MusikTexte 112 – Februar 2007, 97–98

Tönend bewegte Bauklötzchen

Das vierte, James Tenney gewidmete Kölner Festival „Computing Music“

von Rainer Nonnenmann

Jede Musik hat ihre Gesetze, Techniken, Verfahren, Instrumente, die sich mit der Zeit und den allgemeinen technologischen Entwicklungen ändern. Eine ganz eigene Spezies von Komponisten, Tüftlern und Erfindern versucht, Musik mit einem Gerät zu machen, das längst die meisten Bereiche unseres täglichen Lebens bestimmt. Treffpunkt einer internationalen Szene von Computermusik-Spezialisten ist seit vier Jahren das Kölner Festival „Computing Music“. Mit Po­diums­ge­sprächen, Installationen, fünf Konzerten und eigens für die Veranstaltung entstandenen fünfzehn Uraufführungen aus ver­schiedenen musikalischen Anwendungsbereichen des Computers feierte die Initiative Musik und Informatik Köln e. V. (GIMIK) ihr eigenes zwanzigjähriges Bestehen und zugleich die Entstehung der Computermusik vor fünfzig Jahren. Gewidmet war die Veranstaltung dem bereits eingeladenen, aber im August 2006 verstorbenen Computermusik-Pionier James Tenney.

Das Eröffnungskonzert stellte neuen Kompositionen drei Schlüsselwerke vom Anfang des Computerzeitalters gegenüber: die 1962 entstandenen Streichquartette von Tenney und Iannis Xenakis, wo stochastische Normalverteilungskurven – wie so oft bei Xenakis – als Glissando­­­linien hörbar werden, sowie die „Illiac Suite“ von Lejaren Hiller. Der amerikanische Komponist und Musiktheoretiker war der erste, der 1957 den Großrechner ILLIAC I der Universität Illinois mit exemplarischen Satz- und Kompositionsregeln der Musikgeschichte speiste, um ihn mit diesem Input die erste Computerkomposition ermitteln zu lassen. Das Resultat fällt entsprechend rückwärtsgewandt und denkbar unfuturistisch aus: eine gleichmäßig dichte, motorische Musik, nicht unähnlich der linearen Kontrapunktik der Neuen Sachlichkeit der zwanziger Jahre, die gleichwohl einen eigentümlichen Sog entfaltet. Während Michael Obst sein „Arcus“ als einen Klangbogen zwischen realem und elektronischem Streichquartett spannte, ließ Françoise Barrière – einzige Frau unter dreißig Komponisten – ihr flirrendes Streichtrio „Oriental“ gleich­zeitig über Lautsprecher wie eine Fata ­Morgana hoch über der Bühne schweben. Höhepunkt des Abends war das Streichquartett des achtzigjährigen Alt­meisters der elektronischen und Computer­musik Gottfried Michael Koenig. Das Minguet Quartett verhalf den klanglich-gestischen Charakterminiaturen zu expressivem Leben und ließ ihnen nichts von den zugrunde liegenden Rechenprozeduren anmerken: vielleicht nicht das schlechteste Kompliment für Computermusik.

Die Diskussionsrunden unter Leitung des GIMIK-Gründers Klarenz Barlow widmeten sich der Geschichte und Rolle des Computers als Werkzeug und – wie Bruno Spoerri hervorhob – „intelligentes“ Instrument, das in Echtzeit auf das reagieren kann, was auf ihm gespielt wird. Neben technoidem Erfahrungsaustausch über Vor- und Nachteile diverser Computermusikprogramme, die am eigentlichen Gesprächsgegenstand „Aesthetics of Realtime Sound Processing“ weitgehend vorbeigingen, drehte sich die Runde vor allem um das Komponieren mit Algorithmen, also mit exakten Arbeitsanweisungen zum Lösen von Rechenaufgaben in eindeutig festgelegten und wiederholbaren Schritten, die auch von einer Rechenmaschine ausgeführt werden können. Alle Teilnehmer bestanden auf ihrer persönlichen Freiheit bei der Definition der kompositorischen Aufgaben und der Prüfung ihrer Ergebnisse sowie dem Ziel, mit Hilfe des Computers zu Resultaten jenseits der eigenen Vorstellungskraft zu gelangen. Indes arbeiten die meisten mit marktgängiger Hard- und Software, statt genuin eigene Programme zu entwickeln wie etwa Barlow und Koenig, der in diesem Zusammenhang an die Utopie der frühen elektronischen Musik erinnerte, emphatisch neue Musik gerade mit Klängen zu komponieren, die im Gegensatz zu den herkömmlichen Musikinstrumenten nicht von vornherein schon musikalisch gehört werden konnten. Bei jüngeren Musikern, die sich entsprechend lieber als Klangkünstler oder Soundartisten bezeichnen, führe die Tendenz heute jedoch immer weiter weg von Musik als gestaltetem Dokument des menschlichen Geistes hin zu Akustik, Sound und Klangkunst. Aktuellen Bedarf sehen viele Künst­ler-Programmierer in der Weiterentwicklung neuer Interface-Möglichkeiten, die flexiblere Interaktionen zwischen Mensch und Maschine erlauben, woran auch die internationale Spielkonsolen-Industrie un­ter Hochdruck arbeitet.

Von einer Reihe ausschließlich elektronischer und computergenerierter Kompositionen schienen vie­le Koenigs Skepsis zu bestätigen und der Verführungskraft des beliebig abrufbaren Fundus an Klängen zu erliegen. Sie glichen anekdotischen Collagen aus Alltags- und Naturgeräuschen, primitiven Reihungen, psychedelischen Klang­wolken oder Soundtracks zu imaginären Science-fiction-Filmen: Barry Truax’ „Riverrun“ bot digital aufgemischtes „Rheingold“-Gedröhne, Horacio Vaggiones „Presque Bleu“ beschränkte sich auf aussage-neutrale Klang-Video-Mixturen und Joel Chadabes „One World 1“ sowie Trevor Wisharts „Memories of Madrid“ glichen beliebigen Großstadt-Tableaus. Wenig überzeugen konnte auch die schematische Visualisierung von Musik des Performer-Komponisten Rolf Gehlhaar in dessen „Multiverse“, der Körperbewegungen mit Videokameras aufnahm, sie zu dreidimensionalen Quadratmustern umrechnete und projizierte, um auf diese Weise sämtliche Klangprozesse zu steuern: tönend bewegte Bauklötzchen. Anregender dagegen geriet Dirk Reiths Transformation von Sprache in Klang „verSTIMMUNG“ und Masahiro Miwas von fünf Musikern geklatschte Algorithmen „Jaiken-Beats“. Daß die Sparte Computermusik fest in Männerhand liegt, schien erwartbar. Mehr verwunderte, daß kaum jüngere Komponisten unter vierzig Jahren vertreten waren, die als erste Generation selbstverständlich mit der Präsenz des Computers in Alltags- und Privatleben aufwuchsen.

Die Aufführung von Tenneys „Spectral Canon“ für Player Piano in einer erweiterten Version von Barlow war ein großartiges optisch-akustisches Erlebnis. Durch extreme Verdichtung und Ausweitung der Anschläge über die Tastatur verliert das Instrument seinen spezifischen Klang zugunsten eines stufenlos gleitenden, elektrischen Sirrens. Als widersinnig erwies sich dagegen die Übertragung von Conlon Nancarrows „Toccata“ für Violine und Klavier auf Musikautomaten, da mit der ursprünglichen Duobesetzung für Kla­vier und Geige das Stück sein eigentliches Thema verliert: das Ausloten der jeweiligen Leistungsfähigkeit an der Schnittstelle Mensch-Mensch und Mensch-Maschine. Sämtliche übrigen Stücke entstanden für die computergesteuerten „Logos“-Musikautomaten des belgischen Bastlers Godfried-Willem Raes. Die klingenden und blinkenden Gerätschaften und Schlagwerke entfalteten zunächst eine eigene Poesie. Sie führten den Hörer in Alices Wunderland, wo die Dinge von selbst sprechen und ihr eigenes Leben führen. Jedoch trug die Faszination mechanischer Instrumente nicht über einen langen Abend. Nach und nach verkehrte sich das bunte Jahrmarktsorgeltreiben zu gespenstisch seelenloser Robotermusik. Endgültig entzaubert wurde das Geschehen, als der über sein Maschinenwerk waltende und schaltende Komponist seine Partnerin splitternackt auf dem Boden kniend und herumrutschend von ihm gesteuerte Wassertropfen auffangen ließ. Das war nur peinlich, entwürdigend und zeugte von einer reaktionären Geschlechter-Zuschreibung, die hoffentlich nicht symptomatisch ist für die Männerdomäne Computermusik.