MusikTexte 114 – August 2007, 14–20

Ein Labyrinth wird besichtigt

Berios Bearbeitungen, Vokal- und Instrumentalwerke anläßlich der MusikTriennale Köln 2007

von Rainer Nonnenmann

Nachdem die MusikTriennale Köln 2004 mit dem Schaffen Luigi Nonos erstmals ein umfangreiches Komponistenporträt im Programm verankert hatte, bot die fünfte Ausgabe des Festivals eine umfassende Retrospektive des Œuvres von Luciano Berio. In fünfundzwanzig Konzerten waren nicht weniger als fünfzig Werke Berios zu erleben, ein Drittel seines Gesamtschaffens. Ergänzt wurde diese weltweit einzigartig voluminöse Werkschau in fast durchweg hochwertigen Interpretationen durch ein Filmporträt, eine Ausstellung und die Publikation einer neunzigseitigen Broschüre im Saarbrücker Pfau-Verlag mit Schriften und Gesprächen Berios, von denen einige erstmals in deutscher Übersetzung aus dem Italienischen, Englischen und Französischen erschienen.1

Während sich die Veranstalter vor drei Jahren auf Nonos achtzigsten Geburtstag berufen und das seit Nonos Tod 1990 stark zugenommene interpretatorische, kompositorische und publizistische Interesse an seiner Musik mit einem bilanzierenden Höhepunkt krönen konnten, gab es für die Berio-Retrospektive keinen derartigen Anlaß. 1925 in der Kleinstadt Oneglia an der ligurischen Küste geboren und 2003 in Rom verstorben, hat Berio bis heute in Deutschland keine vergleichbar intensive Rezeption erfahren. Dabei war er schon seit Mitte der fünfziger Jahre allein in der Kölner WDR-Konzert­reihe „Musik der Zeit“ mit fünf Uraufführungen und mehreren deutschen Erstaufführungen sowie bis in die sechziger Jahre regelmäßig bei den Darmstädter Ferienkursen und Donaueschinger Musiktagen vertreten. Auch wurde Berio noch zu Lebzeiten bei verschiedenen Musikfestivals als Hauptkomponist porträtiert: 1992 beim Beethovenfest Bonn, 1998 beim Schleswig-Holstein Musik Festival und 2000 beim Festival „Musik im 20. Jahrhundert“ des Saarländischen Rundfunks in Saarbrücken. Dennoch blieb sein Œuvre hierzulande wenig bekannt. Eben dieser geringeren Wahrnehmung verdankt sich die Idee, jetzt von Köln aus zu intensiverer Beschäftigung mit seiner Musik anzuregen. Der teils offene, improvisatorische Charakter seiner Werke sollte dabei helfen, programmatische Brücken zum zweiten Triennale-Schwerpunkt „Improvisation“ zu schlagen. Und mit der Beschäftigung des Nachkriegsavantgardisten mit internationaler Volksmusik wollten die Veranstalter den dritten Festivalschwerpunkt „East Side Story: China“ mit traditioneller und neuer chinesischer Musik rechtfertigen.

Trotz der Affinitäten zu Jazz, Volks- und Popmusik sprach Berios Musik deutlich weniger Hörer an als die Nonos 2004. Auch als Persönlichkeit und Denker entfaltet Berio nicht dieselbe Ausstrahlung wie der Venezianer. Aufgrund seiner stilistischen Wandlungen und des universalistischen Anspruchs seines Schaffens ist er weniger faßbar. Vom Solostück bis zum großen Musiktheaterwerk komponierte er für alle Besetzungen und Gattungen, verband instrumentale Klänge mit elektronischen, Altes mit Neuem, Kunst- mit Volks-, Pop- und Laienmusik und zeigt in vielen Werken eine typisch italienische Vorliebe für Theatralität, Virtuosität, Spiel- und Improvisationsfreude. Mit profundem Hand­werk und perfekter Instrumentationskunst beherrschte er unterschiedlichste Stile und Techniken, ohne sich auf eine bestimmte technische oder ästhetische Richtung festzulegen. Seine Auffassung der Musik als einem Labyrinth von Texten unterschiedlichster Konnotationen trug ihm im Verbund mit seiner bis zur Indifferenz reichenden stilistischen Offenheit gelegentlich den Vorwurf des Eklektizismus ein, zumal nachdem seine „Sinfonia“ 1968/69 weltweit als ein Paradigma der musikalischen Postmoderne gefeiert wurde. Daß Berio als Komponist und Dirigent in eigener Sache, als Studioleiter, Ensemblegründer, Konzertveranstalter, Zeitschriftenherausgeber, Lehrer und Musikfunktionär in Europa und den USA Eingang in die großen bürgerlichen Musikinstitutionen fand und dort teils regelrechte Popularität gewann, zudem mit mehreren Ehrendoktorwürden bedacht wurde, kreidete man ihm als „Opportunismus“ und „Bürgerlichkeit“ an.2 Und als er ab 1962 zunächst am Mills College in Oakland/Kalifornien, schließlich von 1965 bis 1971 an der Harvard University sowie an der eher konservativ ausgerichteten Juilliard School of Music in New York unterrichtete, während sich andere in Europa und den USA für die Anti-Vietnamkriegs-Bewegung stark machten, tönten „Kollegen“ und „Parteifreunde“, er habe sich „nach Amerika verkauft“.3

Berio war Gründer und Leiter des Studio di fonologia musicale in Mailand 1955–1960, Initiator und Herausgeber der Zeitschrift Incontri musicali sowie der gleichnamigen Konzertreihe 1956–1959, Leiter der elektroakustischen Abteilung am Pariser Ircam 1974–1980, Direktor der Accademia Filarmonica Romana 1975–1976, Chefdirigent des Orchestra Regionale Toscana 1982, Intendant des Maggio Musicale Fiorentino 1984, Gründer und Leiter des Zentrums für Live-Elektronik Tempo Reale in Florenz ab 1987 und schließlich Präsident der Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom seit 2000. Trotz seiner zahlreichen internationalen Direktions-, Lehr- und Vortragstätigkeiten an verschiedenen Institutionen und trotz seines umfangreichen Werkkatalogs läßt sich seine musikgeschichtliche Wirkung nur schwer fassen. Die für ihn immer wieder reklamierten Materialerweiterungen zur Überwindung der zunehmend dogmatisch auf verfestigte Reinheitsideale sich verengenden seriellen Avantgarde teilte er während der sechziger Jahre mit vielen anderen Komponisten wie Cage, Bernd Alois Zimmermann, Ligeti, Nono, Henze, Schnebel, Kagel, Penderecki. Und wie andere gesellschaftspolitisch engagierte Künstler wollte auch Berio seine Musik verstanden wissen als „geistiges Werkzeug, um den Menschen zu helfen, Beziehungen zwischen den Dingen herzustellen“4, indem er seine frühen offenen Kunstwerke, vielstimmigen Heterophonien, Collage- und experimentellen Vokalkompositionen durch verschiedene Sprachen, Texte, Musikstile, Medien und das gesamten Klangspektrum „vom unverschämtesten Geräusch bis zum vornehmsten Gesang“ gezielt mit außermusikalischen Erfahrungsbereichen auflud. Seine brillant instrumentierten und spieltechnisch virtuosen Werke der achtziger und neunziger Jahre sind dagegen normale Konzertsaalmusik und entfalteten längst nicht die musikgeschichtliche Wirkung, wie etwa die späten Raumkompositionen und live-elektronischen Werke seines gleichaltrigen Landsmanns Nono.

Bei der diesjährigen MusikTriennale erklangen vorwiegend Berios Solo-, Kammermusik- und Ensemblewerke, lediglich zwei seiner zwanzig Orchesterwerke und keines seiner für sein Gesamtschaffen zentralen zwölf Bühnenwerke, so daß trotz des Festivalumfangs zentrale Wege seines labyrinthischen Œuvres unbeschritten blieben. Gut repräsentiert waren dagegen die drei Hauptsäulen seines Schaffens: Sprach- und Vokalkompositionen, virtuose Solowerke und Instrumentalkonzerte, sowie Bearbeitungen von älterer Musik, Volks- und Popularmusik.

Sprach- und Vokalkompositionen

Zeit seines Lebens faszinierten Berio die verschlungenen Pfade des Hörens und Verstehens von Musik und Sprache beziehungsweise die fließenden Übergänge vom einen zum anderen. Der Name des mit Bruno Maderna 1955 am Italienischen Rundfunk RAI in Mailand gründeten Studio di fonologia musicale, das beide bis 1960 zu einem der führenden elektronischen Studios ausbauten, unterstreicht die für Berios gesamtes Schaffen wichtige Einheit von Phonetik, Sprachklang und Musik. Nachdem Berio gemeinsam mit Umberto Eco die Onomatopoetik in James Joyces’ epochalem Roman „Ulysses“ untersucht hatte, zerlegte er 1958 in „Tema (Omaggio a Joyce)“ erstmals ein Textfragment daraus in einzelne Phoneme, um auf rein lautlicher Ebene sprachliche und elektronische Klänge nahtlos ineinander gleiten zu lassen. Fortan setzte er sich in allen Spielarten mit dem Doppelcharakter von Sprache als Klang und Bedeutung auseinander, in solistischen, chorischen, konzertanten und theatralischen Werken, mit und ohne Elektronik. Jedes vierte seiner über hundertfünfzig Kompositionen ist ein Vokalwerk. Dabei ging es ihm nicht zuletzt darum, mittels Sprache, Mimik, Gestik und Szene verschiedene lebensweltliche Ausdrucks- und Erfahrungsbereiche einzubeziehen, um durch Musik auch allgemeine Mechanismen des Handelns, Wahrnehmens, Deutens und der medialen Weltvermittlung aufzuschlüsseln.

Im Zwischenbereich von Madrigal und halbszenischem Oratorium bewegt sich „Laborintus II“, komponiert 1965 zum siebenhundertjährigen Geburtstag des Frührenaissance-Dichters Dante Alighieri. Drei Jahre bevor Berio in „Sinfonia“ den Zusammenklang von musikalischen und sprachlichen Ereignissen unterschiedlicher Stile, Intentionen, Epochen und Kontinente zum ästhetischen Programm erhob, forcierte er schon hier das Prinzip der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Dabei folgte er Umberto Ecos Schrift „L’Opera aperta“ von 1962, die erst 1973 in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Das offene Kunstwerk“ erschien. Der Semiotiker und Schriftsteller entwickelte seine für den ästhetischen Diskurs der sechziger Jahre zentrale Theorie auf der Grundlage der vieldeutigen Dichtungen von James Joyce sowie mobiler Formteile und interpretatorischer Gestaltungsfreiheiten in Werken von Boulez, Pousseur, Stockhausen und Berio. Namentlich bezog sich Eco auch auf die Erstfassung von Berios „Sequenza I“ für Flöte von 1958, die dem Interpreten Freiheiten hinsichtlich er zeitlichen Ausgestaltung von Tempo, Metrum und Rhythmik ließ, während Berio in der überarbeiteten Zweitfassung alle Parameter exakt ausnotierte.5 Als zentrale Kriterien für die Offenheit eines Kunstwerks nannte Eco: erstens die Dynamisierung, Variablität und Mobilität der Form, welche die Musik bei jeder Aufführung anders erscheinen lassen, zweitens die Einbeziehung von Unvorhergesehenem, von Zufallselementen und Publikumsreaktionen, und drittens die Zugänglichkeit für verschiedene Les­arten aufgrund textlicher Mehrdeutigkeiten und Leerstellen, die je nach Einbildungskraft des Lesers oder Hörers individuell ausgefüllt werden können. Indem das offene Kunstwerk wie ein Labyrinth mehrere Durchgänge aus verschiedenen Richtungen und Perspektiven provoziert, gestattet es unterschiedliche Lesarten.

Im Falle von „Laborintus II“ signalisierte Berio bereits durch die Numerierung im Titel, daß sein Stück eine auskomponierte Lektüre der gleichnamigen Dichtung „Laborintus“ des italienischen Dichters, Übersetzers, Literaturprofessors und Kritikers Edoardo Sanguineti ist, die Texte von Dante, T. S. Eliot und Ezra Pound collagiert. Analog zur katalogartigen Aufzählung surreal-vieldeutiger Vermessungen „von der Bibliothek zum Dummkopf“, „vom Zyankali zur Stadtchronik“, „von der Briefmarke zum Käse“, „vom Versprechen zur Russischen Revolution“ et cetera, kontrastiert Berio heterogene Klangmaterialien und Stilistiken mit unverminderter Härte: wilde Free-Jazz-Einlagen zweier Schlagzeuger, Tonbandklänge an der Grenze zur Karikatur elektronischer Musik, forcierte Big-Band-Akkorde, zartes Cello-Duo, wilde Heterophonien, skandierte Sprachlaute und reiner Solo- und Chorgesang. In Anlehnung an das Inferno aus Dantes „Divina Commedia“ führen die kontrastierenden Allusionen durch verschiedene Höllenkreise, durch Flüsterkabinett, Oper, Krypta, Jazzkeller und die Hexenküche der elektronischen Musik. Zugleich bilden wiederkehrende „Hirtenrufe“ von Solosopranistin und Chor einen strukturierenden Ruhepol inmitten des teils chaotisch wirkenden Gesamtverlaufs. Trotz erstklassiger Interpreten – Sopranistin Claire Booth und das „Pulse“-Vokalensemble des Londoner „Southbank Centre Voicelab“ mit der London Sinfonietta unter Leitung von Diego Masson – geriet die Aufführung dennoch nicht zu einem Höhepunkt der Triennale, da man das Konzert auf Samstag Nachmittag um 16 Uhr gelegt hatte und sich statt der von Berio im Vorwort der Partitur vorgeschlagenen theatralischen, szenischen, tänzerischen oder pantomimischen Realisation nur zu einer konzertanten Aufführung des selten gespielten Werks hatte entschließen können, obwohl gerade die London Sinfonietta seit ihrer Gründung 1968 eine Hauptaufgabe darin sieht, durch regelmäßige Zusammenarbeit mit Choreographen, Videokünstlern und Filmemachern Brücken zu anderen Künsten zu schlagen.

Berios frühes Hauptwerk „Sinfonia“ – 1968 als Auftragswerk zum 125jährigen Bestehen der New Yorker Philharmoniker von diesen und den Swingle Singers unter Leitung von Leonard Bernstein in New York uraufgeführt und anschließend in überarbeiteter Zweitfassung mit ergänztem synoptischen fünften Satz erstmals 1969 bei den Donaueschinger Musiktagen gespielt – brachten die Neuen Vocalsolisten Stuttgart mit den Bamberger Symphoniker unter Leitung von Jonathan Nott zur Aufführung. Obwohl sich Berio gegen die Etikettierung seines Werks als „postmodern“ wandte, gilt es vor allem aufgrund des polystilistischen dritten Satzes bis heute als Paradebeispiel für die Postmoderne in der Musik. Über der Folie des Scherzos von Gustav Mahlers Zweiter Symphonie – das Theodor W. Adorno als Immanenz des unablässig kreisenden Weltlaufs interpretierte – erfolgt hier ein bunter Zitatenreigen unterschiedlichster Musik von Bach bis Berio. Durch die Kombination mit Claude Debussys Orchesterskizzen „La mer“ im selben Programm traten diesmal in Berios Werk die beiden Zitate dieses impressionistischen Hauptwerks besonders hervor. Mit der Deutung des Titels „Sinfonia“ schlicht als „Zusammenklang“ wollte Berio die vielstimmige Gleichzeitigkeit der unterschiedlichen Epochen und Stile unterstreichen. Der musikalischen Collage korrespondiert die Multitextualität der gesprochenen und gesungenen Passagen: Mauergraffitis der Pariser Studentenunruhen vom Mai 1968, Fragmente von Klagen auf den Tod des ermordeten Schwarzenführers Martin Luther King sowie Texte von Claude Lévi-Strauss, Samuel Beckett und James Joyce. Daß die obligaten Sprechstimmen, obwohl über Lautsprecher verstärkt, dennoch weitgehend unverständlich blieben, tat dem Gesamteindruck kaum Abbruch, da das komplexe Gesamtgeschehen ohnehin nur in reduzierter Informationsdichte zu erfassen ist. Als offenes Kunstwerk lebt „Sinfonia“ nicht zuletzt davon, daß der Hörer nach Maßgabe seines individuellen Auffassungsvermögens jeweils eine eigene Auswahl und Deutung der Überfülle an Texten, Stimmen und Bedeutungsschichten vornimmt.

Ebenfalls mit den Swingle Singers realisierte Berio 1974 im elektronischen Studio Hilversum „A-Ronne“. Die „radiophone Dokumentation“ basiert auf einem kurzen Text von Sanguineti und beginnt in vier Sprachen mit dem Anfangssatz des Prologs aus dem Johannes-Evangelium „Am Anfang war das Wort“. Um den Satz verständlich aussprechen zu können, müssen die Interpreten an einigen Stellen erst Zentnerlasten an sprachlichen Hemmungen, Spasmen, blockierten Lippen und Erstickungsanfällen überwinden. Berio zeigt auf diese Weise die Geburt von Sprache und Musik per Kaiserschnitt mitten aus dem Fleisch, das japst, rülpst, stöhnt, heult, schreit, nach Atem ringt, irgendwann anfängt zu sprechen, zu säuseln, zu bramarbasieren, dozieren, kommandieren und singen. Dabei wird Sprache in verschiedenen typischen Situationen lokalisiert, in Schlafzimmer, Wirtshaus, Beichtstuhl, Akademie, Kaserne et cetera, um sie als neuralgische Schnittstelle von Physis und Psyche, Geschlecht und Charakter, Individuum und Gesellschaft kenntlich zu machen. Als 1999 die Neuen Vocalsolisten Stuttgart bei Berio wegen eines neuen Werks anfragten, antwortete dieser mit der Gegenfrage, wann sie „A-Ronne“ aufführten. Auf der Grundlage eines Gesprächs mit Berio kurz vor dessen Tod entwickelten die Sänger schließlich eine reine A-cappella-Version des Stücks ohne Elektronik, bei der Sanguinetis kurze Textvorlage in zwanzig Durchläufen mit immer wieder anderen Artikulationsweisen, Intonationen, Modulationen, Affekten und situativen Bezügen auf ihr klangliches und semantisches Potential abgetastet wird. Im Gegensatz zu Berios ursprünglicher Idee als Hörstück, unterstrichen die Interpreten-Komponisten den latent szenischen Charakter des Stücks eigens durch Mimik, Gestik und szenische Aktion. Auf der Bühne des kleinen Kölner Senftöpfchen-Theaters war diese theatrale Sprachmusik ideal plaziert.

Eine komplett szenische Realisation von „A-Ronne“ hatte 1996 bereits die amerikanische Puppenspielerin Amy Luckenbach mit ihrem in Florenz damals neu gegründeten Puppentheater „Teatro Minimo“ unternommen. In Absprache mit Berio griff sie damals auf die Tonbandeinspielung der Swingle Singers von 1974 zurück. In Anlehnung an Sanguinetis eindeutig mehrdeutigen Text mit seinen Schlüsselbegriffen „corpo“, „carne“, „phallus“, „sexe“, „anus“, kreierte sie Figurinen mit obszön vergrößerten Bäuchen, Hintern, Brüsten und Geschlechtsteilen. Erneut in Aktion zu erleben waren diese sinnlich prallen Figuren jetzt ebenfalls im Senftöpfchen-Theater. Zu den körperhaften Artikulationsweisen, Stöhnen, Keuchen, Schreien, Heulen der Tonbandaufnahme stellten die Puppen von Kopf bis Fuß ihre Leiblichkeit zur Schau und nahmen alle möglichen Kopula­tions­stellungen ein. Daß Berio den sexuellen Fokus von Luckenbachs Inszenierung seinerzeit eigens autorisierte, legt die Auffassung nahe, er habe sein Stück selbst als künstlerischen Beitrag zur Emanzipations- und sexuellen Befreiungsbewegung seit Ende der sechziger Jahre verstanden.

Instrumentale Virtuosität

Wie den Artikulations- und Ausdrucksspektren der menschlichen Stimme spürte Berio auch den spezifisch instrumentalen Spiel- und Klangmöglichkeiten nach. Sein Schaffen durchziehen nicht zuletzt vierzehn Solostücke für verschiedene Instrumente, deren gemeinsamer Titel „Sequenza“ den Umstand benennt, daß sie auf bestimmten harmonischen Abstufungen beruhen und zusammen eine Reihe von Solowerken bilden, die das Potential der jeweiligen Instrumente ausloten. Von der „Sequenza I“ für Flöte – von Severino Gazzelloni bei den Darmstädter Ferienkursen 1958 uraufgeführt – bis zur „Sequenza XIV“ für Violoncello – von Rohan de Saram erstmals bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik 2002 gespielt – sind die „Sequenze“ hoch­konzentrierte Virtuosen- und Studienwerke, an denen sich die besten Instrumentalisten bewähren können. Lediglich „Sequenza III“ komponierte Berio 1966 für Singstimme, namentlich für die Sängerin Cathy Berbe­rian, seine damals bereits wieder geschiedene erste Frau. Die vierzehn Solostücke gleichen einem Ariadnefaden durch Be­rios labyrinthisches Œuvre, da sie der Komponist wie bei einem Work-in-Progress für verzweigte Aus- und Umarbeitungen zu insgesamt sieben neuen Konzert- und Orchesterwerken benutzte, den sogenannten „Chemins“ (Wege), deren Entstehungsweise an die kompositorischen Kommentare und Fortschreibungen des gleichaltrigen Pierre Boulez erinnern.

Das Auftaktkonzert der MusikTriennale mit dem Ensemble Intercontemporain stellte einigen Solostücken die aus ihnen jeweils abgeleiteten Ensemble-Erweiterungen gegenüber. Die sensationell guten Musiker der 1976 von Boulez gegründeten Formation finden in dieser technisch höchst anspruchsvollen Musik gewissermaßen zu sich selbst. Ihre Wiedergaben machten einfach nur staunen über die Fähigkeiten des menschlichen Geistes und Körpers. Eine ganz eigene Spannung entfalten ihre Interpretationen aus dem Kontrast von Berios agiler, hochvirtuoser Musik und der bis zur Leidenschaftslosigkeit unterkühlten Perfektion und teils regelrecht kokett zur Schau gestellten Gelassenheit, mit der die Musiker selbst schwierigste Passagen bravourös bewältigten, zum Beispiel Hae-Sun Kang, die im Mittelteil der „Sequenza VIII“ für Violine die manisch kreisende Fiddle-Melodie mit uhrwerksartiger Präzision in atemberaubender Geschwindigkeit abschnurren ließ.

Unter der schnörkellos klaren Leitung von Susanna Mälkki – erst seit September 2006 die musikalische Leiterin des Ensembles – entfalteten selbst Berios komplexere Texturen in größerer Besetzung einen Grad an Durchsichtigkeit, der jede Einzelstimme plastisch hervortreten ließ. Statt die Ereignisse hierarchisch nach Vorder- und Hintergrund abzustufen, sind alle gleich präsent. Für den Hörer hat das den Effekt, daß ihn alle Stimmen gleicherweise förmlich anspringen und zwingen, sie auch mit gleicher Aufmerksamkeit wahrzunehmen. Statt sich dieser permanenten Überforderung der Aufnahmefähigkeit zu entziehen, wird man als Hörer durch die Präzi­sion, Präsenz und Intensität der Wiedergabe nur immer weiter in Bann gezogen. Das Klang­ideal solcher „clarté“ ist Boulez verpflichtet und verhält sich kongenial zu Berios meisterhafter Instrumentationskunst. In „Corale (su Sequenza VIII)“ für Violine solo und die seltene Kombination von Streichern mit zwei Hörnern sowie in „points on the curve to find …“ für Soloklavier und ein von Bläsern dominiertes Ensemble findet Berio immer genau diejenigen Punkte, an denen sich nahezu übergangslos „Kurven“ von einem Instrument zum anderen beziehungsweise von einer Instrumentenfamilie zur anderen nehmen lassen. So wie das Ensemble Intercontemporain die Triennale eröffnete, beschlossen die Pariser Musiker auch das Festival mit einer Gesamtaufführung sämtlicher vierzehn „Sequenze“ inklusive der Bearbeitung der Klarinetten-„Sequanza IX“ für Altsaxophon hintereinander an vier verschiedenen Spielstätten (WDR-Sendesaal, Philharmonie, Treppenhaus des Oberlandesgerichts, Festsaal der Flora) inklusive der von Berio den Stücken vorangestellten und von Sanguineti selbst rezitierten kurzen Verse.

Zur Reihe der „Sequenza“-Fortschreibungen gehört auch „Récit (Chemins VII)“ für Altsaxophon und Orchester von 1996, in welches weitgehend unverändert die „Sequenza IXb“ für Altsaxophon Eingang fand. Unter Leitung von David Smeyers spielten Daniel Gauthier als Solist und Studierende der Kölner Musikhochschule eine Bearbeitung des Werks für Altsaxophon, Vibraphon und zwölf Saxophonisten von Vincent David. Nach Auskunft von Talia Pecker-Berio hat ihr Mann den Bearbeiter zwar zu dieser Version ermutigt, dieselbe aber nie gehört und autorisiert. Tatsächlich erwies sich die homogene Besetzung als widersinnig, da sich die Solostimme vom weichen Klangteppich der begleitenden Tutti-Saxophone nur mit virtuos auffahrenden Arabesken abhebt, ansonsten aber bis zur Unkenntlichkeit darin versinkt. Daß nicht die vielfarbige Originalfassung für Orchester gespielt wurde, blieb umso unverständlicher, als das Hochschulorchester im selben Konzert Wolfgang Rihms „Concerto. Dithyrambe“ für Streichquartett und Orchester von 2000 zur Aufführung brachte. Abgesehen davon standen sich Berios sachliche Spielfreude und Rihms nicht weniger virtuoser aber bis zur Hysterie expressionswütig sich austobender Vitalismus beziehungslos gegenüber.

„Accordo“ („Übereinstimmung“) ist eine Komposition, mit der Berio in großem Maßstab Laienmusiker durch aktive Beteiligung an neue Musik heranzuführen suchte. Das Stück verzichtet weitgehend auf spieltechnische Herausforderungen, verlangt aber von den Spielern Temposicherheit und gute Zeitkoordination sowie von den Veranstaltern viel organisatorisches Geschick. Trotz zahlreicher Anfragen bei Musikvereinen aus Köln und dem Umland brachte die MusikTriennale für die öffentlichkeitswirksame Aufführung des Stücks am Eröffnungstag des Festivals auf dem Roncalli-Platz vor dem Kölner Dom lediglich vier Blaskapellen mit insgesamt hundertsiebzig Musikern zusammen. Die Partitur indes sieht mindestens vierhundert Laienbläser vor. Bei der Uraufführung in Assisi 1981 und einer Folgeaufführung im nordfranzösischen Lille waren es jeweils tausend. Die Bereitschaft der rheinischen Blas- und Karnevals-Kapellen, sich einmal auf Ungewohntes einzulassen, scheint nicht eben sonderlich ausgeprägt zu sein. Und statt wie vorgeschrieben nach Charles Ives’ Vorbild in einem Sternmarsch aus verschiedenen Richtungen aufeinander zuzumarschieren, um sich am zentralen Ort zu vereinigen, saßen die Kapellen von Anfang an im Karree auf Stühlen. Die riesige Raum-Klang-Komposition verlor dadurch zweifellos an Größe, Mobilität und räumlicher Wirkung. Zugleich bewirkte die verschlankte Version ein Mehr an Klarheit und Durchhörbarkeit der zwischen den Bläsergruppen kreisenden Klänge sowie der mit Hilfe von Stoppuhren, einem Haupt- und vier Nebendirigenten koordinierten Heterophonie unterschiedlicher Tempo- und Zitatschichten samt Fragmenten aus der Internationalen, der amerikanischen Unabhängigkeits-Hymne, aus Liedern italienischer und russischer Partisanen des Zweiten Weltkriegs sowie beliebig ausgewählten Stücken aus dem Repertoire der Kapellen. Andererseits dürfte Klarheit ausgerechnet bei diesem Stück für Berio nicht im Vordergrund gestanden haben, denn die dutzend- bis hundertfache Verdopplung der Stimmen soll ja gerade besonders unfassbar irisierende Klänge erzeugen und Einzeltöne, Akkorde und Themen in schillernde Schwebungen versetzen.

Das WDR-Sinfonieorchester konzentrierte sich vor allem auf die Wiedergabe von Bearbeitungen, Orchesterfassung der „Folk Songs“ und der „Quattro versioni originali della Ritirata Notturna di Madrid di Luigi Boccherini“ von 1975. Letztere hielt das Triennale-Programm gleich zwei Mal bereit. Als einzige Originalkomposition Berios brachte das Orchester unter Leitung von Lothar Zagrosek mit dem Solisten Oren Shevlin „Ritorno degli snovidenia“ für Violoncello und dreißig Instrumente zur Aufführung, das 1976/77 im Auftrag des Schweizer Mäzens Paul Sacher mit einem „Sempre molto espressivo e ,parlando‘“ zu spielenden Solopart für den legendären Cellisten Mstislaw Rostropovitsch entstand. Demgegenüber erwies sich das städtische Gürzenich-Orchester als mutiger. Unter Leitung von Generalmusikdirektor Markus Stenz spielte es „Solo“ für Posaune und Orchester, das Berio in enger Zusammenarbeit für den schwedischen Posaunisten Christian Lindberg schrieb, dem das Konzert seit der Premiere 1999 durch mehr als sechzig Aufführungen vollständig in Fleisch und Blut übergegangen ist. Das Stück ist vielleicht nicht das schwerste Posaunenkonzert, wie gerne behauptet wird, aber allemal eines der anstrengendsten. Aufgrund nahezu unausgesetzter Folgen an Superlativ-Klängen, so hoch, schnell, laut, lang und leise wie möglich, ließe sich diese Tour de force leicht als typisches Virtuosenkonzert abtun, würde Berio das effektvolle Blendwerk nicht momentweise zurücknehmen zugunsten statischer Klangflächen, die über wiederkehrenden Zentraltönen zumindest vorübergehend die fulminanten Exaltationen des Solisten zur Raison bringen. Wenig konzertant in herkömmlichem Sinne ist auch der Umstand, daß der Solist mit dem Orchester nicht in Dialoge tritt. Stattdessen wirft er sich nur mit den Tutti-Posaunisten Klänge zu und vereinigt sich mit ihnen zuweilen zu regelrechten Duetten.

Ebenfalls unter Stenz’ Leitung spielte das Gürzenich-Orchester im Abschlußkonzert der Triennale Berios „Formazioni“ von 1985–1987. Das zwanzigminütige Werk arbeitet mit mehreren Orchestergruppen und basiert über weite Strecken auf teils clusterartig verdichteten Klangflächen, die sich wie im Posaunenkonzert an wechselnden Zentraltönen aufhängen und im Mittelteil zu einer Melodie in der Art der Orchesterfassung von Berios Kammerensemble-Arie „O King“ im zweiten Satz der „Sinfonia“ verdichten. Dank wuchtiger Paukenschläge sowie sich aufschwingender Trompeten- und Posaunen-Linien, die zu beiden Podiumsseiten erhöht plaziert sind, entfaltet die Musik – offenbar als Tribut an die militärische Bedeutung des Werktitels – im Mittelteil großes Pathos. Obwohl zuckende Figurationen, Läufe, Triller, Trompetenfanfaren, Bläser- und Schlagzeugimpulse dynamische Gegengewichte zu den durchweg flächig behandelten Streichern bilden, bleibt das Geschehen insgesamt statisch und überwiegt der Eindruck eines phlegmatischen Auf-der-Stelle-Tretens. Die gelegentlich aktionistischen Ausbruchsversuche scheinen sich selbst genug, da sie nirgendwo hin wollen, und die flächigen Passagen dringen nicht wirklich ins Innere der Klänge vor. Einen Schatten zurück auf Berios leicht erzwungen wirkende Inszenierung typisch expressiver Formeln warf im selben Konzert die europäische Erstaufführung von Brett Deans „Moments of Bliss“, ein prätentiöser Soundtrack des langjährigen Bratschisten der Berliner Philharmoniker auf vier Szenen des Romans „Bliss“ seines australischen Landsmanns Peter Carey. Statt um „echtes einundzwanzigstes Jahrhundert“ – wie Stenz verlautbarte, der bereits die Uraufführung 2004 in Melbourne dirigiert hatte – handelt es sich um Programm-Musik aus dem Geist des neunzehnten Jahrhunderts, die sich mittels billiger Stehblues-Adaptionen, schicksalsdräuender Baßgänge, dumpfer Glockenschläge, wilder Schlagzeugkaskaden, neoexpressionistischer Kataklysmen und Tonbandzuspielungen von Musik, Kinder- und Nachrichtenstimmen zum symphonisch-weltumspannenden Dokudra­ma zwischen Liebe, Tod, Paradies und Hölle aufbläht, um in vermeintlicher Nachfolge von Mahler, Berio und Bernd Alois Zimmermann den schlecht ausgeschlachteten Vorbildern selbst rückwirkend noch ihre einstige Sprengkraft zu rauben.

Aus Alt mach neu

Die Einsicht in die prinzipielle Unabschließbarkeit der Interpretation eines Kunstwerks, wie sie Ecos „Opera aperta“ 1962 formulierte, setzte Berio sowohl in Originalkompositionen als auch in einer Reihe von Re-Lektüren bereits bestehender Musik in die Tat um. Keiner der Avantgardisten seiner Generation nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich so kontinuierlich und intensiv mit Bearbeitungen, Nachschöpfungen, Rekonstruktionen und Komplettierungen schon existierender Musik beschäftigt wie Berio. Die Bandbreite der von ihm transkribierten und umgearbeiteten Werke bezeugt die Vielfalt seiner vom Barock über Klassik, Romanik und Moderne bis zur Pop- und Volksmusik reichenden stilistischen Vorlieben: Monteverdi, Purcell, Bach, Boccherini, Schubert, Brahms, Verdi, Mahler, de Falla, Hindemith, Weill, Beatles-Songs, italienische und internationale Volksmusik. Zudem rekonstruierte Berio das unvollendet gebliebene Finale von Puccinis letzter Oper „Turandot“.

Im Triennale-Eröffnungskonzert boten das WDR Sinfonieorchester Köln unter Leitung von Jukka-Pekka Saraste mit Zoltán Kodálys „Tänzen aus Galánta“ und Leoš Janáčeks „Sinfonietta“ einen durch Volksmusik inspirierten programmatisch sinnvollen Rahmen für Berios Orchesterfassung der „Folk Songs“ von 1973. Dass man vor versammelten Honoratioren, Stadt- und Landespolitikern ausgerechnet diesen populären Bearbeitungszyklus internationaler Volkslieder gewählt hatte statt einer Originalkomposition Berios, wirkte jedoch halbherzig und kompromißlerisch. Zudem bringt die Orchesterversion der „Folk Songs“ im Gegensatz zur durchsichtigeren Erstfassung für Mezzosopran und sieben Instrumente von 1964 kein Mehr an Differenzierung und Klangfarbenreichtum. Gegenüber der Sopranistin Bernarda Fink erwies sich der aufgewendete Apparat – trotz solistisch besetzter Blechbläser – als zu dick, schwerfällig und dominant. Das mochte auch an mangelnder dynamischer Abstufung der Interpretation gelegen haben beziehungsweise daran, daß der vielgefragte finnische Dirigent trotz des anspruchsvollen Programms dem Orchester nur für zwei Proben zur Verfügung stand. Der Vorwurf, Berios Bearbeitungen würden von Interpreten und Veranstaltern gerne als Feigenblätter instrumentalisiert, um sich vor Aufführungen seiner Originalkompositionen zu drücken, ist nicht von der Hand zu weisen, fällt aber zum Teil auf den Komponisten selbst zurück, der mit der Orchestrierung seiner „Folk Songs“ vor allem eine lukrative Zweitverwertung im Blick gehabt haben dürfte, nachdem das Stück bei der Uraufführung durch Cathy Berberian in Oakland und danach so großen Erfolg hatte, und es vielerorts nachgespielt werden wollte.

Den Anfang der Reihe von Konzerten mit gezielten Gegenüberstellungen alter und neuer Musik machten in der Trinitatis-Kirche die Basler Madrigalisten unter Leitung von Fritz Näf mit Berios „Cries of London“ von 1976 und manieristischen Madrigalen des siebzehnten Jahrhunderts, die mit kunstvoller Polyphonie das urbane Durcheinander von Marktschreiern und fliegenden Händlern nachahmen. Ein besonderes kreatives Stimulans zogen die Komponisten damals aus dem Stilbruch zwischen höchst verfeinerter Madrigalkunst und den niederen Alltagsbedürfnissen nach Besen, Kesselflickern, Knoblauch, Heil- und Giftmittelchen, wie beispielsweise Nikolaus Zangius in „Der Kölner Markt“ von 1603 oder Sebastian Knüpfer in „Leipziger Markt: Rattenpulver, Mäusepulver!“ von 1663. Berios Vokalwerk ist demselben beliebten Sujet verpflichtet und basiert auf alten Londoner Straßenrufen. Von den Vorgängerwerken unterscheiden sich seine „Cries of London“ nur durch die erweiterte Harmonik und darin, daß sie dieselben textausdeutenden Figuren allenfalls aus ironischer Distanz verwenden.

Bewußt auf die im Italien des fünfzehnten Jahrhunderts beliebte Form des strophischen Tanzliedes Ballata griff Berio 1989 in „Canticum novissimi testamenti“ zurück. Die Besetzung für vier Klarinetten, Saxophonquartett und acht Singstimmen zeigt eine paritätische Zuordnung von Instrumental- und Vokalstimmen, wie sie auch in anderen Werken Berios begegnet, beispielsweise in „Coro“ von 1975/76, wo aus der Kombination von vierzig Singstimmen mit ebenso vielen im Tonumfang jeweils vergleichbaren Orchesterinstrumenten vierzig vokal-instrumentale Duos gebildet werden. „Canticum“ ist Berios letzte Zusammenarbeit mit Edoardo Sanguineti. So wie dessen ironisch-sentenzenhafte Lebensbilanz zahlreiche Zitate, Stilfiguren und Phrasen enthält, beschwört Berio alte Madrigalismen, choralhafte Psalmodien und starre, rituelle Responsorial-Gesänge in teils altmeisterlicher und nachgerade neogregorianischer Manier. Gegliedert werden die von wechselnden Solosängern dominierten Teile durch den elfmal in Variationen wiederkehrenden Tutti-Ruf „Canticum“. Bestens einstudiert und geleitet von Marcus Creed sangen die Kölner Vocalsolisten, die sich aus Studierenden und ehemaligen Studenten der Kölner Musikhochschule zusammensetzen.

Je fünf beziehungsweise sechs Instrumentationen früher Lieder Gustav Mahlers schrieb Berio 1986 im Auftrag des Orchestra Haydn in Bolzano für die Mahler-Festwochen in Toblach beziehungsweise 1987 im Auftrag des Orchestra Arturo Toscanini in Parma. Neun dieser Liedbearbeitungen auf Texte von Richard Leander und aus „Des Knaben Wunderhorn“ brachten der dänische Bariton Bo Skovhus mit den Bamberger Symphonikern unter Leitung von Jonathan Nott in der Kölner Philharmonie zu Gehör. Berios Orchestrationen bewegen sich ganz im Stil von Mahlers eigenen Instrumentationen seiner „Wunderhorn-Lieder“. Auch bei Berio klingt die Celesta glockenhell, blasen die süßen Trompeten, tirilieren die Flöten und schlägt die Pauke mit unerbittlicher Schwere die Schritte eines Kondukts. Vordergründig scheint dies dem Idiom Mahlers perfekt zu entsprechen. Bei näherer Betrachtung jedoch fehlen die unerwarteten, plötzlich forcierten Abweichungen von konventionellen Besetzungen, Registern, Lagen und Spielweisen an und jenseits der Grenze des Wohllauts. Gerade diese machen jedoch letztlich Mahlers Instrumentationskunst aus. Für Hörer, die mit Mahlers Orchesterliedern und Sinfonien vertraut sind, wirken Berios stiltreue Adaptionen allzu erwartbar und glatt. Damit liefern sie ein Paradebeispiel für das Problem historisierender Aufführungspraktiken, die über der Verpflichtung zu bloßer Stiltreue den Sinn und die ursprüngliche Wirkungsabsicht der Musik verfehlen. Das paradoxe Unterfangen, mit Mahler über Mahler hinaus zu instrumentieren, hätte eine ganz andere Sensibilität für die Verwerfungen in dieser Musik bedurft, statt sich mit einer bloßen Stilkopie zu begnügen.

Ein reines Berio-Programm mit Originalwerken und Bearbeitungen boten die Sängerin Katalin Károlyi und das Ensemble musikFabrik unter Leitung von Johannes Debus. Für Berios Bearbeitungen einiger Songs von Kurt Weill und den Beatles erwies sich die ungarische Mezzosopranistin jedoch als fehlbesetzt. Weder Weills Balladen noch Berios Weill-Bearbeitungen von 1972 vertragen eine derart ausgebildete, artifizielle Singstimme mit mangelhafter Aussprache der Brecht-Texte. Widersinnig im Vergleich zu Weills schriller Bläserbesetzung wirkte auch Berios streicherselige Instrumentation, die dem Original mehr nimmt als gibt und an die weichgespülten Salonmusik-Adaptionen der „Dreigroschenoper“ erinnert, gegen die sich Weill und Brecht schon Ende der zwanziger Jahre zur Wehr setzten. Einzige Aufrauhung und klangliche Schärfung bot, wenn auch unfreiwillig, ein mißglücktes Kontrabaß-Solo. Gelungene musikalische Späße, die bei ei­ni­gen im Publikum schallendes Gelächter auslösten, sind da­gegen die 1967 entstandenen Bearbeitungen der Beatles-Songs „Ticket to Ride“, „Yesterday“ und gleich zwei­mal „Michelle“. Während Berio die ersten drei Stücke mit neuen Instrumentalsätzen im Stile von barocken Concerti oder Triosonaten mit Cembalo, Traversflöte und Oboe versah, spielt „Michelle II“ mit dem Klischee softer Hollywood-Filmserenaden der dreißiger und vierziger Jahre, deren falsche Traumfabrik-Gefühligkeit das Publikum indes ohne humoristische Distanz ernstnahm.

Nachgerade skandalös zurückhaltend gegenüber Berios Originalwerken verhielten sich die New Yorker Philharmoniker bei ihrem Kölner Gastspiel, nachdem sich ihr Dirigent Lorin Maazel in einem Interview mit dem Kölner Stadtanzeiger vom 14. Mai großspurig als alter Schulfreund und begeisterter Berio-Interpret ausgegeben hatte: „Wir waren richtige Kameraden, und ich habe auch seine Oper ,Un re in ascoltó in Salzburg uraufgeführt. Ja, ich bin ein großer Berio-Fan“. Gleichwohl zog der Maestro Werke von Brahms, Ravel, Strawinsky und Bartók vor und nahm als spärlichen Tribut an das Triennale-Thema lediglich Berios Bearbeitung der „Quattro versioni originali della Ritirata Notturna di Madrid di Luigi Boccherini“ von 1975 in eines seiner zwei Konzerte auf. Das Stück ist eine effektvolle, brillante Instrumentationsstudie in der Art von Maurice Ravels „Bolero“, wo ein und dasselbe Marschthema in zunehmend prächtiger Orchestrierung mehrmals wiederkehrt. Nachdem das Thema zunächst nur in schattenhaften Streicherbatutti wie aus weiter Ferne zu hören ist, scheint es mit zunehmender Massierung der Instrumente immer näher zu kommen, schließlich als pompös-prachtvoller Zug am Hörer vorüber zu ziehen, um sich anschließend mit ausdünnender Besetzung wieder in der Ferne zu verlieren. Das ist Boccherini à la Berio von der gefahrlosesten, konsensfähigsten, staatstragendsten Seite. Die Vorliebe für dieses Stück aus zweiter Hand bei seiner Schar vorgeblicher Freunde lassen für die weitere Pflege von Berios musikalischem Vermächtnis nichts Gutes erwarten.

1„in my end is my music“ – Luciano Berio: Komponist. Texte & Materialien, herausgegeben durch die MusikTriennale Köln 2007 von Stefan Fricke, Köln 2007.

2Leonardo Pinzauti, Ich sprach mit Luciano Berio, in: Melos, 37. Jahrgang 1970, Heft 5, 177.

3Ebenda.

4Jack Bornoff, Musik, Musiker und Kommunikation. Ein Interview mit Luciano Berio unter Mitwirkung von Vittoria Ottolenghi, in: Die Welt der Musik / The World of Music – Quarterly Journal of the International Music Council Band 16, herausgegeben von John Evarts und Christian Poche, Mainz: Schott 1975, 39.

5Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, 27.

Bild: Marina Berio/Rapho