MusikTexte 115 – November 2007, 73–74

Jüngste Kapitel im großen Fortsetzungsroman

Episches, Altmeisterliches und Neues bei den Donaueschinger Musiktagen

von Rainer Nonnenmann

Das von Intellektuellen der Postmoderne und des Posthistoire seit über dreißig Jahren proklamierte Hirngespinst vom Ende der großen Erzählungen, Religio­nen und philosophischen Weltgebäude findet nicht statt. Jedenfalls und glücklicherweise nicht bei den Donaueschinger Musiktagen, dem ältesten Avantgarde-Festival der Welt, das seit 1921 selbst den Mythos der musikalischen Moderne fortschreibt, auch wenn die Treibriemen des alten Innovationsmotors zwischenzeitlich hier wie andernorts leer laufen. Dieses Jahr überraschten auffallend viele Uraufführungen der fünfunddreißig Komponisten aus fünfzehn Nationen mit klaren Erzählinhalten. Die letzten Fragen und Dinge sind ungebrochen aktuell, jetzt offenbar auch wieder in der neuen Musik: Glaube, Liebe, Hoffnung, Krieg und Frieden, Leben und Tod.

Versuche zur Re-Semantisierung der neuen Musik lassen sich bereits seit einiger Zeit beobachten. Der Trend ist nicht unproblematisch: zum einen scheinen die großen Menschheitsthemen in Einzelfällen die Beliebigkeit der Musik kompensieren zu sollen; zum anderen verleitet jeder benennbare Inhalt zum vorschnellen Schluss, man habe mit der intendierten Botschaft bereits die Musik selbst verstanden. Deren genuine Klang- und Formqualitäten entziehen sich jedoch oft der Erfahrung, weil sie mit den implantierten Inhalten strukturell nichts verbindet. An die Stelle ergebnisoffener Hörerlebnisse tritt so die gelenkte Suche, in den Werken zu finden, was Texte, Titel und Kommentare versprechen. Oft mag das dabei zu Entdeckende immer noch genug sein. Gelegentlich jedoch ist es zu wenig. Denn im Ernstfall wird neue Musik dann nicht mehr wirklich gehört, sondern – wie Wolfgang Rihm einst an der Klassiker-Rezeption bemängelte – nur oberflächlich als verständlich missverstanden.

Helmut Oehrings suggestiv-illustratives Orchesterwerk „Goya I“ folgt einer Radierung aus „Die Schrecken des Krie­ges“ des spanischen Malers. Bedrohliche Bläserakkorde, metallisch-fauchende Schlag­zeug-Schrapnells und im Stechschritt knallende Tutti-Pizzikati formierten sich zum marschierenden Kollektiv, aus dem sich vereinzelte Soli wie die Stimmen geschundener Subjekte erheben. Altmeister Klaus Huber stellte mit Octavio Paz die Frage „Quod est pax?“, Was ist Friede?, um am Schluss seines gleichnamigen Orchesterstücks den lyrischen Tenor Hubert Mayer die Antwort mit einem insistierend im Nichts verklingenden Hoffnungs­gesang auf die Macht der Liebe geben zu lassen. Die von Nora Thiele eingestreuten Soli auf arabischen Trommeln blieben dabei mehr exotistische Fremdkörper denn tragfähige Friedensbrücken im „Kampf der Kulturen“. Younghi Pagh-Paan vertonte lateinische Bibelverse und Briefe eines koreanischen Missionars aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Hans Zender schließlich komponierte seine „Logos-Fragmente“ auf Passagen aus Evangelien, apokryphen und gnostischen Quellen. Trotz des in drei Gruppen verräumlichten Orchesters, des aufgesplitterten Chors und der hervorragenden Leistungen von SWR-Vokalensemble Stuttgart und SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden unter Leitung von Chefdirigent Sylvain Cambreling konnte sich das Werk nicht ganz vom pathetischen Oratoriumston befreien, der bereits Zenders „Shir Hashirim“ von 1996 prägte.

Zu einem Höhepunkt der von SWR-Redakteur Armin Köhler geleiteten Musiktage wurde Mark Andrés Orchesterwerk „… auf …“. Das mit dem Preis des SWR-Sinfonieorchesters ausgezeichnete Stück zeigt eine klare formal-klangliche Imaginationskraft jenseits üblicher Orchesterdramaturgien. André nutzt die erweiter­ten Spiel- und Klangpraktiken seines Leh­rers Helmut Lachenmann auf eigene, dunkel auratische Weise, um sie nach dem metaphysischen Modell der „Auf“-Er­stehung Christi als elektronisch transformierte und in den Raum projizierte Echos zu neuem Leben zu erwecken. Enno Poppes „Keilschrift“ ist ein weiterer Versuch, neue Umgangsweisen mit konzisen Gestalteinheiten, etwa Melodien, zu finden. Sein Orchesterwerk basiert auf ein und derselben Fünfton-Figur, die in zahllosen verschiedenen Satz- und Instrumentationsvarianten erscheint, einstimmig, polyphon, kanonisch, als schmet­ternde Bläserfanfare, Perkussionskaskade und Streicherkantilene.

Enttäuschungen bereiteten eine quälende „Winterreise“-Paraphrase mit leb- und geistlos leiernden Stakkato-Repetitionen des Schriftstellers Michael Lenz und Bildenden Künstlers Uli Winters sowie der Stummfilm „Ortswechsel“ von Edgar Reitz mit der vom Ensemble Modern voranpeitschend interpretierten Musik Johannes Kalitzkes unter dessen Leitung. Während das Spiel mit Wirklichkeitsebenen zwischen Zuschauerraum, Bühne, Film und Film im Film immerhin technisch souverän gelang, wirkten der mit billigen Farb- und Märchenmotiven verbrämte Plot (Mann sucht Frau) sowie die kolportagehaft übertriebene Gestik, die collagierten, verfremdeten Film­sequenzen und der unglaubhafte Auftritt von Hauptdarstellerin Salome Kammer als an Gogo-Stange sich räkelnder Stripteuse nur peinlich: wie das krampfhaft ans Licht der Öffentlichkeit gezerrte Privatvideo aus dem Hobby-Keller des sonst – wegen früherer Zusammenarbeit mit Josef Anton Riedel und den ersten beiden Teilen seiner „Heimat“-Triologie – verdienten Regisseurs. Zudem verwunderte, dass die angeblich jahrelangen gemeinsamen Diskussionen über „Grundfragen der Zusammenarbeit“ den Filmer und Komponisten ausgerechnet zur Ästhetik von Stummfilm mit Musikbegleitung aus den zwanziger Jahren geführt haben.

Nachdem der Karl-Sczuka-Preis für Hörspiel als Radiokunst in den vergangenen Jahren für Arbeiten aus dem Umkreis der Musique concrète und Klangkunst vergeben wurde, erhielt ihn jetzt nach 2002 bereits zum zweiten Mal Stefano Gian­notti für ein veritables Hörspiel. Sein im Auftrag des DeutschlandRadio entstandenes „Geologica“ erzählt im Schnell­durchlauf „All the truth about the origin of the universe“, sprich vierzehn Milliarden Jahre Welt- und Menschheitsgeschichte streng chronologisch nach Erdzeitaltern mit mythologisch-biblischen Motivparallelen. Im Präcambrium lassen sich unsere Vorfahren minutenlang nur mit Schnupfen und Niesen vernehmen. Und während der vielen Millionen Jahre des Paläozoikums ist zwischen grollenden Meteoriten-Einschlägen nur Gehuste zu hören. Tatsächlich scheint das Wetter zu Zeiten unserer Ururahnen trübselig ge­wesen zu sein, wie Donner und Regenprasseln aus der Reservatenkammer des Hörspielstudios verraten. Der Mensch schließlich erscheint im Holozän als schreiendes Baby zwischen blökendem Ochs und Esel wie einst das Kindlein zu Bethlehem. Aber auch das macht die zäh durch die Jahrtausende sich schleppende Saga der Familie Feuerstein nicht zum witzig-brillanten „Hörcomic“, wie Laudator Frank Kaspar gepriesen hatte.

Episch-poetische Dimensionen zeigten auch eine Reihe von Klanginstallationen. Mario Verandis „Klangbuch der imagi­nären Wesen“ beschwor im leer geräumten Gebäude der in alle Welt verkauften Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek klanglich-bildlich Erzählungen und Buchmalereien von Greifen, Drachen und Salamandern aus eben den alten Bänden und mittelalterlichen Handschriften, die der verwaiste Ort schmerzlich vermissen lässt. Erwin Stache ließ auf schwimmenden Gestellen Metallröhren anschlagen und mittels Kippvorrichtungen wie Kraniche in den Schlossteich senken. So entstanden sowohl singuläre Glissandoklänge als auch durch Handy-Anrufe ausgelöste kollektive Klangformationen wie von einem Schwarm Wasservögel. Neun von Stefan Fricke kuratierte elektronische Hörstücke waren zum Abhören per Audioguide beim Spaziergang durch die Stadt gedacht, wurden wegen des schlechten Wetters jedoch von vielen Besuchern im Warmen bei Kaffee und Kuchen gehört. Direkt auf Donaueschinger Verhältnisse reagierten dabei Harald Muenz, der Pressestimmen zu den Musiktagen der letzten Jahre mittels Voice-Programm „sprechen“ ließ und wechselseitig überlagertet, und Achim Bornhöft, der widersprüchliche Erfahrungsberichte von Beteiligten der Musiktage und jährlichen Rindvieh- und Zuchtbullen-Verstei­gerung in den Messehallen verarbeitete.

Marc Sabat – Schüler von James Tenney – ließ für die Konzertinstallation „wave piano scenery player“ großformatige Bilder des italienisch-deutschen Malers Lorenzo Pompa zu einer quer durch den Saal laufenden Trennwand schichten, die nur den Korpus eines Flügels sehen ließ, während Tastatur, Pedale und Spieler komplett dahinter verschwanden. Die physischen Aktionen des Klavierspielers sollten voyeuristischen Blicken entzogen werden, um das Auditorium raten zu lassen, wann Pianist Stephen Clarke oder wann die integrierte Selbstspielmechanik und Midi-Technik des Instruments einsetzte. Das Ratespiel jedoch blieb freudlos und letztlich nur eine simple Verdopplung der alltäglichsten aller Hörsituatio­nen: vor dem Lautsprecher.

Unter dem Motto „Berlin an der Brigach“ hatte SWR-Jazz-Redakteur Reinhard Kager zum Wanderkonzert mit drei Berliner Gruppierungen an drei verschiedenen Spielstätten eingeladen. Im Sitzungssaal des Finanzamts erzeugte das Duo Krebs-Hayward mit Gitarre, Elektronik und Tuba konzentriertes Rauschen, Knistern, Knacken, wie es inzwischen allerorten in Brüssel, Köln, Wien … zu erleben ist. In den mit mobilen Gasheizungen und Bundeswehrdecken notdürftig ausgestatteten Lagerhallen der Fürstenberg-Brauerei spielte zwischen haushoch getürmten Bierkästen das Trio Bagh­as­sarians-Baltschun-Beins mit Rückkopplungseffekten, die über die Membran einer Trommel gesteuert wurden. Der gezielt provozierte Fehler im System jedoch verselbständigte sich und sprengte mit ohrenbetäubendem Dröhnen die Veranstaltung. Um Mitternacht schließlich zauberte in der Christuskirche das Klarinettenduo „The International Nothing“ bar jeder elektronischer Hilfsmittel feinste klangliche Nuancen und Schwebungen. Als zweite NowJazz-Session präsentierten Elliott Sharp und Bernhard Lang mit fünfköpfiger Band und zwei Rappern unter dem Titel „War Zones“ halbimprovisatorische Kompositionen, die sich strukturell mit den Mechanismen von Paranoia, politischer Manipulation und der im Zuge der verheerenden US-Politik unter George W. Bush eskalisierenden Gewalt auseinanderzusetzen suchten. Ohne die Textinhalte ließen sich die intendierten Strukturanalogien jedoch nicht nach­vollziehen.

Wege abseits aller episch-politisie­renden Aufladungen beschritten James Saunders und Makiko Nishikaze. Der Brite komponiert im Rahmen seines Projekts „#[unassigned]“ immer wieder Varianten eines Stücks, die jeweils nur ein Mal gespielt werden, wie die Datumsangabe der Donaueschinger Uraufführung als Titel „#211007“ unterstreicht. Durch langsam wechselnde mikrotonale Liegeklänge entsteht hier eine in ihrer extremen Reduziertheit zugleich intensive und reiche Musik, die erst gegen Schluss vereinzelt rhythmische Kontur gewinnt, als gälte es zu einer ganz neuen Klangwelt aufzubrechen, die dann freilich ausbleibt. Die Japanerin lässt in „piano-breathing“ ein Soloklavier, gespielt von Aki Takahashi, wie traumverloren in ihrerseits lediglich solistisch und kammermusikalisch eingesetzte Orchesterinstrumente ausstrahlen. Die vollkommen in sich ruhende, statische, farbenreiche Musik atmet asiatischen Gleichmut und entfaltet jenseits üblicher Verlaufsformen nur im Detail mit sanften Crescendi und harmonischen Schärfungen eine eigene Art von Spannung.

Teils neue und erfrischend andere Ansätze boten jüngere, in den siebziger Jahren geborene Komponisten. François Sarhan kombinierte die konfuse Kurzgeschichte eines kleinen Mädchens mit Dialogen von Lewis Carrol über den Titel des Stücks „The Name of the Song“. Eindrucksvoll als Geigerin und Sänger-Sprecherin zugleich agierte dabei Melise Mellinger zwischen Elektronik, Pop-, und DJ-Samples wie Alice im tönenden Wunderland. Simon Steen-Andersens ließ die Musiker des Ensemble Recherche winzige Handvideo-Kameras in exakt rhythmisierten Schnitten auf ihre Augen, Mün­der, Hände und Noten richten. Schlagzeuger Christian Dierstein hatte zusätzlich mit einem Summer, wie ihn Kehlkopf-Amputierte verwenden, verschiedene Vokalfolgen zu artikulieren, so dass eine in Klang und Bild sprachlos beredte Musik entstand.

Die Entfremdungen unserer digitalen Arbeits- und Lebenswelt thematisierte Francesco Filidei in seiner „Sonata a sette“, indem er den originären haptisch-körperlichen Umgang mit den Instrumenten verstellte: Pianisten hacken auf toten Computertastaturen, Streicher greifen wie Chirurgen in ihre liegend aufgebahrten Instrumente und Holzbläser traktieren ihre fest auf Gestänge verschraubten mundstücklosen Flöten und Klarinetten. Am Ende lassen die Musiker ihre zweckentfremdeten Gerätschaften liegen und stehen, um gemeinsam im Kreis Flamenco-Rhythmen zu klatschen, pfeifen, stampfen. Die so aufblitzende Utopie vom ursprünglichen, befreiten Leben aber bleibt brüchig…, denn die Musik dazu kommt aus der Konserve.