich der Raum, ändert sich auch der Charakter des Klangs; ändert sich der Klang, wird auch der Raum anders erfahren. Klangraum und Klänge im Raum bilden eine Einheit.

Besonders kompliziert wird es da, wo Nono über die realen Raumverhältnisse hinausgeht und mit Hilfe der Live-Elektronik neue, irreale, äußerst variable und bewegliche Klangräume schafft. Im Rekurs auf Robert Musils Vorstellung eines „Möglichkeitssinns“ sprach sich Nono gegen den herkömmlichen Konzertsaal aus, weil dieser nur eine einzige Möglichkeit darstellt, während es ihm um „unendliche Möglichkeiten“ beziehungsweise „mögliche Unendlichkeiten“ ging, wie es im Untertitel von „A Carlo Scarpa, architetto, ai suoi infiniti possibili“ für Orchester mit Mikrointervallen von 1984 heißt. Die Live-Elektronik wurde für Nono zum wichtigen Hilfsmittel, Beschränkungen eines wirklichen Raums zu überschreiten und unendlich viele mögliche Räume zu schaffen. Raum wird zum Instrument und als solcher nicht nur bespielt, sondern selbst gespielt.

Ähnliches gilt vom Klang. Statt auf klare, distinkte Töne zielte Nono in späteren Jahren verstärkt auf unsichere, changierende, brüchige Klänge, die ihr eigenes Leben entfalten. Mit der Live-Elektronik erschließt er klangliche Mikrostrukturen, stellt Nebengeräusche heraus, läßt Vokal- und Instrumentalklänge im Raum wandern, transformiert sie zu unwirklichen Chören und Orchestern. Zudem schreibt er Aufführungsanweisungen wie „irregolare“, „aperiodico“ oder „arco mobile“ vor, wo die Streicher den Bogen nicht gewöhnlich auf- und abstreichen, sondern kreisförmig über die Saiten führen sollen. Hinter allem steht die Idee des „suono mobile“, des beweglichen, wandernden Klangs, dessen Offenheit, Freiheit und reiches Entwicklungspotential Nono als anthropologische Grundkonstanten sowie gesellschaftliches, intellektuelles und emotionales Ideal verstand.

Wie die Klänge erzeugt, elektronisch verändert und im Raum projiziert werden, wurde von Nono vielfach nur annäherungsweise notiert. Seine Partituren geben lediglich mehr oder minder klare Aufführungsanweisungen und sind nicht mit den Werken selbst zu verwechseln. Insbesondere seine späteren Kompositionen unterwandern mit der Integration der wandelbaren Faktoren Zeit, Raum, Interpret und Aufführungssitua­tion den traditionellen Werkbegriff und öffnen sich verschiedenen Lesarten und Interpretationsweisen. Insofern Interpreten noch in einem direkten Überlieferungszusammenhang mit Nonos Erfahrungen und Vorstellungen stehen, setzen sie diese gemäß traditioneller Aufführungspraxis fort. Ansonsten sind sie auf Verfahren der historisch-rekonstuktiven oder aktualisierenden Aufführungspraxis verwiesen, die sich im Bemühen um Werktreue nur graduell hinsichtlich der Gewichtung von textkritischer Rekonstruk­tion und künstlerischer Intuition unterscheiden: Der historisch-rekonstruktive Ansatz zielt auf möglichst genaue Umsetzung des in den Partituren lückenhaft fixierten Textsinns, wozu eingehendes Studium von Primärquellen, Skizzen, Aufnahmen, Zeugenberichten nötig ist. Der aktualisierende Ansatz dagegen versucht auf der Grundlage derselben Quellen den intendierten Wirkungssinn der Partituren zu erschließen, wozu die schriftlich fixierten aufführungspraktischen Hinweise nicht verabsolutiert, sondern im Gegenteil gerade relativiert werden, da sie volle Gültigkeit nur für die spezielle Aufführungssituation haben, für die sie der Komponist noch selbst vorgesehen hatte, während sie bei anderen Aufführungen den veränderten räumlichen, akustischen und personellen Gegebenheiten anzupassen sind.

Der frühe Nono

Gelungene Wiedergaben von Nonos Musik setzen nicht zwangsläufig Interpreten voraus, die noch zu Lebzeiten von ihm in sein Werk „eingeweiht“ wurden. Einen Beweis dafür lieferte im Rahmen der MusikTriennale die Wiedergabe der ungekürzten Urfassung von „Polifonia – Monodia – Ritmica“ von 1951 durch vier Schlagzeuger und fünf Bläser des Gürzenich-Orchesters Köln unter der Leitung von Markus Stenz. Freilich birgt dieses punktuelle Frühwerk kaum grundsätzliche aufführungspraktische Schwierigkeiten. Als prominentes Beispiel für die Webern-Nachfolge der jungen Komponisten nach dem Zwei­ten Weltkrieg steht dieses Opus zwei bekannten Interpretationszugängen zur Musik dieser Zeit offen. Indes bestand die interpretatorische Aufgabe nicht in der Wiedergabe eines historischen Idioms, sondern darin, hinter der allgemein stilistischen Prägung den individuellen Charakter des Werks und von Nonos Musik insgesamt kenntlich zu machen, indem die verschiedenen motivischen Zellen, Rhythmen und Bläserkantilenen inmitten der zwölftönigen Gesamtorganisation herausgearbeitet und damit der gesangliche, vielleicht spezifisch venezianische Tonfall erzielt wird, der Nonos Musik von Anfang an von den Werken seiner gleichaltrigen Kollegen Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen so auffallend unterschied. Herauszuarbeiten waren auch die permanenten Instrumentationswechsel, die formal wirksame Klangdisposi­tion und die drei grundlegenden musikalischen Gestaltungsmittel Kanonik, Melodik, Rhythmik. Bei so strengen Partituren wie Nonos dodekaphonem Frühwerk, das Hermann Scherchen als zu „cerebral“ empfand und deswegen für die Uraufführung fast um die Hälfte kürzte, ist das wichtigste Interpretationskriterium größtmögliche Präzision, die sich als strukturelle Klarheit, expressive Intensität und Schönheit mitteilt. Wird dieses erfüllt, so entfaltet auch fünfzig Jahre später noch jeder einzelne Klang dieser Musik weit mehr Intensität und Sinnlichkeit als die einfallslos instrumentierte halbstündige Ballettmusik „Ecstatic orange“ aus dem Jahr 1985 des US-amerikanischen Minimalisten Michael Torke, die mit ihren unentwegten Pulsationen und Synkopen einen unglücklichen Abschluß des Konzerts und der gesamten MusikTriennale bildete.

Formal wirksam ist die Instrumenta­tion auch schon in Nonos zwei Jahre früher fertiggestelltem Jugendwerk „Due liriche greche“, das vom SWR Vokalensemble Stuttgart und dem Ensemble Modern unter der Leitung von Reinbert de Leeuw im Großen Sendesaal des WDR Köln posthum uraufgeführt wurde. Direkte Vorbilder findet das Stück in den in den Kriegsjahren 1941 bis 1945 komponierten „Liriche greche“ von Luigi Dallapiccola und den „Tre liriche greche“ aus dem Jahr 1948 von Bruno Maderna. Vor allem die ungewöhnliche Besetzung von Madernas Stück mit zwei Flöten, zwei Klarinetten, Baßklarinette, sechs Schlagzeugern, Chor und Sopran-Solo scheint nachhaltigen Eindruck auf seinen damaligen Komposi­tionsschüler gemacht zu haben, der sich für zwei Flöten, zwei Saxophone, sechs Schlagzeuger, Chor und Bratsche entschied. Beginnend mit einem ruhigen Bratschensolo verbindet das Stück nacheinander Chor mit Blasinstrumenten und Chor mit Schlagzeug, um schließlich mit einer reinen Schlagzeugpassage zu enden. Es zeigt bereits die frühe Vorliebe des Venezianers für das klanglich-semantische Komplementärverhältnis von vokalischen Singstimmen und konsonantischen Schlagzeugklängen, das fast alle seine Vokalkompositionen durchzieht. Indes wirkt die instrumentale Disposition dieser Studienarbeit noch schematisch und im Vergleich mit den Vorbildern deutlich schwächer, was erklärt, warum Nono das Stück zu Lebzeiten nicht für eine Aufführung vorgesehen hat. Gelegenheiten dazu hätte er zweifellos gefunden.

Interpretationsschwierigkeiten gibt es zuweilen selbst da, wo man sie am allerwenigsten vermuten würde, etwa bei Tonbandmusik, wo die originale Erscheinungsweise der Werke eigentlich garantiert sein sollte, weil sie bloß eine technische Wiedergabe und keine Interpretation erfordert. Stattdessen stellt sich das Problem, daß bei vierzig Jahre und älteren Bändern die entsprechenden Wiedergabegeräte oft nicht mehr vorhanden oder funktionsfähig sind oder die Bänder sich entmagnetisieren und zu rauschen beginnen. Werden ältere Tonbänder aber digitalisiert, so hat man es mit neuen Speicher- und Reproduktionsmedien zu tun, die nicht ohne Einfluß auf das originale Klangbild bleiben. Etwas davon zu hören war auch bei der Wiedergabe von Nonos Tonbandkompositionen „Ommagio a Emilio Vedova“ von 1960, „Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz“ von 1966, „La fabbrica illuminata“ von 1964 mit Susanne Otto, „Für Paul Dessau“ von 1974 und dem „Musica-manifesto n. 1“ von 1968/69.

Der späte Nono

Zentraler Ort für Konzerte mit Werken Nonos war während der MusikTriennale die Kunst-Station Sankt Peter, die seit nunmehr achtzehn Jahren zeitgenössische Bildende Kunst und neue Musik präsentiert. Bei Umbau- und Renovierungsmaßnahmen wurde in den letzten Jahren viel in die akustische Optimierung der romanischen Kirche investiert, und dies mit großem Erfolg, wie das zahlreiche Publikum bei mehreren Konzerten mit elektronischen und live-elektronischen Werken Nonos erleben konnte.

Den Auftakt machten das ensemble recherche und die drei Solistinnen Susanne Otto, Noa Frenkel und Sonja Turchetta unter der Leitung von André Richard mit dem 1983 entstandenen Stück „Guai ai gelidi mostri“. Die Gewalt, Einengung und Unfreiheit, die von Staat und Gesellschaft – den im Titel nach Massimo Cacciaris Textcollage angesprochenen „eiskalten Ungeheuern“ – ausgehen, finden eine musikalische Entsprechung in der konträren Klangdisposition. Das Stück kennt nur Extreme, sehr hohe und tiefe beziehungsweise sehr laute und leise Ereignisse, für welche die Instrumentalisten mehrmals zwischen Pikkoloflöte, Pikkoloklarinette, Posaune und Baßflöte, Baßklarinette und Tuba wechseln. Mit Hilfe der Live-Elektronik wird in den Mikrokosmos der Klänge eingedrungen und zugleich der einzelne Klang über zahlreiche Lautsprecher im Raum zum tönenden Makrokosmos vollstimmiger Chöre geweitet. Durch abrupte Wechsel von sanften Crescendo-Decrescendo-Bögen mit schrillen, schneidend hohen Ausbrüchen entsteht eine spannungsvolle Situation, bei der ein Zustand jeder Zeit in sein Gegenteil umschlagen kann. Unklar bleibt jedoch, ob die mas­siven Einbrüche stellvertretend für die Repression durch „das kälteste aller kalten Ungeheuer“, den Staat, stehen, oder ob sie gerade umgekehrt lautstarke Einsprüche gegen dessen Macht und Kälte artikulieren. Ähnliche Ambivalenzen hatte schon früher Nicolaus A. Huber kon­statiert, als er die doppeldeutige Verwendung des Fortissimo in Nonos „A floresta è jovem e cheja de vida“ von 1966 als Ausdruck imperialistischer Brutalität und zugleich als revolutionären Einspruch der Unterdrückten deu­tete, worüber er und sein Lehrer sich 1968 überwarfen.

Damit die Einbrüche in „Guai ai gelidi mostri“ auch tatsächlich als unmittelbar physische Angriffe empfunden werden – ob auf den einzelnen Hörer oder das eiskalte Monster –, empfiehlt sich eine elektronische Verstärkung bis an die Schmerzgrenze. André Richard jedoch ist dafür bekannt, die von Nono ausdrücklich geforderten Extremwerte zu glätten. Seine Klangregie neigt zur Kantenlosigkeit und kommt meditativen Hörhaltungen und einer sakralen Aura entgegen, zumal wenn es sich um eine Aufführung in einer Kirche handelt. Indes entstand das Stück im Umfeld des „Prometeo“, für dessen Uraufführung Nono bekanntlich selbst eine Kirche gewählt hatte.

Weniger grundsätzlich ästhetische als vielmehr handfest praktische Probleme zeigten sich beim Konzert des Ensemble Modern Orchestra unter der Leitung von Heinz Holliger in der Kölner Philharmonie. Die Aufführung von „A Carlo Scarpa, architetto, ai suoi infiniti possibili“ für Orchester mit Mikrointervallen litt unter falschen Einsätzen, unpräzisen Tuttiakzenten, ungenügend ausgehörten Mikrointervallen. Der Schweizer wird von den Musikern sonst durchaus als strenger, genauer Arbeiter geschätzt, hatte diesmal jedoch mit dem Orchester Verständigungsschwierigkeiten und erzielte mit seiner Detailversessenheit statt Präzision lediglich Kurzatmigkeit im Verlauf. Auch mit „Il canto sospeso“ von 1955/56 und der Unterstützung durch das hervorragende SWR Vokalensemble Stuttgart sowie dem aus den übrigen Solisten herausragenden Tenor Peter Hoare vermochten Holliger und das durch zahlreiche Nachwuchs-Aushilfen zum Orchester ergänzte Ensemble Modern nicht zu überzeugen. Die Ergriffenheit und Begeisterung des Publikums bei der Kölner Uraufführung 1956 blieb aus. Besser gelangen Nonos „Composizione per orchestra no. 1“ von 1951 und Igor Strawinskys spätes „Requiem Canticles“ von 1965/66, das indes Ratlosigkeit über die Programmzusammenstellung hinterließ. Ensemble Modern und Ensemble Modern Orchestra waren im Rahmen der MusikTriennale mit zu vielen Aufgaben befaßt, als daß sie alle zur vollen Zufriedenheit hätten lösen können. Allein der „Prometeo“ erforderte eine Woche Probenzeit und neben dem Konzert in der Philharmonie waren noch zwei weitere anspruchsvolle Konzertprogramme mit Reinbert de Leeuw einzustudieren, bei denen das Ensemble Modern jedoch weitgehend ohne Aushilfen auskam und sich wie sonst auf höchstem musikalischem Niveau präsentierte.

Erfahrungen aus der praktischen Zusammenarbeit mit Nono sind für die Aufführung seiner späteren Werke zweifellos wichtig, weil sie den Interpreten technische Hinweise an die Hand geben und insbesondere das Ethos für ein Höchstmaß an Sensibilität und Verantwortlichkeit für minuziöse klangliche Differenzierungen vermitteln. Einen Beleg dafür gab das 1998 gegründete deutsch-holländische Ensemble S mit wenig differenzierten, spannungslosen Aufführungen von „Post-prae-ludium n. 1 per Donau“ für Tuba und Live-Elektronik von 1987 und „Risonanze erranti“ für Altstimme, Baßflöte, Tuba, fünf Perkussionisten und Live-Elektronik von 1986. Die Idee, das Tuba-Solo als Schlußglied in eine nahtlose Programmfolge mit teilweisen Simultanaufführungen von Teilen aus György Ligetis „Síppal, dobbal, nádihegedüvel“ (2000), John Cages „Open Cages, a closed Circus on Silence“ (1979), Kurt Schwitters „Sonate in Urlauten“ (1922/32) und Massimo Marianis „604“ für Schlagzeugtrio und Achtkanal-Tonband (2003) zu integrieren, wirkte aktionistisch und war nicht dazu angetan, die Konzentration der Musiker und Hörer auf das vielgestaltige Innere der Klänge von Nonos Spätwerken zu lenken. Geeigneter erwies sich dieser Ansatz für einen Response-Workshop mit über sechzig vier- bis sechsjährigen Kindern zweier Kölner Grundschulen, bei dem Mitglieder des Ensembles auf der Grundlage einfacher Prinzipien wie Vor- und Nachmachen, Mit- und Gegeneinanderspielen, et cetera, kleine Kompositionen kreierten und bei einem Kinderkonzert im Wechsel mit Teilen des Hauptprogramms aufführten.

Kaum ein Werk Nonos hat die Musikwelt so erstaunt und polarisiert, wie das Streichquartett „Fragmente – Stille, An Diotima“ von 1979/80. Dementsprechend weit gehen auch die Auffassungen über seine Interpretation auseinander. Nach wie vor als Referenz gehandelt wird die Einspielung des LaSalle-Quartetts, vermutlich nicht zuletzt, weil Nono das Stück für diese Formation geschrieben, mit ihr einstudiert und uraufgeführt hat. Das Arditti-Quartet hingegen trifft schnell der Vorwurf oberflächlicher Virtuosität und Brillanz sowie mangelnder „Tiefe“. Dabei entfalten die Perfektion und sagenhaft beherrschte Bogenführung dieser Musiker eine ganz eigene Intensität und Faszination. Im WDR-Nachtkonzert führ­­te die Formation das lange Morendo des Schlußklangs makellos und ohne jedes Zittern vollkommen gleichmäßig bis an die Schwelle, an der keine Bewegung der Bögen mehr zu sehen und nur gerade eben noch ein leiser klarer Klang im Raum zu hören ist, was die zentrale Idee eines Kontinuums von Klang und Stille idealtypisch auf den Punkt brachte. Die Aufnahme des LaSalle-Quartetts weist diesbezüglich Schwächen auf und bleibt hinter der Artistik des Arditti-Quartetts zurück. Allerdings überwiegt der Eindruck eines gelungenen Konzerts prinzipiell jede noch so perfekte Aufnahme, so daß ein Vergleich beider Medien letztlich kaum möglich ist.

Ein Manko der jüngsten Interpretation des Arditti-Quartetts war jedoch die mangelnde Sensibilität für die „schweigenden ,Gesänge‘“. Daß die Musiker mit den stumm zu lesenden Hölderlin-Versen wenig anfangen konnten, hatte seinen Grund zum Teil womöglich in sprachlichen Verständnisschwierigkeiten, was aber nicht erklärt, warum die vielen Fermaten nur wie Stillstand und Pausen klangen, nicht aber wie konzentrierte Haltepunkte zum Nach- und Vorspüren der gewesenen und bevorstehenden Klänge. Auch daß Irvine Arditti nach etwa zehn Minuten einen Blick auf seine Armbanduhr warf, zeugte nicht eben von besonderer Versenkung in Nonos Musik und Hölderlins Verse.

Musik als soziale Plastik

Einer der Höhepunkte des Nono-Festivals war die deutsche Erstaufführung des kompletten Zyklus der drei sehr verschieden besetzten „Caminantes“-Werke in der Kölner Philharmonie durch das Sinfonieorchester des Westdeutschen Rundfunks Köln unter der sehr präzisen Leitung von Emilio Pomàrico. Für „No hay caminos, hay que caminar … Andrej Tarkowskij“ für sieben Orchestergruppen von 1987 erwies sich die Akustik des Saals jedoch als zu trocken, da die Klänge sofort verschwanden statt langsam zu verhallen und Übergänge zwischen den scharfen Akzenten und leisen Flageoletts und Liegeklängen zu schaffen. Die Erfahrung der Tiefe und Stille des Raums kam daher zu kurz.

Das zweite Stück „,Hay que caminar‘ sognando“ für zwei Violinen, Nonos 1989 entstandene letzte vollendete Komposi­tion, dauert fast eine halbe Stunde und ist von langen Generalpausen und Fermaten durchzogen. Es soll an acht verschiedenen Stellen im Raum gespielt werden und durch Wechsel der Geiger von einem Notenständer zum anderen die Idee der Bewegung und des Wanderns sinnfällig machen. Idealerweise wechseln die Musiker während des Spiels ihre Positionen, was Nono zwar nicht eigens forderte, sich aber dringend empfiehlt, da das ohnehin zerbrechliche Stück durch Umstellungspausen end­gültig zu zerfallen drohte. Irvine Arditti und Graeme Jennings wählten kurze Wege, um die Pausen für Posi­tionswechsel gering zu halten. Im großen Konzertsaal jedoch bewirkte dies weder die gewünschten klanglichen Unterschiede noch konnte es den befürchteten Spannungsverlust vermeiden. Teile des Publikums begannen dementsprechend beim ersten Positionswechsel zu applaudieren. Auch sonst war die Aufführung von Konzentrationsschwächen geprägt. Irvine Arditti begann an einer falschen Position, mußte abbrechen und an anderer Stelle im Raum neu beginnen. Auch dem Publikum man­gelte es an der nötigen Aufmerksamkeit für die immer wieder stagnierende, sehr reduzierte, in ihrem Minimalismus aber stets detailreiche und differenzierte Musik.

Trotz aller Mißlichkeiten, Huster und Störgeräusche gelang es den beiden Solisten schließlich doch, einen Spannungsbogen aufzubauen und das Publikum so weit in Bann zu ziehen, daß zumindest vorübergehend kein Laut mehr zu hören war. Die Zerbrechlichkeit der Musik machte deutlich, daß jeder Hörer persönlich dafür verantwortlich ist, ob sie gelingt, indem er sich auf sie einläßt, oder ob sie scheitert und von Störgeräuschen zerrissen wird. Insofern handelt es sich auch hier um eine „Tragödie des Hörens“, in deren Zentrum die Wahrnehmung jedes Einzelnen steht und die Möglichkeit aller, zusammen ein kollektives Ereignis von Stille und Konzentration zu erleben. Wie die Kunst von Josef Beuys wird Nonos späte, scheinbar entpolitisierte Musik zu einer sozialen Plastik, die im Appell an die persönliche Verantwortung des Einzelnen für sich und andere ihre implizit politische Botschaft gewinnt.

Das dritte und 1986/87 als erstes entstandene Stück „Caminantes … Ayacucho“ bietet im Gegensatz zum kargen Geigenduo ein großes Gepränge an Glocken, Blechbläsern, Pauken, Trompeten, Orgel, mehreren Orchestergruppen, zwei Chören, Solisten, hauchigen Bambusflötenklängen und Stimmen aus höchster Höhe inklusive live-elektronischer Transformation und Bewegung der Klänge im Raum. Die Zusammensetzung der Mittel beschwört unverkennbar, fast plakativ eine sakrale Aura. Als Interpreten traten einstige Weggefährten Nonos in Erscheinung: die Mezzosopranistin Susanne Otto, der Flötist Robert Fabbriciani, der Solistenchor Freiburg und am Mischpult abermals André Richard, der seit 1989 als Nachfolger von Hans Peter Haller das Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des SWR in Freiburg leitet, in dem Nono seit 1981 alle seine Stücke mit Live-Elektronik realisiert hat. Vermutlich wegen der Befürchtung, das Volumen des Saals klanglich nicht gefüllt zu bekommen, wirkte die Aussteuerung zu massiv und manchmal geradezu pompös. Daß sich Richard vom Publikum nach dem Konzert feiern ließ, als sei er selbst der Komponist, mochte befremden, hatte aber zugleich seine Berechtigung, da ja tatsächlich seine spezielle Adaption von Nonos Musik für die räumlich-akustischen Bedingungen der Kölner Philharmonie zu hören war. Indes gibt es kein Nono-Mandat auf Lebenszeit und sollte jedem die Neigung fern liegen, sich als Erbwalter von Nonos live-elektronischen Werken zu installieren.

Per Anhören durch die Galaxis

Den zweiten Höhepunkt der „Ommagio a Luigi Nono“ bildete die Kölner Erstaufführung von „Prometeo“ mit dem Ensemble Modern Orchestra und dem Solistenchor Freiburg unter der Gesamtleitung von Ingo Metzmacher, mit Baldur Bönnigmann als Kodirigent und dem Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung mit Richard als Klangregisseur. Für die Uraufführung in Venedig hatte Nono die säkularisierte Kirche San Lorenzo gewählt und dort durch Renzo Piano einen schiffsrumpfartigen Hörraum errichten lassen, in welchem die verschiedenen Instrumental- und Vokalgruppen um das Publikum herum gruppiert werden konnten. Für die Uraufführung der überarbeiteten zweiten Fassung des „Prometeo“ in einer Mailänder Fabrikhalle nutzte er ebenfalls diesen Hörraum, bevor er bei allen nachfolgenden Aufführungen darauf verzichtete. Für die Kölner Erstaufführung hatte Richard zunächst einige romanische Kirchen auf ihre akustischen und räumlichen Möglichkeiten geprüft, jedoch keine für angemessen befunden. Auch Philharmonie, Gürzenich und Großer Rheinsaal der Kölner Messe wurden verworfen.

Stattdessen entschied er sich für den größten der Sartory Säle, eine Spielstätte, die vor dem Zweiten Weltkrieg unter dem Namen „Vergnügungspalast Groß-Köln“ bekannt war und bis heute für Varieté-, Revue-, Musical- und vor allem Karnevals-Veranstaltungen genutzt wird. Mit großer Hauptbühne, auslaufenden Seitenbühnen, erhöhten Seitenemporen und ansteigender Hinterem­pore sowie mobiler Bestuhlung für etwa vierhundert Personen boten sich hier gute Möglichkeiten zur räumlichen Disposition der verschiedenen Orchester, Chöre, Ensembles und Solisten. Angesichts der großen Publikumsnachfrage erwies sich der Saal jedoch als zu klein, da problemlos Hunderte weiterer Karten hätten verkauft werden können. Akustisch waren die Verhältnisse gut, wenn auch nicht optimal. Wer zu dicht an einem der um das Publikum verteilten Ensembles saß, konnte die anderen Gruppen, Sprecher, Solisten und Chöre naturgemäß weniger deutlich hören, was zuweilen durch ungleich balancierte Verstärkungen zusätzlich erschwert wurde.

Um so überzeugender funktionierten die Bewegungen der Klänge über die im Raum verteilten Lautsprecher. Von direkter Nähe zur größten Ferne durchzogen die Klänge die unterschiedlichsten Bahnen und erfuhr der reale Raum phantastische Vervielfachungen und Weitungen. Wer beide Vorstellungen besuchte und jeweils andere Sitzplätze wählte, dem wurde der essentielle Einfluß des Raums auf Klang und Hören unmittelbar ohrenfällig. Die während des Stücks mehrfach gesprochene Aufforderung „ascolta“ („höre“) lädt ein zur Reise durch den klingenden Archipel, dessen einzelne Inseln durch dezente Beleuchtungswechsel des Lichtregisseurs Hans Troelstede hervorgehoben wurden. Während die schweifenden Klänge in „Caminantes … Ayacucho“ wegen ihrer klerikalen Konnotation keine wirkliche Authentizität zu entfalten vermochten, rührten sie in „Prometeo“ unmittelbar an und wurden glaubhaft als Ausdruck der unbestimmten Sehnsucht des Menschen nach Transzendenz seiner selbst und seiner irdischen Beschränkungen in Raum und Zeit. Mit den klingenden Pilgerpfaden öffnet die Musik einen Weg zu den „letzten Dingen“ in kosmischen Dimensionen, von denen man sich – wieder zurück auf hartem Sitz in stickiger Luft – keine andere Rechenschaft abgeben kann, als daß sie möglich und erfahrbar sind: Mensch sein, heißt für Nono unterwegs sein, und das ist mehr, als eben mal rüber zum Kiosk oder mit dem Auto zur Arbeit, sondern unterwegs sein in weiteste Fernen und – was dasselbe ist – jedes einzelnen Menschen zu sich selbst. Das Thema der Bewegung und der existentiellen Ziel-, Ort-, Rast- und Haltlosigkeit sowie der Individualität und Pluralität der Wahrnehmung jedes einzelnen Hörers im Klang-Raum-Zeit-Gefüge verleiht „Prometeo“ und Cacciaris vielstimmiger Textcollage stark postmoderne Züge im Sinne von Albrecht Wellmers Verständnis von Postmoderne als einer radikalisierten Moderne und Modernekritik, einer über sich selbst aufgeklärten Aufklärung. Aus dem titanischen Rebell Pro­metheus, dem modernen Feuer- und Fortschrittsbringer, wird der umherirrende Wanderer und Sucher im Zeitalter allgemeiner Verunsicherung und Selbstbesinnung.

Manche Besucher zogen der Kölner eine frühere Aufführung des Werks in Mailand, Paris, Frankfurt, Berlin oder den Inszenierungsversuch von Robert Wilson 1997 in Brüssel vor, vermutlich je nach dem, wo sie zum ersten Mal „Prometeo“ live erlebte hatten, vielleicht aber auch, weil man da und dort größere und architektonisch imponierendere Spielstätten gewählt hatte. Andere dagegen bevorzugten gerade die Kölner Aufführung wegen ihrer größeren Klarheit, Transparenz und Durchhörbarkeit in den überschaubaren Saaldimensionen. Wer „Prometeo“ bis dato nur von der Compact Disc kannte, dem wurde die Kölner Aufführung zur „Offenbarung“ in der Art von Prome­theus‘ Feuerraub und Platos Höhlengleichnis, wo die zuvor gefesselten Menschen zum ersten Mal befreit ihren Blick wenden, um statt der toten Schatten erstmals lebendige Gestalten wahrzunehmen.

Nono heute

Nono hat sich stets gegen Rückgewandtheit, Festhalten am Bewährten und institutionelle Verhärtungen gewendet. Sein kompositorisches Bemühen um Gegenwart, Offenheit und Beweglichkeit der Klänge sperrt seine Musik gegen ihre Musealisierung im Konzertsaal und ihre Archivierung im CD-Schrank. Das Vermächtnis seiner lebenslangen Wanderschaft, das gerade seine Nachfolger verpflichten sollte, birgt gerade heute ein großes Zukunftspotential, wo sich viele an Bewährtes klammern, darunter auch an Nonos Musik, statt sich durch sie verunsichern zu lassen und im Sinne der von ihm beschworenen „schwachen messianischen Kraft“ Walter Benjamins auf die Suche nach neuen, unvertrauten Räumen zu begeben. Die ästhetische Faszination der Musik Nonos wird zum moralischen Appell an jeden einzelnen Hörer, sich in den elementaren, teils archaischen Klangsituationen frei zu bewegen und bei der Suche nach Halt und Orientierung selbst zu beobachten, um vorschnelle Antworten und Lösungen zu hinterfragen.

Zugleich birgt dieses Zukunftspotential von Nonos Musik die größten Schwierigkeiten für ihre Aufführung und damit den größten Widerstand gegen ihre Zukunft. Um diesen zu überwinden, sind alle Möglichkeiten der traditionellen, historisch-rekonstruktiven und aktualisierenden Aufführungspraxis recht. Der hohe interpretatorische Anspruch dieser Musik an die Präsenz des Klangs im Raum, Hier und Jetzt, ergeht an uns nicht als verbürgter Besitz, sondern als Aufforderung, sie in ihrem ganzen Text- und Wirkungssinn in die Gegenwart zu übersetzen. Auch die Werke der sechziger und siebziger Jahre, deren zuweilen (partei)politischer Anspruch heute am stärksten zeitgebunden scheint, sind nach wie vor ausgezeichnete Modelle für eine gesellschaftskritisch engagierte Musik, die sich mit ihrer Vielstimmigkeit von Instrumental-, Vokal-, Sprach- und Alltagsklängen nicht selbstgenügsam in ihre Strukturen einigelt und eine Sondersphäre abseits des privaten und gesellschaftlichen Lebens bildet, sondern den Hörer inmitten der Gesamtheit seiner lebensweltlichen Bedingungen und Erfahrungen ansprechen möchte. Dem Kommunisten Nono steht der Humanist und Komponist Nono zur Seite, dem es in seiner Musik immer auch um den Einspruch des Individuums gegen institutionelle und kollektive Mächte ging, um Menschlichkeit und Lebensnähe. Und wie der große Publikumszustrom während der Kölner MusikTriennale zeigte, kann sich beides auch heute noch unmittelbar mitteilen.