MusikTexte 111 – November 2006, 95
Tanzplatz der Musen
Thierry De Mey beim „Jump Cut Special“ der SK-Stiftung Köln
von Rainer Nonnenmann
Schon immer traten in Oper, Film und Tanz verschiedene Künste zusammen, Mit Hilfe neuer interaktiver Medien, Video, Computer, Live-Elektronik verfransen sie sich heute zu einem dichten Knäuel, bei dem kein Strang vom andern mehr zu trennen ist. Wer an einem Faden zieht, bewegt alle anderen mit. Immer mehr Künstler tummeln sich auf dieser bunten Spielwiese. Die Ergebnisse jedoch gleichen oft grauen Sandburgen oder Wühlkisten mit Bildern und Klängen wahllos durcheinander: Jacke wie Hose.
Bei Thierry De Mey ist es anders. Die Arbeiten des belgischen Komponisten und Filmers sind interdisziplinär im besten Wortsinne, ein Tanzplatz aller Musen. Sie standen im Zentrum des „Jump Cut Special“, einer Veranstaltung der SK-Stiftung Kultur der Stadtsparkasse Köln-Bonn mit grenzüberschreitenden Sprüngen und Schnitten zwischen Film, Theater, Tanz und Musik zum dreißigjährigen Bestehen der Stiftung. Eine von De Meys frühesten auskomponierten Ganzheiten von sichtbarer Bewegung und hörbarem Klang ist die vielerorts gespielte „Musique de tables“ von 1987. Mit Klatschen, Schleifen, Schlagen, Schnippen entfalten drei Spieler auf bloßen Tischen ein hoch virtuoses Hand- und Fingerballett, das über Kontaktmikrophone und Lautsprecher verstärkt zugleich als packende Schlagzeug-Performance hörbar wird: eine „Tafelmusik“ der anderen Art, mit bewundernswerter Präzision dargeboten von Mitgliedern des „LandesJugendPerkussionsEnsemble SPLASH“ des Landesmusikrats NRW, das seit zwei Jahren existiert und seit Anfang des Jahres auch öffentlich auftritt.
Vielfach preisgekrönt wurde De Mey für seine Tanzfilme, zu denen er die Filmregie und gelegentlich auch Filmmusik beigetragen hat, während die meisten Choreographien von Anne Teresa de Keersmaker und Wim Vandekeybus stammen. Sie sind von eindrücklicher Poesie, Rhythmik und Bildkraft. In der neuen Raum-Bild-Installation „Barbe Bleue“ von 2006 prägen sich kreisende Videos von Tänzerinnen in engen, katakombenartigen Gängen in den jeweiligen Raum der Aufführung ein. Umgekehrt schreiben sich die Winkel der Wände des Raums in den Film. Statt das Publikum in diesem offenen Bild-Raum-Licht-Gefüge sich bewegen zu lassen, fokussierte eine Bestuhlung wie im Kino den Blick auf die einzige fixierte Leinwand, auf der Dutzende verschiedene „Männer“ vom Kind bis zum Greis das Kunstmärchen vom Herzog Blaubart in kurzen Sequenzen erzählen. In „Love Sonnets“ von 1994 bewegen sich Tanzpaare nach der Choreographie von Michèle und Anne de Mey über eine riesige Halde zerbrochener Tonscherben, die unter ihnen klirren und rieseln wie der Scherbenhaufen zerbrochener Lieben. Obwohl die immer wilderen Aktionen genug Klang erzeugen, wird ihnen plötzlich eine furiose Cembalo-Toccata von Scarlatti unterlegt. Das durchbricht zwar das Konzept, gibt dem schnell geschnittenen Film aber einen perkussiv vorwärts treibenden Schwung. In „Dom Svobode“ von 2000 agieren sechs schwarz gekleidete Tänzer nach der Choreographie von Iztok Kovac zu elektronischen und konkreten Klängen von Metall, Geröll und Stein-Schlägen auf einer weißen, fast senkrechten Felswand. Wie Marionetten werden sie an Drahtseilen gehalten. Da sie dabei mehr nach unten als zum Fels gezogen werden, können sie sich auf der Steilfläche mit verminderten Schwerkraft wie auf dem Mond bewegen, teils schneller und schwereloser, teils mit zeitlupenhaft verlangsamten Sprüngen und Stürzen. Dabei gelingen intensive Bilder vom Menschen als Abgrund und des Leben als schiefer Bahn zwischen Hängen und Fallen. Als TV-Preview zu erleben war der von ARTE produzierte Film „One Flat Thing, reproduced“ von 2006 mit der Choreografie von William Forsythe, Musik von Thom Willems und der TV-Regie von Thierry De Mey.
Während der französische Schlagzeuger Jean Geoffroy eine Aufführung der Chaconne aus Bachs Partita d-Moll auf dem Marimbaphon zur sichtbaren Choreographie der vier eng ineinander greifenden Schlegel werden ließ, agierte er in der deutschen Erstaufführung von De Meys „Light Music“ von 2004 ausschließlich sichtbar ohne jedes akustische Instrument. Dank Licht- und bewegungsempfindlicher Sensoren greift er nur mit den Händen Klänge aus der Luft wie der Dirigent eines unsichtbaren Orchesters oder ein Schlagzeuger auf imaginären Trommeln. Geschwindigkeit, Formen und Rhythmen seiner Gesten werden zeitgleich über Video sichtbar gemacht, verfremdet, versetzt, überlagert oder zu Linien gedehnt. Sichtbare Bewegung wird hörbarer Klang und erneut bewegtes Bild. Eines schraubt sich ins andere. Die wortungetüme Bezeichnung des Stücks als „Interaktives PerformanceInstallationsKonzert“ benennt zwar die beteiligten Elemente des Ganzen, zerspaltet aber ihre unverbrüchliche Einheit, für die es auch heute noch keine besseren Namen gibt als: Kunst und Schönheit.