MusikTexte 105 – Mai 2005, 85–86

Schwanengesang?

Der vielleicht letzte große Jahrgang des Stuttgarter Festivals „Eclat“

von Rainer Nonnenmann

Nach Arbeiten an der Schnittstelle von Musik zu Literatur und Film im letzten Jahr widmete sich das diesjährige Festival Neue Musik Stuttgart „Eclat“ Kompositionen an der Grenze zum Sprech- und Bühnentheater. Die Neuen Vocalsolisten Stuttgart präsentierten Gianluca Ulivellis Komposition „Fadensonnen“, deren reduziertes Material mit chromatischen Pendelfiguren in Celanscher Manier das Äußerste an Melodie und Gesang erreichte. Julio Estradas „Hum“ ist Teil einer im Entstehen begriffenen Oper und spielt mit dem Titel auf das phantasmagorische Stimmgewirr in der mexikanischen Unterwelt an, könnte aber ebenso gut der Comicsprache entlehnt sein angesichts der Fülle vorsprachlicher Infantilismen, affektiver Artikula­tionsweisen, Sprachstörungen und vor den Mund gehaltenen Fäusten. Imaginäres Theater mit expressivem, folkloristischem und animalischem Lautmaterial ist auch Sergej Newskis „… was fliehen Hase und Igel …“ nach Einar Schleef. Alexander Knaifels Märchenpossen „Die Petrograder Spatzen“ (1967) und als Uraufführung „Popen und sein Knecht Balda“ bemühen die russische Theatertradition von Gogol und Charms, erweisen sich aber – zumal ohne Russischkenntnisse – als musikalisch kalauernde Schmonzetten, deren vordergründige Humorigkeit die Sänger zusätzlich veralberten, was das amüsierte Publikum mit Ovationen quittierte, dankbar dafür, daß neue Musik endlich mal als so lächerlich vorgeführt wird, wofür man sie immer schon hielt.

Den musiktheatralischen Höhepunkt bildeten zehn zehnminütige Musik-Theater-Miniaturen unterschiedlicher Komponisten, Regisseure, Tänzer und Schriftsteller für jeweils drei Darsteller zum Thema „Großstadt nachts“, die nacheinander auf drei kleinen Bühnen abliefen und eine der urbanen Thematik angemessene kaleidoskopische Wahrnehmungssituation hervorriefen. Im Rahmen der sonst gelungenen Gesamtkoordination war die elektronische Verstärkung bei einigen Nummern zu laut und bei anderen zu leise, wie etwa bei „nachts“ von Carola Bauckholt, deren Gespräch zwischen drei Frauen bei einer Taxifahrt durch München nahezu unverständlich blieb. Mit den Beschränkungen durch Thema, Budget, Zeit, Anzahl der Protagonisten und Guckkasten-Bühne gingen die Beteiligen unterschiedlich um. Matthias Herrmann zeigte eine Nachtschicht im Krankenhaus, Juliane Klein Menschen im Hotel, Robert HP Platz einen Soldaten im Unterstand und der Festivalleiter Hans-Peter Jahn eine Märchencollage über eine Schaufensterpup­pe, in der ein Mädchen bei nächtlichem Strom­ausfall seine Mutter erkennt. Am engsten an die Aufführungssituation hielten sich Michael Beil und Thierry Bruehl. Über Digitalanzeigen ließen sie die zehn Minuten und dafür aufgewendeten zehntausend Euro abzählen, von Louis-Ferdi­nand Céline die Beschreibung eines nächt­lichen Bombardements verlesen und den Countertenor Daniel Gloger zehnmal die Bühnenrampe durchmessen und gleichzeitig Mozarts „Königin der Nacht“ absingen, deren fauchende Rachearie mit der Kostümierung als Gentleman mit Melone und Schirm wie auf Bildern von René Magritte surreal kontrastierte.

Einen zweiten Leitfaden durch das Festival bildeten neue Klavierwerke. Reinhard Febel lotete in seinen „Paganini-Variationen“ jeweils spezielle pianistische Techniken aus (enge und weite Lagen, Umgreifen, Cluster, Flageoletts, Nachklänge, Tastenaufheben et cetera) und stellte seine „Sonatas 1–7“ sieben Sonaten von Domenico Scarlatti mit ähnlichen technischen Problemen gegenüber. Beide Serien sind Etüdenwerke, deren einheitlich akkordischer und repetitiver Klangeindruck hinter den mit Titel und Gattungsbezeichnung geweckten Erwartungen zurückbleiben, was teilweise auch an den blassen Interpretationen durch Thomas Hell und Michael Iber lag. Ebenfalls auf reines Tastenspiel beschränkte sich Bernhard Lang in „DW 12 cellular automata“. Nachdem sich Langs „Differenz/Wiederholungs“-Prinzip zu erschöpfen drohte, erhält es mit dem halbstündigen Klavierstück jetzt eine überraschende Wendung im Sinne von Nähe und Ferne zu historischem Material. Aus minimalistisch repetierten Floskeln bilden sich Lisztsche Akkorde, ein großes Free Jazz-Solo à la Cecil Taylor, Anklänge an Boulez’ zweite Klaviersonate und Saties „Gym­no­pédies“, an George Antheils neusachliche Motorik, Strawin­skys Ragtimes und Chopinsche Valses. Mit bizarren Verschlingungen und harten Schnitten verrät das monströse Stück – von Heather O’Don­nell mit viel Schwung vorgetragen – einen stark retrospektiven Zug zum romantischen Geist von Schumanns „Kreisleriana“ oder „Humoreske“, und es bleibt abzuwarten, ob es eher den Anfang neuer Differenzen oder eine Stagnation in Wiederholungen markiert.

Im Konzert des SWR Vokalensembles Stuttgart erklangen erstmals Ivan Fedeles „Odos“, das sich schnell in eintönigen Psalmodien und blumigen Figurationen verliert, und Heinz Holligers „Shir shavur“ auf zwölf Gedichte von David Rokeah. Bei fast völligem Verzicht auf erweiterte Vokalpraktiken blieben die ständigen Umgruppierungen des Chors ohne merkliche Auswirkung und der typisch chorische Schmelzklang zu monochrom und dynamisch-deklamatorisch zu undifferenziert. Das Konzert des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart unter Johannes Kalitzke brachte mit der „Sinfonie Opus 27“ der Konzeptkünstlerin Hanne Darboven eine ebenso stupide wie dilettantische Transformation von Datumszahlen in Töne. Eindrücklicher läß sich Langeweile kaum demonstrieren. Jedes Strickmuster ist lebendiger. Aus hundert Einsendungen wurde Sven-Ingo Koch mit „Und.
Weit.Flog“ als diesjähriger Träger des zum zweiten Mal ausgeschriebenen Stuttgarter Kompositionspreises ausgewählt. Sein Stück beginnt mit einer Collage einschlägiger Texte von Berlioz und Richard Strauss über die Verschmelzung von Instrumenten im Orchester, gibt diesen selbstreflexiven Zug jedoch bald auf zugunsten selbstgenügsamer Erzählungen privater Erlebnisse und anekdotischer Tanz-Einschübe. Michael Reudenbachs zweiteiliges Orchesterstück „Sonnenbrenner / Abdruck“ beginnt mit energiereichen Crescendi und endet mit zarten Streicherflächen, deren scheinbare Zeitlosigkeit uhrwerkartige Schlagzeug-Pulsationen und verständliche Datums­angaben in einem ansonsten unverständlichen Sprechtext gegenüberstehen. Im Gegensatz zu Darbovens klingelndem Zah­lenfetischismus wird Musik hier erlebbar als bewegtes Bild der Ewigkeit und zugleich als Symbol der Vergänglichkeit (Sonnenbrenner ist ein Basalt, der unter Sonneneinwirkung schnell verwittert).

Das Abschlußkonzert von SWR Sinfonieorchester und SWR Big Band brachte Erkki-Sven Tüürs eklektizistische Fünfte Sinfonie und „Stepping Stone“ des Stuttgarter Saxophonisten und Jazz-Professors Bernd Konrad auf Martin Luther Kings berühmte Rede „I have a dream“. In hand­fester konzertanter Manier trafen hier unter der souveränen Gesamtleitung des jungen estnischen Dirigenten Olari Elts drei unterschiedliche Musizierweisen auf­einander: die strikte Koordination des Orchesters, die disziplinierte Freiheit der Big Band und die improvisierende Spontaneität des Jazz-Quartetts mit besonders suggestiven Soloeinlagen des Schlagzeugers Günter „Baby“ Sommer und der holländischen Stimmkünstlerin Greetje Bij-­ma. Diese Opulenz der Mittel könnte bei „Eclat“ dieses Jahr vielleicht zum letzten Mal zu erleben gewesen sein. Die Menge an zehn Konzerten mit achtundzwanzig Uraufführungen (einschließlich der zehn Theaterminiaturen) sowie das Festival insgesamt sind akut bedroht durch die Sparauflagen des SWR, der sich bis spätestens 2008 aus der Kooperation zurückziehen und das SWR Vokalensemble reduzieren wird, und das gerade jetzt, wo sich das Festival vor Ort und national erfolgreich als feste Größe der neuen Musik etabliert hat.