MusikTexte 103 – November 2004, 35–45

Zu unbegrenzten Räumen und Möglichkeiten …

Der Kölner Komponist Harald Muenz

von Rainer Nonnenmann

„Eine Stimme heißt: da ist eine lebendige Person mit Kehle, Brust und Gefühlen, die diese Stimme hervorbringt, die so ganz anders ist als alle anderen Stimmen. Eine Stimme bringt das Gaumenzäpfchen ins Spiel, den Speichel, die Kindheit, die Patina des gelebten Lebens, die Intentionen des Sinnes, die Lust, den Schallwellen eine eigene Form zu geben.“
Italo Calvino1

Wer heute mit anderen als den herkömmlichen Instrumenten hantiert, gar mit dem Computer, erweckt schnell den Eindruck, Vertreter einer sektiererischen Szenekultur zu sein, die sich ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten, Spielstätten und Hörerkreise schafft, um sich selbstgenügsam darin einzuigeln und nach außen abzuschotten. Indes trügt der Schein und ist die Abseitigkeit mancher Musik jenseits des gängigen Konzert- und Festivalbetriebs zuweilen die leidige Folge der normativen Programmpolitik von Musikveranstaltern, die experimentellen Bemühungen und Neuansätzen schlicht zu wenig Raum in ihren etablierten Foren bieten.

Definitiv zu vielseitig für die Schublade „Computermusik“ ist das Schaffen von Harald Muenz, Jahrgang 1965, der sein Komponieren gezielt an Schnittstellen und Rändern ansiedelt, zwischen Sprache und Musik, Ton und Geräusch, Klang und Bedeutung, Instrumenten und dem Com­puter. Obwohl Muenz in den letzten Jahren vornehmlich als ein Komponist wahrgenommen wurde, der seit „deChiffrAGE“ von 1993 den Computer an maßgeblicher Stelle in die Konzeption, Realisation und Performation seiner Musik einbezieht, reichen seine Arbeiten mit Computer, Elektronik, herkömmlichen Instrumenten, Sing- und Sprechstimmen weit über das hinaus, was gemeinhin von einem „Computerkomponisten“ im engeren Sinne erwartet wird. Bezeichnenderweise liegen seine kompositorischen Anfänge in den achtziger Jahren bei Werken für gewöhnliche Ensemblebesetzungen und sogar für Sinfonieorchester. Erst nach gründlichem Kompositionsstudium und fundierter handwerklicher Ausbildung in Tonsatz, Instrumentation und Formenlehre bei Martin Christoph Redel in Detmold 1986 bis 1987, bei Krzysztof Meyer in Köln von 1988 bis 1993 und im Auf­baustu­dium bei Helmut Lachenmann in Stuttgart von 1994 bis 1997 fand er im Laufe der neunziger Jahre durch Anregungen von Klarenz Barlow zu verschiedenen musikalischen Einsatzmöglichkeiten des Computers und der Live-Elektronik. Nachdem der Computer längst sämtliche Arbeits- und Lebensbereiche erobert hatte, schien es naheliegend, sich auch künstlerisch mit ihm auseinanderzusetzen, was freilich den Protest derjenigen provoziert, die in der Musik ausschließlich eine zeitenthobene Gegenwelt jenseits des technisierten Alltags sehen.

Indes ist Muenz kein unkritischer Adept der digitalen Revolution, der in bilderstürmerischer Weise die Abschaffung der „analogen“ Klangerzeuger proklamiert. Von rein radiophonen Arbeiten abgesehen, kommen in allen seinen Stücken konventionelle Instrumente, menschliche Stimmen und Sprachen zum Einsatz. Sehr wohl aber geht es ihm um die Überwindung des in der alten und neuen Musik allzu oft zu Stereotypen erstarrten Umgangs mit dem vertrauten Instrumentarium. Einen Großteil seiner Stücke bezeichnet er als „akustische Situationen“2, um den historisch-affektiv belasteten Musikbegriff durch eine „physikalisch“ neutrale Bezeichnung zu ersetzen und auf diese Weise zu verhindern, daß die Hörer von vornherein künstlich von außen durch das Abrufen überkommener musikalischer Kategorien emotionalisiert werden, statt durch die unvoreingenommene und deswegen vielleicht bewegendere Wahrnehmung des inneren Klangverlaufs von Instrumenten, Sprachen, Stimmen.

Wie sein Lehrer Lachenmann oder seine Anreger Franco Evangelisti, John Cage, Morton Feldman, Christian Wolff und Alvin Lucier möchte Muenz in musikalische Randzonen vordringen, wo sich die Frage stellt, ob etwas überhaupt noch Musik ist. Gerade auch in seinen Arbeiten für den gewöhnlichen Konzertsaal versucht er, „den gesicherten Musikbegriff immer wieder neu in Frage zu stellen“3. Statt bewährten Strickmustern und dramaturgischen Notwendigkeiten zu folgen, unterläuft er sie, verwendet bevorzugt heterogene Materialien und verleiht der Vorstellung Gestalt, die Musik könne stets auch ganz anders sein und anderen Kategorien als den traditionellen folgen. Statt die Interpreten und Hörer durch sein eigenes, subjektives kompositorisches Kalkül zu gängeln, möchte er ihnen lieber die Möglichkeit bieten, selbstbestimmt in die klanglichen Situationen hineinzuhören und darauf zu reagieren. Als akustische und nicht-dramaturgische Kunstform wird Musik für ihn als Komponisten sowie für die Musiker und Hörer im Idealfall zum Abenteuer und Erlebnis „des Gefühls von Freiheit und unbegrenzter Räume und Möglichkeiten“4.

Welthaltigkeit und intermediale Verfransungen

Als Jugendlicher begeisterte sich Muenz für die Klangfarben der französischen Impressionisten und als Student entdeckte er die erweiterten Spiel- und Klangpraktiken seines Lehrers Lachenmann. Viele seiner Stücke sind genuine Klangkompositionen, in denen die Primäreigenschaften Tonhöhe, Rhythmus und Dynamik eher sekundär erscheinen als Mittel zum Zweck der charakteristischen Einfärbung von Klängen. „franSung – Ensemblekammermusik zu vierzehnt“ von 1997 bewegt sich über weite Strecken in einem engen rhythmisch-dynamischen Rahmen ohne gezielte Progressionen, Tendenzen, Dynamiken. Nur an wenigen Stellen kommt es zu Verdichtungen oder Ausdünnungen. Die bewußt richtungslose, undramatische und statische Musik ist – wie viele von ­Muenz’ Stücken – ohne Metrum lediglich in einer durchgehenden Sekundeneinteilung notiert und konzentriert sich ganz auf feine Klangnuancen und gut ausgehörte Übergänge zwischen dem Ensemble und einer Sopranistin. Die Sängerin ist mitten im Ensemble plaziert und wird nicht eigens als Solistin exponiert. Zunächst setzt sie nur parallel mit den Instrumentalstimmen ein, denen sie eine charakteristische Färbung verleiht. Erst nach und nach wird sie eigenständiger und damit auch deutlicher als autonome Klangfarbe vernehmbar. Während sie stets ohne Text rein lautlich und quasi instrumental agiert, erscheinen in den Instrumenten geräuschhafte Aktionen quasi konsonantisch oder durch Vibrati und Tonhöhen im charakteristischen Formantbereich der Vokale als wären sie gesungen. Vokale und instrumentale Ton- und Geräuschartikulationen verschmelzen und schaffen naht­lose Übergänge. Flöten- und Violin-Triller setzen sich in der Singstimme als Zungenspitzen-R fort (Takt 30 und folgende), Ratschen-Klänge als Flatterzunge (Takt 84 und 85), tonlose Striche auf dem Steg als stimmlose Atemgeräusche. Die sonst geschiedenen Klangbereiche durchdringen sich. Oder anders und mit dem Werktitel „franSung“ gesagt: instrumentale „Phrasierung“ und „Gesang“ sind aufs Engste miteinander „verfranst“.

Das Prinzip der Verfransung vokaler und instrumentaler Aktionen setzt sich innerhalb des Sopran- und Ensembleparts fort. Während die Gesangsstimme durch die Artikulation von Konsonanten, Vokalen und Silben in chinesischer, deutscher, französischer und italienischer Aussprache eine Art Sprachkontinuum schafft und verschiedene Weltsprachen zu einer neuartigen Kunstsprache verbindet, klingen einige Instrumente statt in ihrer eigenen in einer fremden „Sprache“, indem sie durch erweiterte Spieltechniken verfremdet werden und beispielsweise abgedämpfte Harfen- und Klaviertöne wie „Xylophontöne“ klingen. Ähnliches gilt vom Einsatz ungewöhnlicher Klangerzeuger (Kieselsteine, Glasmurmeln, Ratsche, Metronom, Knackfrosch, Tischtennisball und anderes). Wie in Lachenmanns frühen Orchesterwerken „Air“ von 1968/69 und „Kontrakadenz“ von 1970/71 stellen diese Alltagsdinge und Spielsachen zuweilen spieltechnische und klangliche Parallelen zum herkömmlichen Instrumentarium her. Während sie selbst im ästhetischen Kontext zu regulären Instrumenten avancieren, verfremden sie umgekehrt die gewöhnlichen Musikinstrumente zu außergewöhnlichen Gerätschaften. Zugleich intendiert Muenz mit der Heterogenität der Materialien und der Vielstimmigkeit der eingesetzten Medien so etwas wie Welthaltigkeit: Es geht weniger um Intermedialität oder gar Multimedia um ihrer selbst willen, sondern darum, Welt in meine Musik reinzulassen. Meine Welterfahrung finde ich relativ breit, und wenn ich dann ins Konzert gehe und neue Musik höre, finde ich meine Erfahrungen häufig verknappt und verengt auf einen Instrumentalapparat, der schon vierhundert Jahre alt ist, und das finde ich dann ein bißchen zu wenig für einen Menschen, der heute lebt. Deswegen die Öffnung nach verschiedenen Seiten, also nicht so ein hermetisches Kunstwerk, das sich verschließt gegenüber dem Alltag. Der Bezug zum Hier und Jetzt, in dem wir ja schließlich leben, und die Reflexion dieses Hier und Jetzt sind mir sehr wichtig.5

Innerhalb von „time-brackets“, bei denen während eines festgelegten Zeitraums bestimmte Ereignisse zu einem beliebigen Zeitpunkt erfolgen, können die Spieler „hier und jetzt“ aufeinander reagieren, indem sie beispielsweise nicht vor dem Aufhören eines anderen Spielers oder unmittelbar danach – lediglich durch die Reak­tionszeit verzögert – ein- oder aussetzen. Analog dazu können sie innerhalb von „pitch-brackets“ bestimmte Tonhöhen nach Belieben im Rahmen eines Vierteltons höher oder tiefer intonieren. Auf diese Weise resultieren harmonische und rhythmische Ungenauigkeiten, die der Musik einen offenen, schwankenden Charakter verleihen und sie von Aufführung zu Aufführung anders erklingen lassen. Die Einsätze scheinen verwackelt oder verstimmt. Spürbar wird hier ein gewisser Einfluß der Idee der offenen Form und Indetermination sowie des Vorbilds Cage, Klänge zu sich selbst kommen zu lassen und den Interpreten Freiräume zu lassen, innerhalb derer sie auf die eigenen Klänge und die ihrer Mitspieler reagieren können, statt bei jeder Aufführung exakt auskomponierte Strukturen möglichst identisch zu reproduzieren. Wegen der Freiheit und Egalität der Musiker sowie ihrer intensiveren Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten schätzt Muenz besonders Kammermusik. Nicht von ungefähr gab er seinem Stück den programmatischen Untertitel „Ensemblekammermusik zu vierzehnt“.

Zugleich wechseln in „franSung“ offenere Passagen mit exakt auskomponierten Strukturen und strengen Symmetriebildungen, so daß es auch hinsichtlich der kompositionstechnischen Faktur zu „Verfransungen“ kommt. Ab Takt 48 setzen die Instrumente mit Liegeklängen in exakt derselben Reihenfolge ein und aus, so daß sich Akkordschichtungen identisch auf- und abbauen. Hinzu kommen krebsgängige Artikulationsfolgen (Sopranistin Takt 181 und folgende), ebenso symmetrisch in sich rückläufige dynamische Abstufungen (Takt 61 bis 65) und bogenförmige Formverläufe. Beispielsweise entspricht der Schlußtakt leicht abgewandelt dem Anfangstakt. Neben den horizontalen Symmetrien begegnen auch vertikale beziehungsweise harmonische Symmetrien in Gestalt von entsprechenden Intervallschichtungen. All dies verrät einen stark konstruktiven Aspekt von Muenz’ Musik, den seine Äußerungen zur beabsichtigten Überwindung gängiger Kompositionspraktiken leicht übersehen lassen.

Neben Ensemble und der Sopranistin kommt als dritte Ebene ein Zuspielband hinzu, auf dem zuvor zehn verschiedene Akkorde des Stücks aufgezeichnet und durch Sampling verlängert, transponiert, dynamisch variiert oder rhythmisch repetiert wurden. An festgelegten Stellen der Partitur werden die Akkorde in der Dauer von einer Viertelsekunde bis zu eineinhalb Minuten sanft ein- und ausgeblendet oder hart dazu und weggeschnitten. Durch die räumliche Aufstellung der Lautsprecher sollen die Zuspielungen stets von den Live-Klängen unterscheidbar sein. Tatsächlich wirken sie seltsam starr wie die Klänge eines Akkordeons und treten den individuell be­lebten Live-Klängen zumeist kontrastierend gegenüber. Teilweise mischen sie sich aber auch mit den Original­klängen und sind aufgrund ihrer Kürze nicht mehr als radiophon reproduziertes Material kenntlich. Der klanglichen, sprachlichen und satztechnischen „Verfransung“ entspricht die der medialen Ebenen.

Paradoxe Bestätigung des Widerlegten

Der opulente und zugleich lakonische Titel von „… und weil die da in donaueschingen immer noch töne brauchen, hab’ ich sie ihnen halt hingeschrieben …“ für B-Klarinette, Violine, Gitarre und Klavier von 2000 ist das Gedächtniszitat einer Äußerung von Hans Joachim Hespos, mit der dieser 1988 im Rahmen eines Gesprächskonzerts in Köln seine kurz zuvor bei den Donaueschinger Musiktagen 1987 uraufgeführte Auftragskomposition „Vif-bi“ kommentierte. Indem Muenz die lapidare Äußerung als Titel für sein Stück wählte, unterstrich er seine eigene Überzeugung, „die instrumentale Konzertmusik der üblichen Machart sei längst an ihr Ende gekommen“6. Indes ist unter seinen Werken gerade „… und weil die da in donaueschingen …“ besonders konventionell komponiert und entspricht am ehesten gängigen Vorstellungen von Musik. Statt Spielräume für die Interpreten zu lassen und die Wandelbarkeit von einer Aufführung zur anderen zu betonen, verfährt der Komponist sehr kontrolliert mit dem Material und komponiert alle Details exakt aus. Es handelt sich um eine fein abgestimmte, besonders klangsinnliche Komposition, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten vielfach entstanden und auf Festivals wie den Donaueschinger Musiktagen zu hören waren. Mit überlappenden Unisoni, an Liegetöne sich anschmiegenden Glissandi, synchronen Einsätzen und Crescendi aus dem Nichts und Diminuendi ins Nichts schleicht sich ein Instrument in den Klang des anderen, um ihn von innen heraus umzufärben und auf diese Weise eine durchgehende Klangfarbenmelodie zu schaffen. Muenz verzichtet dabei auf erweiterte Spiel- und Klangtechniken und beschränkt sich mehr oder minder darauf, „halt Töne hinzuschreiben“. Indes verleiht er der herkömmlichen Tongebung durch raffinierte Instrumental-Kombinationen neue Charakterzüge, indem er zum Beispiel flageolettierte Gitarren-Pizzikati als abgewandelte Einschwingvorgänge leiser Klarinetten- oder Violintöne erscheinen läßt.

Wie in „franSung“ werden auch in „… und weil die da in donaueschingen …“ sprachliche Artikulationen integriert. Das Stück beginnt mit den gesprochenen Worten „Keine Sprache“, woraufhin tatsächlich keine Sprache, sondern Musik zu hören ist, und endet mit den Worten „ist Musik“ in dem Moment, in dem die Musik bereits verklungen ist. Nach einem ersten Abschnitt (Takt 1 bis 40) wird der über das gesamte Stück gespannte Satz im Mittelteil (Takt 41 bis 107) erneut aufgegriffen, jedoch ohne das Wort „Musik“. Durch Dehnen, Überlagern und Umstellen der Laute r-a-p-sch-ch-e (Takte 59 und folgende), e-ei-n-k (Takte 81 und 82), t-s-i (Takt 101) wird Sprache zu unverständlichen Lauten neutralisiert und damit zu eben dem, was der Satz bestreitet: zu Musik. Der Aspekt der Sprachlich- beziehungsweise Unsprachlichkeit von Musik und der Musikalität beziehungsweise Unmusikalität von Sprache wird gleichzeitig in Gestalt traditionell musiksprachlicher Züge thematisiert. Zwischen den versprengten Sprachklängen häufen sich regelmäßige Pulsationen, Dur- und Moll-Dreiklänge, charakteristische Spielfiguren, Triller, Wechselnoten, pendelnde Terzen und Dreiklangsbrechungen, die sich schließlich zu einer „quasi marcia funebre“ (Takte 83 und folgende) mit Klarinetten-Glissandi wie in der Klezmer-Musik und einer Art Tango (Takte 97 und folgende) verdichten. Sprache erscheint musikalisiert und Musik durch Anklänge an traditionelle Idiome versprachlicht. Diese Versprachlichung von Musik geschieht nicht ungebrochen in konventionell expressiver Absicht. Vielmehr erscheint das beschworene Figurenrepertoire zitiert, in distanzierende Anführungszeichen gesetzt und aus dem beredten Gesamtzusammenhang der tonalen Musiksprache ebenso gesprengt wie die unverständlichen Sprachlaute aus dem Silben- und Satzzusammenhang. Musik ist eben doch keine Sprache, und wenn sie es einmal war, so ist es zumindest die neue Musik nicht mehr.

Formal folgt das Stück einer traditionellen Bogenform. Dem ersten Abschnitt (Takte 1 bis 40) entspricht als Reprise der letzte (Takte 108 bis 147), und zwar als verkehrte Reprise, bei der die ersten vierzig Takte von hinten nach vorn krebsgängig in sich zurück laufen. Anfang und Ende des Stücks sind damit material identisch, ihrer Gestalt nach aber allenfalls ähnlich. Auch durch die Fortsetzung der Anfangsworte „Keine Sprache“ am Schluß mit „ist Mu­sik“ bleiben Anfang und Ende direkt aufeinander bezogen. Motivisch verklammert ist das Stück zudem durch eine Akkordfolge im Klavier, die etwa symmetrisch zur Mittelachse des Stücks (Takt 74) viermal auftritt (Takt 12, 53, 97 und 135) und dabei schrittweise um weitere Akkorde länger wird, so daß sich im Schlußabschnitt Krebs-, Reprisen- und Progressionsform wechselseitig konterkarieren.

Statt eines offenen, experimentellen Charakters und einer weitgehenden Abwesenheit genuin musikalischer Prämissen, wie sie Muenz’ Begriff der „akustischen Situation“ impliziert, eignen dem Stück traditionell kompositorische Qualitäten, formale Geschlossenheit, sinnliche Klangschönheit und ein exakt kontrollierter, konsistenter Strukturverlauf. Bei aller beabsichtigten klanglichen Objektivität und dramaturgischen Neutralität zeigt das Stück deutliche subjektive Vorlieben für bestimmte Klänge und Strukturbildungen. Damit erweist es sich in Anspruch und Anlage als durch und durch paradox. Gewollt oder nicht ist es eine gelungene Widerlegung der von Muenz mit dem Hespos-Zitat als Werktitel unterstrichenen Überzeugung, die „instrumentale Konzertmusik der üblichen Machart sei längst an ihr Ende gekommen“. In Frage gestellt wird durch „… und weil die da in donaueschingen …“ zwar der Musikbegriff der klassisch-roman­tischen Tradition, nicht jedoch auch der Klang-, Struktur- und Formenkanon der herkömmlichen neuen Konzertmusik. Mit der vom Komponisten geschätzten Konzeptkunst von Cage und Lucier hat das Stück wenig gemein, eher schon mit den luziden Klanggebilden von Morton Feldman. Für ein Neue-Musik-Festival wie die Donaueschinger Musiktage wäre es wie geschaffen gewesen.

An der Schnittstelle von Mensch und Maschine

Zum ersten Mal verwendete Muenz den Computer in „deChiffrAGE“ für blattlesenden Sprecher und zufallsgesteuerten Live-Texttransformator 1993. Er benutzte den Computer jedoch nicht als „Super-Synthesizer“, der per Tastendruck eine Fülle beliebiger Klänge produziert, sondern schlicht in seiner ursprünglichen und angesichts der heute stupenden Möglichkeiten nachgerade archaisch wirkenden Funktion als Rechenmaschine. Auch die üblicherweise zielgerichtete Arbeit des Prozessors wird unterlaufen, indem er lediglich als Zufallsgenerator fungiert und nach einem bestimmten Zufallsprogramm einen Text zerlegt, neu zusammensetzt und einem Sprecher via Bildschirm in Echtzeit zu lesen gibt. Als Ausgangsmaterial wählte Muenz einen kurzen Text, den Helmut Lachenmann im Dezember 1992 in der Zeitschrift MusikTexte über John Cage veröffentlicht hatte, der im August 1992 verstorben war. Den Satz darin, „reden über die Vielfalt der Formen, in denen er uns (,uns‘ darf man bei ihm sagen) so wunderbar gestört und so lehrreich verstört hat“7, scheint Muenz zum Anlaß genommen zu haben, nicht nur über die Formen zu sprechen, in denen Cage so wunderbar ge- und verstörte, sondern in und mit diesen Formen. Er präsentiert Lachenmanns Nachruf auf Cage in der Weise von Cages Lectures, bei denen die Form mit dem Inhalt verschmilzt, und gibt sein Stück durch die Großbuchstaben im Titel als Cage-Hommage zu erkennen.

Anhand eines von Aufführung zu Aufführung variablen Zeitrasters werden zunächst völlig unverständliche Lautfolgen generiert, dann nach und nach einzelne lexikalische Worte, unsinnige Wortkombinationen, kurze sinnlose und sinnvolle Sätze. Über die alphabetischen Schriftzeichen hinaus erhält der Sprecher auch durch Interpunktion, Satzzeichen, Groß- und Kleinschreibung Hinweise für die Art und Weise seiner Textinterpretation. Er soll auf den vom Computer live-generierten Text möglichst spontan reagieren und durch Variieren von artikulatorischer Färbung, Duktus, Dynamik und Sprechtempo möglichst vielfältige Assoziationen an vertraute und fremde Sprachen, Laute und Textlektüren einfließen lassen. Das vom Interpreten dechiffrierte Textmaterial wird dann vom Hörer seinerseits dechiffriert in Abhängigkeit von seinem individuellen sprachlichen Horizont. Gemäß der Idee „akustischer Situationen“ entsteht das eigentliche Stück erst durch die Art und Weise der Wahrnehmung des Hörers, der je nach Sprachkompetenz unterschiedliche Assoziations-, Klang-, Sinn- und Bedeutungseinheiten konstituiert. Da für die Klangproduktion ausschließlich der Sprecher verantwortlich ist, handelt es sich um Muenz’ erste Komposition im Bereich der „Ästhetischen Phonetik“. Nicht umsonst nannte er das Stück einen „Wendepunkt“ in seinem Schaffen. Neben der Einbeziehung von Computer und Sprache hatte es für ihn eine radikale Öffnung des Werkbegriffs und eine veränderte Rolle als Künstler zur Folge, da er seitdem regelmäßig in Personalunion als Komponist, Klangregisseur und Interpret der eigenen Stücke in Erscheinung tritt.

Mit „deChiffrAGE“ öffnete sich für Muenz erstmals auch die Arbeit mit Live-Zufallskonzepten. Während bei den meisten aleatorischen Kompositionen vorab bestimmte Versionen ausgearbeitet und einstudiert werden, so daß den Interpreten bei der Aufführung kaum mehr spontane Reaktionsmöglichkeiten bleiben, wird das Text- oder Notenmaterial bei Live-Zufallsverfahren erst während der Aufführung erzeugt. Den Interpreten bleibt also gar nichts anderes übrig, als spontan darauf zu reagieren. Das solcherart erzwungene „Vom-Blatt-Spielen“ konterkariert die übliche Konzertpraxis, indem es die unhinterfragte Forderung unterläuft, erst zu proben und dann aufzuführen. Statt Musik langwierig einzustudieren und dann im Konzert möglichst genau wiederzugeben, avanciert das Prima-vista-Spiel der allerersten Leseprobe zum konzertierenden Ernstfall.

Nicht als Schrift-, sondern als Notentext-Generator verwendete Muenz den Computer 1996 in „standArts“ für einen blattlesenden Klarinettisten mit zufallsgesteuertem Live-Computer und später in „The SelfComposer“ für einen blattlesenden Oboisten mit Laptop (1999 bis 2002). Auch hier wird er vor allem algorithmisch als Rechenmaschine verwendet. In letzterem Fall werden für jede Aufführung aus dreiundzwanzig Standard-Orchesterprobespielstellen für Oboe zwei Stellen zufällig vom Computer ausgewählt, dann bis zur Unkenntlichkeit zerlegt und das Notenmaterial neu kombiniert. Das Ergebnis wird in Echtzeit auf dem Bildschirm angezeigt und vom Solisten aus dem Stegreif gespielt. Erst im weiteren Verlauf tritt der Computer selbst als Klangquelle in Erscheinung. Über seine integrierten Lautsprecher werden die Rechenergebnisse zunächst tongetreu wiedergegeben, dann mikrotonal abgewandelt und schließlich komplementär oder imitatorisch zu der Live-Interpretation des Spielers versetzt. Je nachdem, welche Probespielstellen gewählt und miteinander kompiliert wurden, wird zum Beispiel aus einer weit geschwungenen Oboen-Kantilene ein zunehmend verdichtetes, mikrotonal erweitertes und im Tempo immer stärker beschleunigtes Duett. Wenn der Computer sein Tonmaterial schließlich gegen Schluß in rasender Geschwindigkeit abspult, kann der Solist nicht mehr mithalten und sich nur noch auf lange Liegetöne beschränken.

Bei all diesen Live-Zufallskompositionen geht es weniger darum, die phantastische Leistungsfähigkeit des Computers vorzuführen, sondern in erster Linie um das, was sich an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine ereignet. Die Ungleichheit zwischen der kühlen Perfektion des Rechners mit seiner im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubenden Geschwindigkeit und den dadurch hochgradig „gestressten“ Sprechern, Sängern und Instrumentalisten verleihen den Interpretationen der Stücke eine von Mal zu Mal individuelle Klangfarbe und Expressivität. Wirksam wird dabei auch der Kontrast zwischen den „seelenlosen“ Lautsprecherklängen und der lebendigen Interpretation. Der Computer kann die Umformung und klangliche Wiedergabe der von ihm ausgeworfenen Texte und Noten zwar beliebig beschleunigen, so daß der Interpret irgendwann nicht mehr mitkommt und kapitulieren muß. Aber in „The SelfComposer“ degenerieren die Lautsprechertöne mit zunehmender Geschwindigkeit zu mechanischen Läufen, während der warme Oboenton auch dann noch erhalten bleibt, wenn der Solist das Rennen längst verloren und aufgegeben hat. Gerade im Kontrast zum billigen Computergeklingel gewinnt der Oboenklang eine neue Expressivität und feiert die Menschlichkeit in der Niederlage gegen die Maschine ihren Triumph.

Die Kombination von Mensch und Maschine erinnert weniger an Cage, dem sich das Live-Zufallsprinzip von „deChiffrAGE“ ursprünglich verdankt, sondern eher an Ansätze von Brian Ferneyhough, der sich während der siebziger Jahre in seinen „Time and Motion Studys I–III für verschiedene Besetzungen (1971 bis 1977) mit angelsächsischen Zeit- und Leistungsuntersuchungen zur Optimierung industrieller Fertigungsvorgänge auseinandergesetzt und seine Kompositionen systematisch mit kaum mehr zu bewältigenden Aufführungshinweisen überfrach­tet hat. Die intendierte kritische Brechung von Virtuosität wird dabei nicht wie bei Cage durch die Reduktion des Klanggeschehens betrieben, sondern am Rande der Höchst­leistung und darüber hinaus gerade im Gegenteil durch die Ostentation von übermäßiger Komplexität, spieltechnischem Können und dem damit verbundenen Aufwand an Konzentration und physischer Anstrengung. Während Muenz in „standArts“ die Standardisierung von Musik durch die uniformierten Vorgaben der großen Technologie-Konzerne problematisierte, thematisierte er in „The SelfComposer“ die (Selbst)Abschaffung des Komponisten und Live-Interpreten im Zeitalter der digitalen Produzierbarkeit und Reproduzierbarkeit von Musik. Auch in anderen Stücken verwendet er den Computer und die entsprechende Software nicht im herkömmlichen Sinn, sondern stets auf unorthodoxe, zweckentfremdete Weise, um den klanglich-technischen Normierungen der Hard- und Softwareindustrie zu entgehen und statt dessen zu unvorhergesehenen Resultaten zu gelangen. Insofern eig­nen seiner Musik im weitesten Sinne kunst- und gesellschaftskritische Implikationen.

Computer und Sprachkomposition

Durch das Studium der Phonetik bei Georg Heike an der Universität zu Köln erschloß sich Muenz Ende der neunziger Jahre systematisch die Welt der Sprachklänge. Neben den Arbeiten mit Computer und Instrumenten liegt seitdem sein drittes Hauptarbeitsfeld im Bereich der „Ästhetischen Phonetik“. In „parkfiguren. lyrisches Moment mit einem deutsch-sorbischen Text von Róža Domašcyna für eine Sprech- und eine Singstimme“ von 1996 wird ein Herbstgedicht zweisprachig in Deutsch und Sorbisch zu einem neuen Idiom amalgamiert und dann spontan gelesen und gesungen. Auch einige von Muenz’ quadrophonen Tonbandkompositionen basieren auf Sprache. „deSperanto“ (1995/96) liegt die Präambel der Charta der Vereinten Nationen in acht Sprachen zugrunde, die mit dem algorithmischen Verfahren von „deChiffrAGE“ deformiert werden. Da das Textmaterial jeweils von Muttersprachlern gesprochen wird, bleibt zumindest das Lautinventar der acht Sprachen weitgehend kenntlich. Während das Textmaterial im Verlauf des Stücks zunehmend erkennbarer wird, wird umgekehrt die Artikulation durch Verarbeitung im elektronischen Studio immer undeutlicher, bis nur noch klirrende Geräuschklänge in unregelmäßiger Impulsfolge zu hören sind. Die verschiedenen Sprachen „verklumpen“ förmlich zu einem undefinierbaren Klang ohne jede idiomatische Färbung. Statt zur universalen Weltsprache Esperanto führt ihre Fu­sion zu einer desperaten babylonischen Sprachverwirrung, bei der man überhaupt nichts mehr versteht.

Die 2000 und 2001 entstandene Tonbandkomposition „schweigenderest“ basiert auf einer Aufnahme der berüchtigten Rede von Josef Goebbels am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast, bei der dieser den „totalen Krieg“ er- und verklärte. Die suggestive Dik­tion des Redners, seine nonverbalen rhetorischen Mittel, die Akklamationen und frenetischen Rufe der Zuhörer sowie einige von den Nationalsozialisten zu Propagandazwecken mißbrauchte Musikstücke sind immer wieder ausschnittweise im Original kenntlich, ansonsten aber durch elektronische Transforma­tionsverfahren zu ihrer eigentlichen Bedeutung mutiert, zum Dröhnen von Bombergeschwadern, dem Feuer in den Krematorien und dem Eiswind über den Schlachtfeldern von Stalingrad. Aus Sprache als Ursache des Schreckens wird Sprachlosigkeit angesichts des Schreckens, oder mit Hamlets letzten Worten: „Der Rest ist Schweigen“.

Für die Sprachkomposition „discAntico“ für acht Stimmen von 1995 wählte Muenz einen neu- und einen altitalienischen Text: ein Gedicht von Andrea Pieroni vom Anfang der neunziger Jahre, Muenz’ späterem Lebenspartner, und den berühmten „Cantico delle creature“ des Franz von Assisi, also den alten beziehungsweise „antico“ „Sonnengesang“ aus dem frühen dreizehnten Jahrhundert. Wieder werden die Texte durch das Computerprogramm von „deChiffrAGE“ transformiert. Das Resultat wird jedoch diesmal nicht in Echtzeit präsentiert und interpretiert, sondern in einer achtstimmigen Partitur für je zwei Sopran- und Altstimmen, Tenöre und Bässe rhythmisch exakt ausnotiert mit Hilfe von Sprechlagenschlüsseln, die ungefähr die Register und Affektgrade zwischen „exaltiert“, „erhöht“, „normal“, „tiefer“ und „völlig entspannt“ bezeichnen. Die teils unsinnigen, teils sinnvollen Buchstabenkonglomerate, Silben- und Wortfolgen sollen in italienischer Aussprache vorgetragen werden, als besäßen sie durchweg semantischen Gehalt. Nur bei Phantasieworten, die ganz offensichtlich nicht dem Italienischen entstammen, sind bei der Aussprache auch spontane fremdsprachliche Assoziationen gestattet. Neben den rhythmisch fixierten Passagen gibt es unrhythmisierte Texte in Großbuchstaben, die hinsichtlich Tempo und Tonfall wie von Nachrichtensprechern auszuführen sind und ansonsten lediglich Hebungsstriche, Pausen und gelegentliche Intonationshinweise enthalten. Die ersten acht von insgesamt zwölf Abschnitten werden fast ausschließlich in mittlerer Tonlage gesprochen. Erst ab dem neunten Abschnitt steigern sich die Intonationswechsel nach und nach zu einem ekstatischen Sprechduktus, bei dem sich die einzelnen Stimmen komplementär ergänzen. Im dritten Takt von Abschnitt IX bilden zum Beispiel die Lautfolgen von Sopran 2 und Alt 2 die Textpassage „laudato si, mi Signore“ aus dem Assisi-Hymnus (siehe Beispiel auf Seite 40).

Da an keiner Stelle von „discAntico“ wirklich gesungen wird und auch Sprechgesang ausdrücklich vermieden werden soll, sind statt Sänger bevorzugt Sprecher zu besetzen, die an allen Seiten im Saal um das Publikum herum plaziert werden. Es handelt sich eben nicht um einen „Cantico“, sondern um einen „Dis-Cantico“. Die Wahl des Werktitels ist typisch für Muenz, dessen Titel meistens einen konkret materialen oder kompositorischen Sachverhalt benennen und zugleich ein sprachspielerisches, anagrammatisches Eigenleben führen, das unterschiedliche Beziehungsfelder und Assoziationen öffnet.

Sprachproben

Muenz’ jüngste Sprachkomposition sind die zwischen 2001 und 2003 entstandenen „SprachProben“, deren Interesse dem Lautinventar und der Satzmelodie zweier vom Aussterben bedrohter Sprachen gilt, der albanischen Minderheitensprache Arbëresh aus Mittel- und Südita­lien und dem Istrorumänischen Žejanski aus dem gleichnamigen Dorf auf der istrischen Halbinsel. Die Komposition besteht aus zehn Einzelstücken, die in beliebiger Folge und Auswahl aufgeführt werden können. Es sind „Ästhetisch-phonetische Feldnotizen aus den Jahren 2001–2002 für VokalistInnen, Instrumente und elektronische Klänge“, die jeweils in sehr unterschiedlicher Weise aufgezeichnet sind: im phonetischen Alphabet, in Frequenzkurven, graphischen Spektrogrammen, herkömmlicher Notation und/oder auf Tonband.

Ein Stück aus den „SprachProben“ ist das zwischen 2001 und 2003 entstandene „fromAnts“ für zwei phonetische SprecherInnen (Frauen- und Männerstimme), Sopranino-Blockflöte und B-Klarinette. Als Ausgangsmaterial dient eine kurze Hexen- oder Geistererzählung auf Arbëresh einer alten Frau aus dem süditalienischen Dorf Ginestra. Muenz analysierte die Sprachaufnahme, markierte Wortgrenzen und Sinneinheiten, ermittelte die Durchschnittsfrequenzen der vorkommenden ersten beiden Vokalformanten und übertrug sie auf zwei Sprecher. Für die Artikulation des Texts ordnete er der Frauenstimme ausschließlich Vokale, der Männerstimme ausschließ­lich Konsonanten zu, so daß beide Parts eng ineinander greifen. Der Sprachmelodieverlauf folgt dem Duktus der Originalerzählung, erinnert in seiner Übersteigerung und Künstlichkeit aber zuweilen an den artifiziellen Sprechgesang der chinesischen Oper. Die Instrumentalisten spielen dazu colla parte, indem sie strikt den Vokalisten folgen und mit ihren Tonhöhen die ersten beiden Formanten nachzeichnen. Die ersten beiden Tonhöhenmaxima der Obertonschwingungen der verschiedenen Vokale werden auf diese Weise exakt ausinstrumentiert, der erste mit der Klarinette, der höhere zweite mit der Blockflöte. Die Dauern der Vokale sind gedehnt, entsprechen aber den Proportionen der originalen Erzählung. Der Titel „fromAnts“ spielt verschlüsselt auf das enge „Formant“-Verhältnis zwischen vokalen und instrumentalen Aktionen an und beschreibt zugleich den Tonhöhenverlauf der Sopranstimme, deren graphische Umsetzung in der Partitur den Komponisten an die Pfade von „Ameisen“ – Englisch „ants“ – erinnerte.8

Wie „fromAnts“ ist auch „Kurven-Wege“ für Baßflöte, Baßklarinette und Sprachklänge von 2003 ein Teil von „SprachProben“. Mit den Baßinstrumenten wird der Grundtonverlauf der spezifischen Sprachmelodie des Istro­rumänischen möglichst getreu nachzuzeichnen versucht, was jedoch nur ansatzweise gelingt, da die Sprache mit ihren permanenten Glissandi zu beweglich ist und zahlreiche kompositorische Entscheidungen erfordert. Über Zuspielband werden die instrumentalen „Erzählungen“ mit originalen Sprachaufnahmen teils parallelisiert, teils kontrastiert oder fortgesetzt. Auch in anderen Stücken von „SprachProben“ werden mit Blockflöten und Lotosflöten, deren Schieber beliebige Glissandi ermöglichen, sprachanaloge Intonationsverläufe, imaginäre Dialoge und sogar ganze Gesprächsrunden nachgebildet, ohne daß tatsächlich Sprech- und Gesangsstimmen beteiligt wären. Den unmittelbar körperlichen, latent gestischen und szenischen Charakter, den die Sprachklänge vermitteln, beabsichtigt Muenz unter dem Arbeitstitel „erravisse non ignominiosum“ (geirrt zu haben ist keine Schande) demnächst in einem Musiktheaterprojekt eventuell mit integrierter Tanzchoreographie weiterzuentwickeln.

Gemeinsam ist allen Muenzschen Sprachkompositionen der Versuch, die Grenzen zwi­schen Sprache, Literatur und Musik auszuloten und immer wieder auf andere Weise ins Fließen zu bringen. Die spezifischen Laut- und Ausdrucksqualitäten beziehungsweise unmittelbar körperlichen Äußerungsformen von Sprache sollen zu Musik werden. Seine ästhetische Phonetik steht auf der Grund­­lage der artikulatorischen, auditiven und akustischen Pho­­netik sowie im Kontext der konkreten Poesie und der neuen Vokalmusik der fünfziger und sechziger Jahre von György Ligeti, Luciano Berio, Hans G Helms, Karlheinz Stockhausen, Dieter Schnebel, Hel­mut Lachenmann und anderen. Sie folgt Schne­bels Gleichung von „Artikulation als Expression“9 und entdeckt gerade in semantisch lee­ren und sinnlosen Sprachlauten besonders starke emotionale und emotionalisierende Kräfte. Statt mit Worten Geschichten zu erzählen, vermittelt sie mit zumeist nonverbalen Sprach­lauten viel direkter anthropologische Befindlichkeiten, Gefühls-, Lebens- und Erlebensbe­reiche. Sprachklänge sind in besonderem Ma­ß mit persönlichen, kollektiven und archaischen Erfah­rungen aus Geschichte, Gegenwart, Literatur, Kunst, Fernsehen, Radio und Alltag gesättigt. Das gilt für die Vokalmusik von Nono und Schnebel ebenso wie für die Sprachmusik von Harald Muenz. Soweit dabei der Computer zum Einsatz kommt, dient er vorwiegend als Hilfsmittel zur De- und Umkonstruktion von Texten, um Sprache zu entsemantisieren und ihre konkrete Sonorität hervortreten zu lassen.

Das simpelste Mittel, Sprache zu entsemantisieren, bedarf jedoch keinerlei Technik. Es besteht einfach darin, fremde Sprachen zu wählen, die inhaltliches Verstehen von vornherein unterbinden und stattdessen die Aufmerksamkeit auf das jeweilige Lautinventar lenken. Muenz erzielt diesen Effekt, wenn er in seinen Sprachkompositionen bevorzugt Fremd- und Minderheitensprachen verwendet. Abgesehen von den körperlichen und affektiven Qualitäten, die sich über Sprachbarrieren hinweg un­mittelbar mitteilen, bleiben dabei jedoch Nuancen und feinere Konnotationen der unbekannten Sprachlaute verborgen. Das Hörerlebnis verläuft umso differenzierter und komplexer, je mehr die Sprachlaute über ihre bloße Klanglichkeit hinaus dem Hörer Zugänge zu Kultur, Geschichte, Literatur, Geographie und Alltagsleben ihres jeweiligen Herkunftslands eröffnen. Bei bekannten Sprach­lauten kann der Hörer in einen Dialog mit den realen kulturellen Konnotationen der Sprachlaute treten, statt auf unbekannte Sprachlaute nur mehr oder minder beliebig assoziierend zu reagieren.

Bei jedem Projekt bleibt die Kombination von entsemantisierten Sprachlauten und semantischem Gehalt eine Gratwanderung. Sind die verwendeten Sprachen bekannt und erkennbar, wird Sprache schnell einseitig inhaltlich wahrgenommen und auf ihre Semantik verkürzt, der spezifisch artikulatorische und akustische Aspekt dagegen tendenziell überhört. Da unter wirkungsästhetischem Blickwinkel die spezifischen Materialeigenschaften von Sprachkompositionen ohnehin nationalen, regionalen oder gar lokalen Beschränkungen unterliegen, sind jedoch Versuche auf diesem Gebiet in jedem Fall ratsam. Warum in die Ferne schweifen zu unbekannten Fremd- und Minderheitensprachen, wo doch so viel interessantes Sprachmaterial direkt vor der Haustür liegt? Zum Beispiel das Schwäbische von Muenz’ süddeutscher Herkunft oder das Kölnische seiner rheinischen Wahlheimat oder das Deutsch-Türkische seiner Nachbarn im Kölner Stadtteil Ehrenfeld oder die Art und Weise des Sprechens über Musik seines Kollegen- und Bekanntenkreises. Ansätze hierzu finden sich in Muenz’ Œuvre in „deChiffrAGE“, „schweigenderest“ und den jüngsten Arbeiten mit dem von ihm initiierten und geleiteten Ensemble „Sprechbohrer“ und den „Ästhetischen Phonetikern“, die sich aus Studierenden des Phonetischen Instituts der Universität zu Köln zusammensetzen.

Vokal-instrumentale Interaktionen

Für die koreanische Pianistin Hwa-Kyung Yim schrieb Muenz 2001 „ope-seynsu. (k)eine Klanginstallation“ für Klavier und Random Compact Disc. Angeregt wurde das Stück durch die drei verschiedenen Plosivlaute (gespannt, behaucht, ungespannt), die an Wortanfängen im Koreanischen jeweils verschiedene lexikalische Bedeutungen zur Folge haben. In Analogie zu diesen Plosiv-Varianten verzeichnet die Kopfzeile der Partitur drei mal drei verschiedene Interpretationsanweisungen: 1. drei Gespanntheitsgrade (gespannt, behaucht, ungespannt), welche die Spielhaltung der Pianistin bestimmen, 2. drei elementare Ereignisarten (Impuls, Repetition, gehalten) und 3. drei Verhaltensweisen (kontrastierend, imitierend, komplementär), mit denen die Interpretin auf die Lautsprecher-Zuspielungen reagiert, die in unvorhersehbarer Reihenfolge von einer Compact Disc erklingen. Auf der Grundlage der graphisch-symbolischen Anweisungen soll die Pianistin innerhalb von zwanzigsekündigen Zeitklammern flexibel auf die Compact-Disc-Klänge reagieren, und zwar in beliebiger Reihenfolge oder gleichzeitig mit drei verschiedenen Materialbereichen: 1. Impulsklängen und Pedalaktionen verschiedener Dichte, Lage und Dynamik, 2. Pedalaktionen und Ereignissen im Inneren des Instruments, wozu auch Holzstäbe, Plektren, Schlegel, Hartgummibällchen, sogenannte Flummis und Streicher­bogenhaare nötig sind, und 3. Akkorden, deren Anzahl, Rhythmus und Dynamik beliebig gewählt oder die in sukzessive Figuren aufgelöst werden können. Unter Umständen kommt es zwischen diesen Materialbereichen zu Interaktionen, wenn sich bestimmte Spieltechniken fortsetzen, verstärken, variieren oder aufheben.

Das Stück lebt vom medialen Kontrast zwischen den realen Klavierklängen und den Zuspielungen von der Compact Disc, die ebenfalls drei Materialebenen enthalten: 1. einzelne koreanische Laute, vor allem Plosive, die neutral und affektlos gesprochen werden und der Pianistin die entsprechenden Spannungsgrade anzeigen, 2. perkussive Klänge und Geräusche, welche die Interpretin mit perkussiven Aktionen auf verschiedenen Bauteilen des Instruments beantworten kann, und 3. Klaviersamples und elektronische Keyboard-Sounds bis hin zu billigen General-MIDI-Synthi-Klängen in der Art klingelnder Handys. Die abgestuften Ähnlichkeits- oder Entfernungsgrade zwischen den realen Klavierklängen und den digital aufbereiteten Zuspielungen schaffen reizvolle Kontraste oder Entsprechungen. Zuweilen erscheinen die diminuierenden Klavierklänge durch die Zuspielungen übernatürlich verlängert oder in irreale Crescendi verwandelt. Oder es kommt zu Divergenzen zwischen sicht- und hörbaren Aktionen, wenn die Pianistin in einer bestimmten Weise agiert und gleichzeitig ganz andere Klänge zu hören sind, oder wenn sie pausiert und dennoch Klavierklänge vernehmbar werden. „Eine“ beziehungsweise „keine Klang­installation“ ist das Stück – wie sein Untertitel anzeigt – insofern, als die variablen Zuspielungen einen festgelegten Klangraum schaffen, in dem sich die Solistin frei und doch stets darauf bezogen bewegt.

Eine etwas problematische Beschränkung von „ope-seynsu“ liegt in der konzeptionellen Konzentration auf eine bestimmte Interpretin und deren Muttersprache. Wer mit dem Koreanischen nicht vertraut ist, wird kaum die engen Verbindungen zwischen den Sprachklängen der Compact Disc und den live produzierten Klavierklängen wahrnehmen können. Die Pianistin reagiert auf der Grundlage sprachlicher Parameter, die den meisten Mitteleuropäern unbekannt sein dürften. Wird diese Interaktion aber nicht wahrgenommen, bleibt die eigentliche Idee des Stücks unbemerkt. Die koreanischen Sprachklänge auf der Compact Disc wirken dann lediglich als unverständliche Fremdkörper und das Klanggeschehen über weite Strecken unzusammenhängend und – weil scheinbar allzu frei – beliebig. Der Werktitel ist die koreanische Entlehnung des englischen Begriffs „open sense“ und thematisiert damit sowohl die Aufmerksamkeit des Gehörsinns, den die Pianistin zum Reagieren auf die Zuspielungen ebenso braucht wie die Zuhörer, als auch die prinzipielle Offenheit beziehungsweise Nicht-Festlegbarkeit von sprachlichem und musikalischem Sinn innerhalb des offenen Konzepts. Indes bedeutet der Begriff „ope-seynsu“ im Koreanischen nicht offener Sinn in dieser doppelten Bedeutung, sondern Mißverständnis. Sprache kann eben auch, wo sie von den einen verstanden wird, von den anderen mißverstanden werden. Desgleichen gilt von Musik.

Das 2001 entstandene Schwesterwerk von „ope-seynsu“ ist „ariche“ für Baßflöte und zufallskontrollierten Compact-Disc-Player. Das Stück besteht aus instrumentaler, vokaler und sprachlicher Artikulation. Es basiert auf Texten aus dem „Diario in tre lingue“ von Amelia Rosselli in Italienisch, Englisch und Französisch. Sein Titel ist eine Wortschöpfung der Dichterin, welche die Kompilation dieser drei Sprachen besonders sinnfällig macht. Wie „ope-seynsu“ wird „ariche“ von der Flötistin nach Stoppuhr parallel zu einem Compact-Disc-Player gespielt, dessen zweiundzwanzig verschiedene Tracks in zufälliger Reihenfolge wiedergegeben werden, bis alle ein Mal erklungen sind und das Stück zu Ende ist. Die drei Artikulationsformen von Instrument, Stimme und CompactDisc-Klängen treten dabei sowohl sukzessive als auch gleichzeitig in verschiedenen Kombinationen auf, so daß es zu unterschiedlichen Klangresultaten kommt. In die Flöte gesprochene oder geflüsterte Silben werden durch das Instrument gefiltert, so daß Konsonanten verstärkt oder durch Tonhöhen gefärbt werden, während gleichzeitig gespielte und gesungene Töne Schwebungen bewirken. Da die Ergebnisse dieser Intermodulationen zu komplex sind, um durch die übliche Resultatnotation fixiert werden zu können, verwendet Muenz drei verschiedene Aktionsanweisungen: Reguläre Töne notiert er in herkömmlicher Notenschrift, Vokalisationen im internationalen phonetischen Alphabet und ungefähre Sprach- beziehungsweise Gesangsmelodien in graphischen Verlaufskurven. Hinzu kommen Anweisungen für Klappenschläge sowie zum Ein- und Ausatmen. Zusammen kommunizieren Blasinstrument, Lippen, Kehle, Lunge eine teils unterkühlte und artifizielle, teils ausdrucksstarke und assoziationsreiche Sprachmusik.

Wie im Flötenpart sind die Klänge auf der Compact Disc elektronisch mehr oder minder stark verfremdete Rezitationen des Rosselli-Texts. Die drei Sprachen erscheinen verzerrt, verklirrt, zumeist verlangsamt und unnatürlich glissandiert. Es entsteht ein Sprachduktus zwischen Affektiertheit, Artifizialität und resignativem Ausdruck. Immer wieder werden auch einzelne Worte und Sätze verständlich, darunter solche mit unzweideutig musikalischer Bedeutung: „variations“, „volume“, „rhythm“, „accents“, „dynamiques“, „timbro“, „dinamico“, „il tempo“ und „il sonno provoca la musica“. Musik erklingt nicht nur, sondern wird als Teil des Klang- und Sprachverlaufs auch wörtlich beim Namen genannt, so daß das, was über die reine Klanglichkeit der gesprochenen oder gesungenen Sprache hinausweist, durch den Textsinn wieder in die Musik zurückführt. Indes wird beim Hören ein Großteil der Aufmerksamkeit durch den Versuch absorbiert, das Gemisch aus teils gut, teils kaum oder gänzlich unverständlichen Sprachbrocken zu entziffern. Über der Durchdringung der Musik mit Sprache droht dadurch zuweilen die Musikalität der Sprache überhört zu werden. Mit ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen inhaltlichen Greifbarkeit erweist sich Sprache als zu dominant gegenüber der semantisch weitgehend unfaßlichen Musik.

„… hin zu einer neuen Welt…“

Eine andere Gewichtung erfährt das Verhältnis von Musik und Sprache in „articulated strings“ (2002). Die Instrumentalisten agieren hier zwar ebenfalls durchgängig als Sprecher, jedoch ohne eine bestimmte, mehr oder minder verständliche Textvorlage. Obwohl die Vokalaktionen durch ein Gedicht Gertrude Steins angeregt wurden, beschränken sich die semantischen Teile auf wenige versprengte englische Worte. Gleichrangig behandelt sind Sprach- und Instrumentalartikulationen auch dadurch, daß sie alle als Aktionen mit „Saiten“ fungieren, egal ob es die Darm- beziehungsweise Stahlsaiten von Gitarre, Harfe und Violonello sind oder die menschlichen Stimmbänder. Analog zu den Saiteninstrumenten, die gezupft, gestrichen, gepreßt und verzerrt werden, verfahren die Musiker mit ihren Stimmbändern: eben „articulated strings“. Das sprachliche Lautmaterial konzentriert sich auf die fünfzehn bis zwanzig verschiedenen Vokale der unterschiedlichen englischen Idiome, die die Musiker – im Idealfall „native speaker“ – in der Weise ihrer jeweiligen englischen, amerikanischen, kanadischen, schottischen oder walisischen Herkunft aussprechen sollen. Von daher leitet sich auch der englische Titel des Stücks ab.

Wie in „ariche“ und anderen Stücken spielen auch in „articulated strings“ Tonhöhen nur eine untergeordnete Rolle. Die gängige intervallische beziehungsweise skalierte Stimmung der Instrumente ist strikt zu vermeiden und die Partitur bietet lediglich globale Angaben zu Ak-tion, Klangart, Dichte, Tempo, Zusammenspiel und unterschiedlichen Lagen. Die Musiker bewegen sich in einem weiten Interpretationsrahmen von time-brackets, innerhalb derer sie relativ frei agieren und reagieren können, so daß eine Folge verschiedener klanglicher beziehungsweise „akustischer Situationen“ ohne erkennbare formale Dramaturgie entsteht. Inwiefern das Resultat dem vom Komponisten angestrebten Objektivitäts- und Neutralitätsideal entspricht, ist schwer zu entscheiden, da jede Zurücknahme des kompositorischen Subjekts zugleich den interpretativen und rezeptiven Subjektivismus befördert. Statt die Wahrnehmung auf die „akustischen“ Klangobjekte zu richten, kann das intentionslose Werk auch umgekehrt die Interpreten zur Expression subjektiver Intentionen ermutigen und die Rezipienten zur Innenschau der eigenen Assoziationen und Hörerfahrungen verleiten. Dies ist freilich kein spezifisches Problem der Musik von Muenz, sondern betrifft Cages gewollt intentionslose Musik ebenso.

„articulated strings“ ist eine von Muenz’ experimentellen Kompositionen, die sich erst im Zuge ihrer praktischen Realisierung konkretisiert. Dasselbe gilt von „writing“ für zwei Spieler an einer kontaktmikrophonierten Großen Trommel mit Zuspielband und Klangregie, das 1998 entstand und in die jeweils aktuelle Realisa­tion eine Tonbandaufnahme der vorangegangenen Aufführung integriert, welche ihrerseits als Tonbandzuspielung Eingang findet in die nächste, übernächste und alle weiteren Aufführungen ad infinitum. Eine Realisation prägt sich der nächsten ein und wird zugleich von den nachfolgenden überschrieben. Die Musik integriert ihre eigene Rezeptionsgeschichte. Ein mobiles, veränderliches und stark improvisatorisches Stück ist auch „The Abyss of the Eyes. Eine komponierte Installation“ für Blockflöte, Gitarre, Klavier und Live-Elektronik von 2003, in dem die Interpreten durch ein Gemisch aus herkömmlicher Notation, graphischen Symbolen und verbalen Anweisungen innerhalb eines fixierten Zeitrahmens klare Material- und Aktionsanweisungen erhalten, die Art und Weise der Ausführung ihnen jedoch im einzelnen selbst überlassen bleibt.

Der offene, experimentelle Ansatz von Muenz’ Musik ist dem italienischen Komponisten Franco Evangelisti verpflichtet, der Zeit seines Lebens darum rang, die herkömmlich hierarchische Notationsweise zu überwinden, um stattdessen eine veränderliche, unabgeschlossene und jeder Verdinglichung entzogene Musik zu schaffen, welche die schöpferische Freiheit, Flexibilität und Kompetenz der Musiker integriert, statt sie zur Exekution star­rer Vorgaben herabzuwürdigen. Wie Evangelisti hat auch Harald Muenz den Mut zum Experiment und die Ausdauer für die Suche nach Unvertrautem. Auch er strebt in seiner Musik – mit allen Risiken und Chancen des Scheiterns und Gelingens – „hin zu einer neuen Welt“10 von „unbegrenzten Räumen und Möglichkeiten“.

1Italo Calvino, Il re in ascolto, in: Sotto il sole giaguaro, Mailand: Oscar Mondadori, 2000, ins Deutsche übersetzt von Burkhart Kroeber, Ein König horcht, in: derselbe, Unter der Jaguar-Sonne, München: dtv, 1991, 95

2Vergleiche: Rainer Nonnenmann, Musik an den Rändern und Bruchstellen. Ein Email-Interview mit Harald Muenz, in: MusikTexte 103, 58.

3Ebenda, 56.

4Programmheft Porträtkonzerte Harald Muenz 3. und 4. April 2003 in der Karl Rahner Akademie und der Kunst-Sta­tion Sankt Peter Köln, 5.

5Harald Muenz im Gespräch mit dem Verfasser am 29. März 2004.

6Harald Muenz, Werkkommentar zu „…und weil die da ...“, in: Programmheft Porträtkonzerte Harald Muenz, am angegeben Ort, 13.

7Helmut Lachenmann, Er taugt nicht als Ikone, in: MusikTexte 46/47, Köln 1992, 93.

8Harald Muenz in einer Email an den Verfasser vom 12. März 2004

9Dieter Schnebel, Die Tradition des Fortschritts und der Fortschritt der Tradition, in: derselbe, Anschläge – Ausschläge. Texte zur Neuen Musik, München: Hanser, 1993, 121.

10Vergleiche: Harald Muenz (Herausgeber), … hin zu einer neuen Welt. Notate zu Franco Evangelisti, Saarbrücken: Pfau, 2002.