Balkanto
Das „Forum neuer Musik“ im Deutschlandfunk Köln
von Rainer Nonnenmann
Der Balkan ist schlecht beleumundet. Die tatsächlichen und mutmaßlichen Verhältnisse dort stehen hierzulande für Chaos, Niedergang, Zerrissenheit und ewigen Kleinkrieg. Bis in die jüngste Vergangenheit Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen entwickelten sich auf der Halbinsel zwischen Adria und Schwarzem Meer unter wechselnden Machteinflüssen von Venezianern, Türken, Österreichern und Russen verschiedene Ethnien, Religionen, Traditionen. Abgesehen vom gegenwärtig populären Balkan- und „Zigeuner“-Folk gilt die Region musikalisch eher als Terra incognita. Um so größer ist das Verdienst des diesjährigen „Forums neuer Musik“, in fünf Konzerten den Fokus auf das dortige zeitgenössische Musikschaffen gelegt zu haben. Präsentiert wurden neue Werke vorwiegend junger unbekannter Komponisten aus Kroatien, Serbien, Albanien, Griechenland, der Türkei und den neuen EU-Mitgliedsländern Rumänien und Bulgarien.
Die Münchner Deutschtürkin Aylin Aykan eröffnete das Festival mit einem west-östlichen Klangbogen, bei dem das Klavier – Inbegriff europäischer Kunstmusik – durch Schlagen und Zupfen als türkische Zither mit einer alten Üsküdar-Melodie bespielt wurde. Die Fixierung auf modale Volksweisen, die durch Unisoni, Mikrotöne und Umspielungen belebt werden, bestimmte auch den restlichen Abend. Ein Grund dafür mag die wenig ausgeprägte nationale Kunstmusiktradition und Moderne der Balkanländer sein. Eine andere Erklärung liefert vielleicht der Umstand, daß die meisten jüngeren Komponisten nicht dort, sondern in Mittel- und Westeuropa ausgebildet wurden, hier leben und die Folklore ihrer Eltern und Heimatländer nur noch als mehr oder minder imaginäre Erinnerungs- oder Projektionsfläche begreifen. Daß viele die Einstimmigkeit der traditionellen Volksmusik als Mangel empfanden, dem sie mit elektronischen Klangwolken und verhallten Bandschleifenmustern abzuhelfen suchten, zeugte jedenfalls mehr von der Faszination durch westliche Computer-Soundprogramme denn vom Vertrauen in den kompositorischen Reichtum und das innovative Potential der überlieferten Nationalmusiken.
Die halb improvisatorische Gemeinschaftsarbeit „Dodole – Rituals, Songs and Dances from Serbia“ der Komponistin und Sängerin Irena Popovic´ und des aus der Clubbing- und Lounge-Szene kommenden Jürgen Grözinger blieb eine beziehungslose Collage serbischer Volkslieder mit pseudo-auratischen „na-ni-nai“-Vokalisen und deren Vermengung mit typisch westlichen Musikformen, Jazz, Rock und Techno zu folkloristisch angehauchtem Kauderwelsch. Das „European Music Project“ präsentierte sich allenfalls als zweitklassig, auch wenn die Sololeistungen mancher Musiker überzeugten. Statt dieses Projekt- und Telefonensembles hätte man vielleicht besser eine feste Formation aus einem der Balkanländer eingeladen. Immerhin machte das hölzerne, notenfixierte Spiel des Ulmer Ensembles im Kontrast mit den lebendigen Soloauftritten des serbischen Ethnologen Bákos Árpad auf traditioneller Laute und Flöte den prinzipiellen Unterschied von mündlich und schriftlich überlieferter Musizierpraxis hörbar. Kamen die verschiedenen Arten der Klanggebung und rhythmisch-gestischen Artikulation so wenigstens unfreiwillig zum Ausdruck, wurden sie von Bojidar Spassov in „Fiato Continuo II“ eigens kompositorisch thematisiert als Dialog virtuos-exaltierter Oboensoli typisch neuer Musik mit schrillen orientalischen Oboen-Arabesken vom Tonband.
Die bessere Wahl hatte der verantwortliche Redakteur am DLF Frank Kämpfer, mit dem niederländischen Ensemble „Insomnio“ getroffen, das sich unter Leitung von Ulrich Pöhl durchweg auf technisch und musikalisch hohem Niveau bewegte. Die seit zehn Jahren bestehende Formation ist hierzulande – sehr zu Unrecht – noch kaum bekannt. Roderik de Mans „Chromophores“ ließ hochagile Soli auf liegende Tutti-Klänge treffen und Mandolinen-Tremoli durch Ensemble und Zuspielband wandern. Martijn Paddings wirbelnde Spielmusik „Eight metal strings“ wagte zwei, drei Umdrehungen zuviel an Witz und Skurrilität, so daß sich die ironische Leichtigkeit der Musik zuweilen in trübes Schwermetall verkehrte. Neben diesen niederländischen Erzeugnissen stellte das Stück „Sur“ des jungen Türken und Theo-Loevendie-Schülers Sadik Ugras Durmus mikrotonal geschärfte Melodien in eigenwillige Spannungsrahmen von zugleich statisch liegenden und dynamisch vorwärts drängenden Akkorden. Und der in London lebende Albanier Thomas Simaku erzielte in seiner nach dem Ensemble benannten Komposition „Insomnia“ durch wenig konturiertes Dauertremolieren eher einschläfernde „Schlaflosigkeit“.
Die Komponisten-Pianisten Minas Borboudakis und Dan Dediu boten in zwei Klavier-Recitals jeweils eine persönliche Auswahl neuer Werke griechischer und rumänischer Komponisten. Borboudakis spielte Klavierstücke mit und ohne Tonbandzuspielungen im Wechsel mit eigenen Tonband-Samples mikrophonierter Klavierklänge. Dediu bot aus der älteren und mittleren rumänischen Komponistengeneration Stücke von Anatol Vieru und Violeta Dinescu sowie kurze eigene Clownerien für spielende linke und schnippende, klatschende rechte Hand. Seine vierte Klaviersonate opus 60 dagegen ist ein hoch ambitionierter Parcours durch Liszts h-Moll-Sonate, Regers Panchromatik, Debussys schwebende Harmonik, Bartóks Barbarismo und Haydns Menuettkunst. Mit dieser imposanten Ahnenliste von teils amalgamierten, teils hart aneinander montierten Stilistiken bewies er breite Repertoirekenntnis, zugleich aber auch die Notwendigkeit, sich von konservatorialem Muff zu befreien.
Den Abschluß des Festivals bildete eine auskomponierte Performance für Sängerin, Schlagzeug und Live-Elektronik des in Amsterdam lebenden Kroaten Marko Ciciliani. Sein „map of marble“ wollte ein Schlaglicht auf die Folgen der Globalisierung am Beispiel des seit Jahrhunderten auf der adriatischen Ferieninsel Brac abgebauten Marmors werfen. Mittels assoziativer Klangmaterialien sollten die Wege des edlen Gesteins in den Diokletianspalast nach Split, das Weiße Haus in Washington und den Berliner Reichstag musikalisch kartographiert werden. Eine zweite Konzeptionsebene sah vor, ein feststehendes Klanginventar in mehreren Durchgängen von jeweils sechsundzwanzig Minuten Dauer wie durch ein akustisches Kaleidoskop immer wieder anders zu kombinieren: instrumentale und vokale Klänge, Gewittergrollen, ins Wasser fallende Steine, davonfahrende Autos, die Rede eines amerikanischen Präsidenten und des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt – die wohl eher in Bonn als im Berliner Reichstag gehalten wurde. Aber statt in veränderten Kontexten als jeweils neue individuelle Tagesabläufe erlebbar zu werden, schliffen sich die Elemente dieses Klangsteinbruchs während eineinhalb Stunden ab, bis nichts mehr Neues unter der adriatischen Sonne geschah. Der Rest blieb Zikadengezirp.