MusikTexte 108 – Februar 2006, 3–7

Von der guten Verwirrung

Zum Themenschwerpunkt Nicolaus A. Huber

von Rainer Nonnenmann*

Gebt acht! denn das müßt ihr, um nicht alles auf den Kopf zu stellen. – Gebt aber auch nicht zu sehr acht, um nicht mehr zu sehen und zu hören, als man euch hat zeigen wollen. – Gebt acht! gebt aber ja auf die rechte Art acht! hört zu! hört zu! zu! zu!! zu!!!

Ludwig Tieck1

Nicolaus A. Huber, 1939 in Passau geboren, gehört zu den wenigen Komponisten, die sich bis heute zu einer im weitesten Sinne politischen Grundhaltung ihrer Arbeit bekennen. Seine seit Ende der sechziger Jahre entstandenen Werke, Essays und Werkkommentare werfen Fragen auf nach dem Verhältnis von politischem Anspruch, künst­lerischer Absicht, kompositorischer Umsetzung und ästhetisch-politischer Wirkung. Der Versuch, Gehalt, Botschaft und Wirkung seiner Musik – auch ohne verbalen Beistand ihres Urhebers – zu benennen, bildete von Anfang an eine Rezeptionskonstante im Umgang mit seinem Œuvre. Auch sämtliche in diesem Heft versammelten Beiträge zu Nicolaus A. Huber widmen sich entweder ausdrücklich den kultur-, medien-, gesellschafts- und ideologiekritischen Implikationen seiner Musik oder berühren diesen Themenkomplex zumindest am Rande. Anhand verschiedener Werke unterschiedlicher Schaffensphasen wird aus jeweils anderem Blickwinkel dem politischen Zentralnerv von Hubers Denken in und über Musik nachgespürt. Seit Ende der sechziger und noch deutlicher seit Anfang der neunziger Jahre ist Hubers Arbeit nicht mehr zu trennen von drei ästhetischen Grundkonstanten, die hier vorab eingeführt, gebündelt und ergänzend beleuchtet werden: Welthaltigkeit, erweiterte Material- beziehungsweise Tonalitätskritik sowie latente Modernität der Tradition und der Dichtung Friedrich Hölderlins.

Der Abdruck der Texte über Huber erfolgt in umgekehrter Chronologie. Den Abschluß bilden somit die Beiträge von Reinhard Oehlschlägel und Mathias Spahlinger, die bereits 1977 beziehungsweise 1982 in direkter Folge der Uraufführungen der besprochenen Orchesterstücke „Gespenster“ und „Sphärenmusik“ entstanden. Wie andere Texte auch haben sie im Kleinen Musikgeschichte mitgeschrieben und die Rezeption von Hubers Musik mitgeprägt. Im Laufe von über zwanzig beziehungsweise fast dreißig Jahren wuchs ihrem Informa­tionsgehalt als Werkeinführungen auch dokumentarischer Wert zu, so daß sie zum Zeitpunkt ihrer Erstveröffentlichung bereits selbst als musikhistorische Quellen erscheinen. Wie die Werke selbst sind insbesondere die in den Werkkommentaren enthaltenen Original-Töne Hubers gedanklich und sprachlich von der allgemeinen Politisierung im Zuge der 1968er Studentenbewegung geprägt. Hubers Bezeichnung von Beethovens späten Streichquartetten als „typisch bürgerliche Musik“ verdankt sich beispielsweise dem damals in linkspolitischen Kreisen verbreiteten antibourgeoisen Affekt und verdeutlicht die Veränderungen seines Musikdenkens, die ihn später im Sinne von Ernst Bloch das „Unabgegoltene“ der Musik der Vergangenheit freilegen und in Beethovens zerklüfteten späten Quartetten und Bagatellen schließlich Vorboten der neuen Musik des zwanzigsten Jahrhunderts erkennen ließen.

Tatsächlich zeigen Hubers um 1990 entstandene Werke und Schriften eine grundlegende ästhetische Neuorientierung, die sich auch in den Sekundärtexten niederschlägt. Während die genuin kompositorischen Qualitäten von Hubers Musik infolge des gesellschaftspolitisch dominierten Diskurses und Hubers eigenen Äußerungen vorübergehend in den Hintergrund zu geraten drohten, werden sie in neueren Beiträgen von zumeist jüngeren Autoren, die ihr Augenmerk besonders auf harmonische Prozesse richten, eigens herausgestellt. So geht beispielsweise Cornelius Schwehr in „Don’t fence me in“ von 1994 den strukturellen und semantischen Bedeutungen tonaler Akkordstrukturen nach und analysiert Jörg Birken­kötter eines der Charakterstücke aus dem Klavierzyklus „Pour les Enfants du paradis“ von 2003 detailgenau auf die Tonhöhenorganisation.

Politische Musik

Ähnlich der Wende, die Hubers Lehrer Luigi Nono 1979/1980 mit seinem Streichquartett „Fragmente – Stille, An Diotima“ vollzogen haben soll, deuten Hubers nach 1990 entstandene Werke auf einen Vorzeichenwechsel. Der Komponist selbst bekannte, er habe damals auf tiefgreifende Veränderungen der weltpolitischen und ästhetischen Rahmenbedingungen reagieren wollen: auf das Ende der zwischen den Machtblöcken in Ost und West gespannten bipolaren Weltordnung, die lähmende Alternativlosigkeit gegenüber einem durch Globalisierung und zerbrechende Solidargemeinschaften zunehmend ungehemmten Kapitalismus, die postmoderne Gleichwertigkeit und daraus folgende Gleichgültigkeit des Materials sowie den Umstand, daß sich weder eine Theorie noch eine internationale Praxis oder Gruppierung abzeichnete, welche auf diese Veränderungen angemessen reagiert hätte. Während Huber 1976 in „Gespenster“ den Rhythmus des „Dachau-Lieds“ als Chiffre der – durch das Vorbild Hanns Eislers bestärkten – Hoffnung auf eine politisch aktive und ästhetisch avancierte Arbeiterkultur auf einer kleinen Trommel hatte schlagen lassen, verabschiedete er sich fünfzehn Jahre später 1990/91 im ersten der „Drei Stücke“ für Orchester von der lieb gewonnenen Utopie einer direkten politischen Einflußnahme durch Musik in Form einer auskomponierten Desillusionierung: dem „Abschied von der kleinen Trommel“.

An die Stelle des Trommlers von Politbotschaften und agitatorischen Proklamationen mittels Spruchbändern, Titeln, Texten, Widmungen während der sechziger, siebziger und achtziger Jahre trat nach 1990 ein Komponist, der durch Aufzeigen innermusikalischer Abhängigkeitsverhältnisse und Emanzipationsmöglichkeiten allenfalls indirekt analoge außermusikalische Strukturen zu beleuchten sucht. Bei allen augen- und ohrenscheinlichen Veränderungen seiner ins „Mikropolitische“ verlagerten Praxis zeigt Hubers Schaffen zugleich erstaunliche Kontinuitäten. Schon Ende der sechziger Jahren hatte er im Zuge der Auseinandersetzung mit der Tiefenpsychologie von Carl Gustav Jung die Auffassung vertreten, Tonalität beruhe auf angeborenen und über Jahrmillionen kollektiv vererbten, unbewußten, libidinösen, archetypischen Dispositionen der menschlichen Psyche.2 In einem ähnlichen, wenn auch abstrakteren und erneut stark erweiterten Sinn definierte er Tonalität fünfundzwanzig Jahre später als „die Pflege und Entfaltung des Ich-Kerns, die Versicherung des Nahbereichs“.3 Während sich seine Vorgehensweise und Einschätzung der Einflußmöglichkeiten von Musik veränderte, hielt er bis heute am Anspruch fest, durch möglichst genaue Kritik von im weitesten Sinne tonalen Material- und Rezeptionsstrukturen mittelbar auch auf allgemeine Mechanismen des Wahrnehmens, Deutens, Wertens einwirken zu können.

Verglichen mit Hubers Parteinahme für die Arbeiterkultur, die er mit seiner Übersiedlung nach Essen 1969 kennen lernte, und verglichen mit seinen Äußerungen über die Zugehörigkeit von Fortschritt und revolutionärem Geist zur Arbeiterklasse, kann er heute nirgends mehr weder Klassen noch revolutionären Geist erkennen. Obgleich durch persönliche Erfahrungen bescheiden geworden an der von Archetypen durchdrungenen Realität und den begrenzten Wirkungsmöglichkeiten von Musik, vertraut er weiterhin auf die Chance, zumindest „im Nahbereich“ und Kleinen „ein bißchen minipolitisch“ zu sein (vergleiche den Beitrag von Hanno Ehrler).

Im Zusammenhang mit seinem jüngsten Ensemblewerk „Werden Fische je das Wasser leid?“ von 2004 erweist sich sein Hinweis auf das „Neglect-Syndrom“ als doppeldeutig. Seine Beschreibung des Phänomens, daß trotz voll funktionierender Sinnesorgane bestimmte Objekte oder Ereignisse der rechten oder linken Raumhälfte nicht wahrgenommen werden, zielt sowohl auf den „embedded journalism“ während des zweiten Irakkriegs als auch auf den Umstand, daß Musik selbst zuweilen unter diesem Symptom leidet und Huber sein Stück nur komponieren konnte, weil er den Krieg während der Arbeit ausblendete. Beides unterstreicht die Chancen und Grenzen politischer Einflußnahme. Ästhetisch avancierte Musik kann gerade auch dann, wenn sie nicht direkt auf Zeitpolitik reagiert, blinde Flecken der Wahrnehmung erhellen und die Hörer durch Sensibilisierung für sich und ihre Umwelt politisieren. Denn jede Veränderung der Wahrnehmung und jedes Aufbrechen bestehender Konditionierung ist bereits politisch.

Wer darüber hinaus – zumal ohne fundierte Analyse der materialen Substanz und kategorialen Struktur oder Werkidee – versucht, konkret (zeit)politische Aspekte in Hubers Werken dingfest zu machen, läuft leicht die Gefahr einer pauschalisierenden und damit den Kern der Werke verfehlenden Anwendung der Musik auf die herrschenden schlechten Verhältnisse beziehungsweise umgekehrt einer Projektion der Nöte der Zeit auf die Musik. Letztlich bleibt alle Musik hilflos hinter den realen Schrek­ken des Kriegs zurück, den noch keine Musik zu verhindern wußte. Wer anderes behauptet, erfüllt – und seien die Gründe noch so redlich und nachvollziehbar – letztlich nur Alibi-Funktionen, welche die eigene Ohnmacht und das daraus erwachsende schlechte Gewissen beruhigen.

Welthaltigkeit

Eine Konstante in Hubers Schaffen ist die gezielte Konfrontation üblicherweise getrennter Sphären von Kunst und Leben, Musik und Alltag. Sein undogmatisch offener Material-, Musik- und Werkbegriff schließt die Integration unterschiedlicher Epochen, Stile und Musiksparten ebenso ein wie den Einsatz verschiedener Medien, Kunst, Film, Geräusche, Tonband-, Platten- und Kassetten-Zuspielungen, Texte, Gedichte, Politparolen, Klosprüche, Naturgegenstände, szenische, theatralische, slapstickhafte Einlagen und strukturanaloge Übernahmen von Prinzipien und Praktiken aus Gesellschaft, Religion, Politik, Natur, Traum, Psyche, Körper, Sport. Stets gilt es dabei wechselseitig die spezifischen Eigenschaften und Parallelen dieser Sphären und Materialien aufzuschlüsseln. Während Hubers multimediale Werke der späten sechziger und frühen siebziger Jahre – nicht zuletzt in Abgrenzung vom seriellen Reinheitsideal – zuweilen collage- und happeningartige Züge annahmen, beschränkt er sich seit den neunziger Jahren darauf, den gesetzten kategorialen Rahmen häufig erst am Ende der Stücke durch eine „Freß“-, „Tisch“- oder „Muskel-Coda“ zu sprengen, um das bisherige Geschehen abschließend aus veränderter Perspektive zu beleuchten. Auch „Werden Fische je das Wasser leid?“ verfügt über eine solche finale Wendung, bei der Sängerin und Dirigent über herumliegendes und unter ihren Füßen zerknirschendes Plastikgeschirr von der Bühne abtreten und damit wie in Bertolt Brechts epischem Theater signalisieren: Die Party ist vorbei, das Leben hat uns wieder, beziehungsweise mit Hubers politisierendem Werkkommentar gesprochen: „Die Bush-amerikanische Kriegspolitik hat der Ruhe und Gemütlichkeit der Postmoderne einen entscheidenden Schlag versetzt“.

Aufgrund des Einsatzes heterogener Materialien aus inner- und außermusikalischen Zusammenhängen sind Hubers Stücke in hohem Maße mit Semantik aufgeladen. Sie erfordern daher inhaltliche Deutungen und Analysen der kohärenten Verbindungen zwischen den divergenten Materialien. Dem tragen auch die hier publizierten Texte Rechnung. Oehlschlägel zeigt an „Gespenster“ die dialektische Kontrastierung von typischen Elementen der Popular- und Volksmusik, namentlich einem bayerischen Zwiefachen, mit typischer Avantgardemusik, Geräuschen der Arbeitswelt, einem Textzitat von Peter Maiwald, einem Arbeiterlied von Eisler und Brecht sowie dem „Dachau-Lied“. Spahlinger erörtert an „Sphärenmusik“ den Sozialcharakter unterschiedlicher Musiksphären zwischen bürgerlicher Tradition und Avantgarde sowie Alltags- und Arbeiterkultur. Dabei geht er besonders auf die Idee der „konzeptionellen Rhythmuskomposition“ ein, die Huber Ende der siebziger Jahre entwickelte, um auf der Basis ametrischer und atonaler Impulsfolgen mittels spezifisch rhythmischer Modulationstechniken auch tonale, ethnische, textgebundene und unmittelbar körperlich wirkende Rhythmen in seine Musik zu integrieren.

Volker Blumenthaler beschreibt an „Offenes Fragment“ von 1991 die Gegenüberstellung von Hölderlins spätem Gedicht „Der Winter“ mit der mafiosen Schlager- und Schläger-Welt Frank Sinatras. Schwehr analysiert das Holzbläsertrio „Don’t fence me in“ von 1994 auf jazzharmonische Fährten von und zum gleichnamigen Stück des amerikanischen Musical-Komponisten Cole Porter. Birkenkötter – Kompositionsschüler Hubers während der achtziger Jahre – stellt an „Dripping“ aus dem Klavierzyklus „Pour les Enfants du paradis“ von 2003 Analogien zur Bildenden Kunst her, namentlich zu Jackson Pollock. Sven-Ingo Koch charakterisiert die Musik seines ehemaligen Lehrers im Spannungsverhältnis von Strenge und Offenheit für Fremdes. Und Hannes Seidl – wie Koch einer der jüngsten Huber-Schüler – erörtert anhand neuerer Werke die kompositorische Integration von popkulturellen „Fremdkörpern“ beziehungsweise die mit inszenierten Brüchen und Interpolationen verfolgten Wirkungsabsichten im Hinblick auf analoge Verfremdungs- und Montagetechniken bei Marcel Duchamp und Jeff Koons. Auch der Abriß über ältere Werke von Jörn Peter Hiekel und die Beiträge über jüngere Stücke von Ehrler und Stefan Amzoll berühren die Abhängigkeit der Bedeutung und Umdeutung heterogener Materialien vom jeweiligen semantisch-strukturellen Kontext.

Erweiterte Material- und Tonalitätskritik

Erstmals mit Gegenüberstellungen verschiedener Lebens-, Ausdrucks- und Sinnesbereiche arbeitete Huber in „Aion“ für vierkanaliges Tonband und Gerüche von 1968/72. Kurz darauf formulierte er im Zusammenhang mit „Anerkennung und Aufhebung“ für vier Filme, drei zweikanalige Tonbänder und verschiedene Spiegel ad libitum die Idee des „kritischen Komponierens“, die seither seine und die Haltung einer ganzen Kompositionsrichtung benennt, für die Namen wie Helmut Lachenmann, Spahlinger und andere stehen. Huber definierte und praktizierte „kritisches Komponieren“ damals als analytisches Komponieren, bei dem komplexe Phänomene in elementare Einzeleigenschaften zerlegt und getrennt vorgeführt werden. Statt Klänge, Techniken, Formen, Ausdrucks- und Artikulationsweisen unhinterfragt als Bestandsstücke eines wie auch immer gearteten Stilideals zu verwenden, sollten ihre inner- und außermusikalischen, historischen und im weitesten Sinne gesellschaftlichen Besetzungen und Funktionen einer gründlichen Autopsie unterzogen werden. „Kritisches Komponieren“ sollte zugleich Kritik des Komponierens sowie Kritik der Rahmenbedingungen der Musik und des Musikhörens sein.

In Anlehnung an den historischen Materialismus von Karl Marx und die Frankfurter Kritische Theorie begann Huber Ende der sechziger Jahre gezielt, charakteristische Phänomene der Musik zu untersuchen: einzelne Tonhöhen und Intervalle, lange Dauern, Wiederholungen, Tonalität, Körper, Rhythmus, Stille, Piano, Crescendo, Abstrahlcharakteristik, Raum. Statt mit diesen Mitteln einfach nur bestimmte kalkulierbare Wirkungen hervorzurufen, ging es ihm um die Analyse der historischen, sozialen, psychischen und physischen Bedingungen der mit diesen Phänomenen erzielten Gesten, Affekte, Suggestionen, Magien, Gefühle, Ekstasen. Die Genauigkeit und der Horizont seiner analytischen Reflexion sowie die Konzentration seiner „Kritik“ auf jeweils ganz bestimmte Phänomene sind bis heute vorbildlich. Huber erfaßte selbst die körperlichen Voraussetzungen der Klangerzeugung, die Aktionsradien, Anstrengungen und Kraftaufwendungen der Instrumentalisten und Sänger, die sich zum Beispiel bei extrem lauten, hohen und/oder langen Tönen als spezifische „Menschenklangfarbe“ in den Klängen niederschlagen, zumal wenn die Musiker gleichzeitig Kniebeugen zu machen haben wie in „Anerkennung und Aufhebung“ – ein Stück, das nicht umsonst im Rahmenprogramm der Münchner Olympiade 1972 uraufgeführt wurde.

Indem Huber die materialen und magischen Eigenschaften der Klänge mit Röntgenblick durchleuchtet, sucht er zugleich die Hörer für die inner- und außermusikalischen Bedingungen ihres Wahrnehmens und Verstehens zu sensibilisieren. Er legt an Musik den „Als-ob-Charakter“ frei, indem er zeigt, was die Klänge an sich konkret akustisch-physikalisch sind und was aus ihnen seit den kultischen Ursprüngen der Musik im Laufe von Jahrhunderten gemacht wurde. Seine Kompositionen sind metasprachliche Darstellungen von Musik als einem historisch gewachsenen Sprachsystem gestischer, syntaktischer, formaler Darstellungsfunktionen. An die Seite direkter Mitteilung von und durch Musik tritt die Mitteilung der Art und Weise des musikalischen Mitteilens, so daß dem Hörer beim Erleben von Musik im Idealfall zugleich die Bedingungen der Musik und des Musikhörens bewußt werden. So erfüllt sich „kritisches Komponieren“ letztlich erst im „kritischen Hören“, das durch den Katalysator materialkritisch komponierter Musik allenfalls be­fördert werden kann. Hieraus zieht Hubers Musik ihren Ansporn und hierin findet sie zugleich ihre Grenzen.

Musik über Musik

Huber komponiert „Musik über Musik“ und vollzieht damit etwas, was die Literaturwissenschaft an modernen Texten als semiotische Wende beschrieben hat. Indes weiß Huber, daß es ohne Bezeichnetes kein Bezeichnendes gibt, ohne Musik keine Metamusik, ohne Wahrnehmung keine Selbstwahrnehmung und ohne lockende Sirenen keine heroische Vorüberfahrt des Odysseus. Seine intendierte Emanzipation des Komponierens und Hörens von traditionellen Prägungen und archetypischen Gewohnheiten setzt das Erlebnis unmittelbar körperlicher, emotionaler, assoziativer Klangwirkungen voraus. Soll fundamentale Material- und Wahrnehmungskritik nicht – wie die rigorose Eliminierung „tonaler Reste“ im Serialismus – ihren Bezugspunkt verlieren, muß sie tonale Reaktionsweisen erst einmal hervorrufen. Huber verfolgt daher eine Dialektik von Einfühlung und Distanz, Magie und Entzauberung, rituellem Inszenieren und anatomischem Sezieren der Klänge sowie von „Leidenschaft und Disziplin, wie der bezeichnende Aufführungshinweis zu Beginn des Orchesterstücks „Morgenlied“ von 1980 lautet. Er beschwört tonale, auratische, magische, kultische Wirkungen in dem Maße, wie er sie bricht oder unterläuft. Seine Musik verstößt damit ebenso gegen den „guten Geschmack“ wie gegen den „guten kritischen Geschmack“ und wirkt daher nach allen Seiten verunsichernd.

Den kritischen Ansatz vom Anfang der siebziger Jahre setzt Huber in jüngeren Arbeiten fort. Nach wie vor möchte er über archetypische Gebrauchsfunktionen, Wahr­nehmungsreflexe und Bedingungen der Produk­tion, Rezeption und Distribution von Musik aufklären. Entgegen seinen früheren kulturrevolutionären „Provokationsmodellen“ und „Arbeitspapieren“, die mit maoistischer Radikalität überkommene Strukturen überwinden wollten, entfalten spätere Werke lediglich durch präzise Materialkritik kultur- und gesellschaftskritische Implikationen. Huber war zur Einsicht gelangt, daß Musik nicht restlos säkularisierbar und von tonal-archetypischen Reflexen zu befreien ist. Angesichts seiner erweiterten Bestimmung von Tonalität als „Versicherung des Nahbereichs“ bleibt jede noch so radikale Tonalitätskritik – sowie die gesamte neue Musik – letztlich Bestandteil eben dieses wie weit auch immer verzweigten Nahbereichs, den sie zu sprengen sucht. Man kann höchstens Versuche zur Emanzipation von alten Präformationen, Standardisierungen, Zwängen und Automatismen unternehmen. Das Ideal einer vollkommen „gereinigten“ Musik aber bleibt eine Illusion. Insofern Huber auf eine Überwindung des nachgerade mythisch Bestehenden auf dem Boden des Bestehenden zielt und jeder Mythos bereits den Keim von Aufklärung in sich trägt, wurde sein Komponieren in Anlehnung an den Philosophen Hans Blumenberg gelegentlich als „Arbeit am Mythos“ beschrieben.4 Vor diesem Hintergrund führen wohl nicht von ungefähr einige seiner jüngsten Werke die Namen mythologischer Gestalten wie Orpheus, Prometheus und Medusa im Titel.

Friedrich Hölderlin und das musikalische Erbe

Die in den Jahren vor und nach 1990 entstandenen Werke Hubers sind gekennzeichnet durch eine intensive Beschäftigung mit der Dichtung Friedrich Hölderlins. Statt die ästhetische oder philosophische Bedeutung Hölderlins für sein Schaffen zu beschreiben, beschränkte sich Huber zumeist darauf, die Strophen, Verse, Verben, Adjektive, Substantive, Silben und Vokale einzelner Gedichte zu zählen und das gewonnene Zahlenmaterial akribisch auf Dauern, Repetitionen, Einsatzzeitpunkte, Tempi und Formverläufe zu übertragen und Zahlenproportionen in Intervallverhältnisse umzusetzen. Ein eindrück­liches Beispiel für seine an Manie grenzende Obsession des Zählens und Aufspürens von Goldenen Schnitten und Fibonacci-Reihen in Hölderlin-Texten oder Werken von Bach, Beethoven, Schumann, Webern geben seine hier erstmals veröffentlichten „Plaudereien und Beobachtungen“. Auch mancher Sekundärtext forscht diesem generativen numerischen Technizismus nach. Trotz seiner sonst auffallenden Zurückhaltung mit inhaltlichen Deutungen verwies Huber gesprächsweise auf mögliche sozialpolitische Lesarten von Hölderlins Lyrik, so daß Amzoll gerade im Hinblick auf die Hölderlin-Kompositionen der neunziger Jahre zum Schluß kommt, Hubers Musik sei auch nach 1990 „kritisch und anarchisch“ geblieben.

Ebenso wichtig wie Hölderlin wurden für Huber seit Anfang der achtziger Jahre Elemente der älteren, tonalen Musiktradition. Im Sinne des Erbe-Begriffs von Bloch und Eisler begann er nach unausgeschöpften Entwicklungs- und Innovationspotentialen der Musik der Vergangenheit zu forschen, um sie für das gegenwärtige Musikschaffen fruchtbar und für heutige Hörer wieder neu erlebbar zu machen. Zahlreiche Werke enthalten seitdem tonale Strukturen und Bezüge zu Musik von Bach, Mozart, Schumann, Debussy, Satie und anderen. Bei allem aufklärerischen Impuls zeigt Hubers Musik in ihrer Traditionsbezogenheit, Magie, Verschlüsselung, Mehr­­deutigkeit und gelegentlichen Schrulligkeit „roman­tische“ Züge. Entgegen verzerrenden Klischeevorstellungen wollten schon die Romantiker, insbesondere die Frühromantiker, durch die Bizarrie ihrer quertreiberischen, phantastischen Kunst nicht einfach Wirklichkeiten abbilden, sondern immer auch Blick- und Hörwinkel verändern und selbstreflexive Prozesse in Gang setzen, indem sie die Wahrnehmung von alltäglichen Sichtweisen und einengenden Schematisierungen befreiten und in Literatur und Musik das spezifisch literarische beziehungs­weise musikalische Material und Medium selbst thematisch werden ließen. Im Sinne solch über sich selbst aufgeklärter Kunst möchte Hubers Musik den Hörer doppelt sensibilisieren, sowohl für die Bedingungen von Wirklichkeit und Kunst als auch für die Bedingungen des Wahrnehmens von Kunst und Wirklichkeit.

Huber ist in seiner Musik zugleich Romantiker und Avantgardist, Moderner und Postmoderner, feinsinniger Ästhet und offensiver Provokateur, hintersinniger Ironiker und akribischer Konstrukteur, Musterschüler und Querulant, Mann für das Grobe und das Zarte. In seinen Stük­ken haben streng rational ablaufende Umbau-, Additions-, und Abspaltungsprozesse plötzlich völlig irrationale Ergebnisse zur Folge und begegnen vernünftigerweise fern aller Vernunft immer wieder seltsam frei vagierende Elemente, die er als „Shrugs“, als ratloses Achselzucken bezeichnet hat. Trotz und auch gerade wegen ihrer Dichte, Strenge und Rationalität behält seine Musik immer ein Moment des Verschlungenen, Dunklen, Rätselhaften, Ungreifbaren, Fremden und brodelnd Irrationalen: „Je nun, eine gute Verwirrung ist mehr wert, als eine schlechte Ordnung.“5

1Ludwig Tieck, Die verkehrte Welt. Ein historisches Schauspiel in fünf Aufzügen, in: Derselbe, Werke in vier Bänden Band II, München: Winkler, 1978, 275.

2Nicolaus A. Huber, „Traummechanik“ und „Parusie“ (1969), in: Derselbe, Durchleuchtungen. Texte zur Musik 1964–1999, herausgegeben von Josef Häusler, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 2000, 8.

3Nicolaus A. Huber, Vom körperlichen Grund in „Beds and Brackets“ (1995), in: Durchleuchtungen, am angegebenen Ort, 281.

4K. Rainer Nonnenmann, Arbeit am Mythos – Studien zur Musik von Nicolaus A. Huber, Saarbrücken: Pfau, 2002.

5Ludwig Tieck, am angegebenen Ort, 345.

* Der Autor hat den Huber-Schwerpunkt (Seite 26–70) für die MusikTexte zusammengestellt und betreut.