MusikTexte 115 – November 2007, 77
Doppelgänger, blendend und bleich
Entdeckungen und Doubletten bei „Musik der Zeit“ des WDR Köln
von Rainer Nonnenmann
Während Theodor W. Adorno glaubte, ein Kunstwerk sei der Todfeind des anderen, demonstrierte die zum Festival komprimierte WDR-Reihe „Musik der Zeit“ Anfang November das gerade Gegenteil: Ein Kunstwerk ist Keimzelle, Steinbruch oder Geburtshelfer des anderen. Wolfgang Rihm brachte es auf den Punkt als er feststellte: „Kunst entsteht aus Kunst“. Acht Konzerte boten unter dem Motto „Double“, Doppelgänger, verschiedene Neu-, Fort-, Über- und Umschreibungen bereits bestehender Musik.
Die Entdeckung eines jungen Ensembles wurde direkt im ersten Konzert zu einem Höhepunkt. „Jack-Quartet“ klingt wie Jim und Joe nach Wild West. Das US-amerikanische Streichquartett ist nach Ausbildung an der Eastman School of Music und Kursen bei Mitgliedern des Ensemble Intercontemporaine sowie beim Kronos- und Arditti-Quartett zu Meisterschaft mit eigenem Klang und Repertoire gereift. JACK – der Name ist Programm – sind die Initialen der Vornamen der Musiker, die alle gleichverantwortlich zum Gelingen beitragen.
Die Musiker agieren mit sagenhafter Sicherheit und Delikatesse. In György Kurtágs „6 Moments musicaux“ – 2005 für den Internationalen Streichquartettwettbewerb in Bordeaux entstanden – klingt jeder Ton beseelt und wird ein humorvolles Flageolett-Capriccio zum schwerelosen Elfentanz. Auch die sich weitenden und zusammenziehenden Hör- und Erfahrungsräume des Dritten Streichquartetts von Helmut Lachenmann, der mit den Musikern in Kanada, Mexiko und Luzern gearbeitet hat, wurden so noch nie gehört. Ortlos wirkendes Rauschen öffnet ferne Atmosphären, die mit harten Akzenten schlagartig auf Punktform kontrahieren oder als abrupt abreißende Crescendi wie Pfeile durch den Saal zucken. Unisoni und reine Quinten entfalten durch minimale Abweichungen schwebende Klangräume, die dann von perfekten Einklängen verschluckt werden, während leisestes Pfeifen – als extremste Form der Nähe – dem Hörer wie der Blutkreislauf in den eigenen Ohren tönt. Lachenmann nannte sein Quartett „Grido“ nach den Vornamen der Mitglieder des Arditti-Quartets. Sein viertes Quartett könnte – sollte er je ein solches schreiben – „Jack“ heißen.
Die Konzentration und Präzision, die unerlässlich ist, soll Musik ihre volle Präsenz und Intensität entfalten, ließ das WDR-Sinfonieorchester unter Leitung von Peter Rundel vermissen. Mit sechs Orchesterwerken hatte man sich ein ambitioniertes, aber an der Probezeit gemessen zu großes Pensum vorgenommen. Die Musiker waren mit den anspruchsvollen Partituren zu wenig vertraut und agierten entsprechend zaghaft. Mit Vorsicht aber ist bei Musik von Wolfgang Rihm nichts zu gewinnen. Zu Beginn seiner „Vers une Symphonie fleuve III“, einem Ausschnitt aus seiner sich unerschöpflich aus sich selbst fortzeugenden symphonischen Produktion, schwappen sanfte Klarinettenwellen ins Orchester, wo sie auslaufen, widerhallen, sich aufbauen, kräuseln und schließlich donnernd zusammenbrechen. Der traditionell auf Steigerung angelegte Bogen fordert endlich volles Strömen aus allen Schleusen, ohne die Binnendifferenzierung der riesigen Partitur zu verlieren. Zu erleben war in der Kölner Philharmonie eher lärmendes Brausen aus verkalktem Duschkopf mit etlichen Spritzern daneben.
Michael Jarrell dagegen ist es selbst anzulasten, wenn er im Orchesterwerk „… es bleibt eine zitternde Bebung …“ sein darin aufgenommenes Kabinettstückchen „Aus Bebung“ wie mit einem Massiv-Eichenrahmen erdrückt. In der Soloversion seins intimen Duos legten Klarinettist Ernesto Molinari und Cellist Thomas Demenga zarte Töne in die Klänge des anderen, um sie umzufärben und zu beleben. In Beat Furrers neuem Konzert für Klavier und Orchester wurde Solist Nicolas Hodges gleich zu Beginn auf Schritt und tritt vom Tutti-Pianisten Paulo Alvares als Doppelgänger verfolgt. Nach virtuoser Akkordstemmerei und hektischen Selbstläufern rauf und runter quer über die Tastatur fing erst ein Adagio-Mittelteil weit zu atmen an, Dank weniger reduzierter, dafür aber umso intensiverer „Lachenmannesker“ Ereignisse: klirrende Tastenanschläge im höchsten Register flankiert von vereinzelten Pizzikati und geriebenen Sandpapierblöcken.
Am zweiten Abend boten die Bläser und Streicher des WDR-Sinfonieorchesters getrennte Programme. Das als Hommage an Edgard Varèse uraufgeführte „Vergeben“ von Iris ter Schipphorst geriet zur effektheischenden Bläser-Galashow mit kreisenden Unisoni, wilden Fanfaren, grellen Bigband-Sounds und Schlagzeuger Dirk Rothbrust als furios trommelndem Zeremonienmeister in der Mitte. Lachenmanns Ausarbeitung seines dritten Streichquartetts für sechs mal acht Streicher „Double (Grido II)“ erreichte nicht die Intensität des Originals. In Rihms Klavierkonzert „Shere“, gespielt von Udo Falkner, sind einleitende Klarinetten sowie in der Ferne postierte Trompeten und Schlagzeuger offenbar dem Werkkomplex „Symphonie fleuve“ entlehnt, ebenso wie das neu umgeschriebene „Schrift-Um-Schrift“ von 1993 für das Grau-Schumacher-Klavierduo. So gerät das Double zur Doublette und zum Selbstplagiat. Auch sonst galt: zuviel Rihm und altbekannte Namen.
Der dritte Abend integrierte die achte Ausgabe der voriges Jahr gestarteten WDR-Reihe „Ensembl[:E:]uropa“, bei der europäische Spitzenformationen der neuen Musik ihr typisches Repertoire in Kombination mit der Uraufführung eines Komponisten aus NRW präsentieren. Statt französischer Werke präsentierte das Ensemble Alternance jedoch – mit wenig Elan – drei Werke von Robert HP Platz sowie Stücke von dessen Schüler Philipp Maintz, von Klaus Huber und Franco Donatoni, die allenfalls dem Ideal oder Klischee eines französisch-kantablen Ästhetizismus folgten. Zum vorherrschenden Lyrizismus zarter Geigen- und Flötenkantilenen trat in Platz´ uraufgeführtem „Unter Segel Boutaden Hülle 2“ der jungenhafte Countertenor Magid El-Bushra: pointierte Aphorismen von Arno Schmidt mit Holunderblütensirup überzuckert.
Manos Tsangaris schließlich belebte verschiedene Orte des Kölner Funkhauses mit „Diskreten Stücken“. Die Kürzest-Konzertchen von ein bis vier Musikern für jeweils ein bis zwei Hörer sind eine Fortschreibung seines vor zehn Jahren entwickelten Ansatzes „winzig“. Im Paternoster fuhren Musiker und Schauspieler am Publikum vorüber. In Pforte, Foyer, Pianostudio und Eingangsschleuse sangen und spielten sie, zumeist paarweise in den Rollen von Heinrich und Annemarie Böll, dem Hörer direkt vor den Ohren. Und als handle es sich um eine Indiskretion erinnerten sie dabei an den in seiner Heimatstadt im Vorfeld seines neunzigsten Geburtstags am 21. Dezember fast vergessenen Literatur-Nobelpreisträger.