MusikTexte 117 – Mai 2008, 88–89

Die Apokalypse findet nicht statt

Das Stuttgarter Festival Eclat

von Rainer Nonnenmann

Es gibt gute Gründe, Streichquartette zu schreiben, und ebenso gute, es zu unterlassen. Jeder Komponist hält es, wie er will. Stutzig macht nur, wenn ein um experimentelle Ansätze verdienter Altmeister sein erstes Quartett vorlegt, nachdem er sich dieser altehrwürdigen Gattung so lange erfolgreich enthalten hat. Bei Dieter Schnebel, der im März seinen achtundsiebzigsten Geburtstag feierte, erklärt sich die Kluft zwischen jahrzehntelanger kompositorischer Erfahrung und spätem Quartetterstling durch den Anspruch seiner 1975 begonnen Werkreihe „Tradition“: „... das Prägende und Lebendige in den ehrwürdigen Formen und Inhalten des Vergangenen aufzuspüren und dynamisch zu neuer Gegenwart zu führen“. Nach Werken für Chor, Klavier, Klavierquintett, Symphonieorchester und Musik­theater brachte das diesjährige Stuttgarter Festival Eclat im Abschlusskonzert die Ur­aufführung von Schnebels erstem Streich­quartett. Schnebels unmittelbar da­nach komponiertes zweites Quartett war schon zuvor in Berlin uraufgeführt worden.

Seit den frühen „Stücken für Streichquartett“ von 1954/55 stand für den Komponisten ein Streichquartett „im Raum“, so der Untertitel seines dreiviertelstündigen Werks. Wie sich zeigte, nicht nur gedanklich. Zu Beginn des klassisch viersätzigen Stücks sitzt nur der Cellist auf der Bühnenmitte. Der erste Geiger ist in einer Ecke postiert, die übrigen Musiker links und rechts hinter dem Publikum. Von Spieler zu Spieler lässt Schnebel Pizzikati und Tremoli kreisen. Schließlich verdichten sich die Aktionen zu durchgehenden Folgen und nehmen analog dazu die Musiker des Pariser „Quatuor Diotima“ die angestammten Plätze auf der Bühne ein. Im nachfolgenden „Scherzo“ stecken sie die Köpfe eng über den auf dem Boden liegenden Noten zusammen. Die als verschworener Zirkel in Szene gesetzte spezifische Hermetik und Innerlichkeit der Gattung ist jedoch nicht lange von Bestand. Bald kehren sich die Musiker wieder voneinander ab, plazieren sich in Zweierreihen hintereinander oder spielen vorne an der Bühnenrampe im Stehen nicht mehr für sich, sondern demonstrativ öffentlich für das Publikum. Endlich gehen sie trampelnd auseinander, jeder in eine andere Bühnenecke, so dass im „Adagio“ Seufzersekunden und Terzpendelfiguren wieder quer durch den Raum wandern. Wiederholt werden tonale, klassisch-romantische Gestalten beschworen. Zitiert jedoch wird nur in Ausnahmefällen, wie am Ende des Satzes der unsymphonische vierstimmige Streichersatz zu Anfang von Bruckners Fünfter Symphonie, den Schnebel schlüssig in genuine Kammermusik rückübersetzt. Das „Finale“ endlich sucht eine Synthese dessen, was längst in Einzelfragmente zerfallen und neuerdings im Raum dissoziiert ist.

Jonathan Harveys Viertes Streichquartett von 2003 entfaltet sich in Zeit und Raum dagegen mittels Zuspielungen und Live-Elektronik. Als deutsche Erstaufführung war Misato Mochizukis Quartett „Terres rouges“ von 2006 zu erleben, ein mit erweiterten Spieltechniken auf vordergründige Effekte zielendes Virtuosenstück des „Neo-Neobarbarismo“. Im Wech­sel mit der hervorragenden Quartettforma­tion sang das SWR Vokalensemble Stutt­gart unter Leitung von Marcus Creed zwei jüngere zuvor schon in Donaueschingen gehörte A-cappella-Werke von Martin Smolka. Mit solcher Klarheit, Präzision und dynamischen Ausgewogenheit vorgetragen, bezauberten „Slone i smutne“ und „Walden“ mit der für den Prager typi­schen formalen Einfachheit, harmoni­schen Eigenart und kaum zu ergründen­den, zwischen Naivität und Ironie melancholisch schwankenden Klangschönheit.

Südwestrundfunk-Redakteur und Festivalleiter Hans-Peter Jahn hatte Chor und Streichquartett im selben, dann allerdings über dreistündigen Konzert vereinigt, um „monochrome Klangerfahrungen“ zu unterwandern. Dem jungen Dirigenten Titus Engel hatte er zuvor sogar drei Ensembles anvertraut, die Streicher des Ham­burger Ensemble Resonanz, das „Composers Slide“-Posaunenquartett und die Neuen Vocalsolisten Stuttgart. Für Vielstimmigkeit war also gesorgt, so dass man das erstmals nicht mehr mitwirkende SWR Sinfonieorchester Stuttgart samt den damit wegfallenden Or­che­ster­uraufführun­gen kaum vermisste. Zudem stellte Jahn den für unterschiedliche Kom­binationen der versammelten Ensembles geschriebenen neuen Raummusiken Beispielwerke der venezianischen Mehrchörig­keit von Gabrieli und Gussago als musik­historische Bezugspunkte zur Seite. Statt in der Basilika San Marco erklangen die Novitäten im kathedralenartigen größten Saal der ehemaligen Industriebrache des Stuttgarter Theaterhauses. Günter Steinkes „ZugUmzug“ benennt schon im Titel sowohl die diversen räumlichen Positions­wechsel der vier Posaunisten als auch die posaunentypische Tonhöhenveränderung, die sich in engen, wechselseitig sich überlagernden schwirrenden Glissandi manifestierte. Derselben Spielweise bediente sich Enno Poppes „Abend“, mit dem Unterschied, dass hier schwankende Wechselnoten als Sprachimitationen ähnlich taumelnder Männerstimmen erscheinen. Kompositorische Idee und Stückverlauf fielen jedoch auseinander: Die zunächst durchaus erhellende Gegenüberstellung von vokaler Rede und instrumentaler Widerrede nutzte sich in allzu vielen Wiederholungen ab.

Für je drei Stimmen und Posaunen entstanden Wolfgang Rihms harmonisch und formal unausgegorenes „Skoteinos“ über bekannte Heraklit-Fragmente und Smolkas „Heiku-Psalm“. Hier singt beziehungsweise spielt je ein vor und hinter dem Publikum plaziertes Trio in einen geöffneten Flügel, so dass eine stille, in sich ruhende Antiphonie über den Psalm 104 entsteht, deren Schattenklänge auf dem resonierenden Saitenchor sich über die große Distanz jedoch nur schwach mitteilten. Umso lautstärker gebärdeten sich die Tiroler Bernhard Gander und Wolfgang Mitterer. Ganders „horribile dictu“ imitiert Passagen aus Horrorfilmen, bei denen Menschen in einem Raum eingesperrt sind, mit wilden Posaunenattacken, Schreien und anderen Reiz- und Signallauten von Gefahr, Panik, Angst und Schrecken. Einen ähnlich klamaukhaften Soundtrack bot Mitterers „Mit einem lachenden Auge“. Das Stück verstößt gewollt gegen den guten Geschmack und verbündet sich zugleich mit ihm, indem es die neue Musik als satirisches Schreckgespenst ihrer selbst der Lächerlichkeit preisgibt.

Mit mehr Tiefe, Energie und Sugges­tions­kraft zog „Professor Bad Trip“ den Hörer in dunkel-abgründige Traum- und Seelenregionen. Der Zyklus des 2004 erst vierzigjährig verstorbenen Fausto Romitelli hat drei Inspirationsquellen: Henri Michaux’ Selbstexperimente mit halluzinogenen Drogen, die alptraumhaft verzerrten Porträts des englischen Malers Francis Bacon und psychedelische Kunstentwürfe des italienischen Zeichners und Punkmusikers Gianluca Lerici genannt Professor Bad Trip. Die drei „Lessons“ beginnen jeweils mit aggressiven, teils geräuschhaften Klängen, die sich zu harten Riffs verdichten, ohne dass genau auszumachen wäre, ob es sich wirklich um wiederholte Patterns handelt. Wie unter dem Einfluss bewusstseinsverändernder Sub­stanzen driftet die Musik in eine klingende Parallelwelt und mutieren die Instrumente zu zweiten Ichs: Gestopfte Trompetenklänge werden zu Entenpfeifen, Streicherglissandi zu aufheulenden E-Gitarren und ein zupackendes Cellosolo durch verzerrte Verstärkung zum röhrenden Rockgitarrensolo. Am Ende verlieren sich die vom ausgezeichneten Ictus Ensemble aus Brüssel unternommenen „Trips“ in ausgebrannten, kal­ten, elektronischen Hallräumen.

Wie in den vergangenen Jahren bot das von „Musik der Jahrhunderte“ veranstaltete Festival auch Musiktheater und Film-Klang-Installationen. In „Muspilli-Triptychon“ suchten Autor und Filmer Werner Fritsch und Komponist Mark Polscher eine althochdeutsche Fassung der Apokalypse des Johannes in die Gegenwart zu übersetzen. Wie bei einem Altarbild wird gängige Weltuntergangs-Ikonographie auf drei parallele Videoleinwände projiziert: schwarz rollende See, glühende Lavaströme, schreiende Gesichter, dunkle Gewölbe, Fackeln, Mönche, Kirchenfenster, Kreuzigungsszenen und immer wieder – als Inbegriff des bedrohten Lebens – eine Mutter mit Kind vor blutrotem Sonnenuntergang. Das historisierende, klerikale Bildinventar bot keinen „Film der Zukunft“, sondern eine ins finstere Mittel­alter abgeschobene und dadurch handzahm auf Distanz gehaltene Apokalypse von vorgestern: eine prätentiöse Mixtur aus Pathos und bis zur Peinlichkeit privaten Urlaubs- und Familienvideos. Die Musik dazu kommt aus acht in einer Reihe unter und zwischen den Videos postierten Lautsprechern. Statt oktophoner Raumklänge entsteht so ein flächiges, frontales Klangbild. Ähnlich den aneinandergereihten und vielfach wiederholten Bildsequenzen schneidet Polscher längere Abschnitte unvermittelt aneinander. Auf weiten Strecken dominieren metallisch plätschernde Impulsklänge über dröh­nenden Bässen. Inmitten der steri­len, schnell zu Hintergrundgeklingel absinkenden Elektronik gewannen immerhin vom SWR Vokalensemble vorproduzierte polyphone, rhythmische Chorpassagen größere Präsenz und Intensität.

Unterhaltsam indes verlief Oscar Strasnoys groteskes Musiktheater „Fabula“ über ein spanisches Märchen in der Inszenierung von Renate Ackermann und Dorothea Reinhold. Der 1970 in Bue­nos Aires geborene Komponist schrieb die Hauptrolle Daniel Gloger auf den Leib. Dem Countertenor der Neuen Vocalsolisten Stuttgart gelingen mit seinem immen­sen Tonumfang vom Bariton bis zum Falsettsopran und seinem eminent schauspielerischen Talent im Bereich der Travestie virtuose Rollenwechsel zwischen den Figuren, die er alle zugleich spielt und singt: Erzähler, Prinz, hässliche Alte, drei Feen, schöne Jungfrau, Schreiner, et cetera, auf Spanisch, Deutsch, Jiddisch, mit verschiedenen Stimmen, Stilen, Temperamenten. Wie aus dem Stegreif fabuliert er so eine phantastisch-erotische Geschich-te, in die er sich immer wieder bis zur Raserei hineinsteigert, so dass er mit lakonischen Kommentaren und Nachfragen des Bratschisten (Garth Knox) und der Schauspielerin (Dorothea Reinhold) zum Weitererzählen gebracht werden muss.

Als Vorprogramm zum Abschlusskonzert boten siebzehn Schülerinnen und Schüler der elften Klasse des Stuttgarter Eberhard-Ludwig-Gymnasiums eine mit drei Mitgliedern des SWR Vokalensembles und dem Komponisten Philipp Vandré während eines fünfwöchigen Workshops erarbeitete eigene Komposition aus Sprachlauten, Worten, Sätzen, Chören und kleinen szenischen Einlagen. Zu hören war mit „1,1789 $“ – der Wechselkurs des Euro bei seiner Einführung 2001 – nicht das unvermeidliche pädagogische Abfallprodukt handlungsorientierter Vermittlungsprojekte, sondern ein hinsichtlich Material und Form klar durchstrukturiertes Stück, das bei aller Einfachheit durchaus seine Qualitäten hatte. Ermöglicht wurde dieser Teil des Jugendförderprogramms „Stimmt!“ des SWR Vokalensemble durch das von der Kulturstiftung des Bundes geförderte und von „Musik der Jahrhunderte“ betriebene „Netzwerk Süd“. Zugute kam die Arbeit Schülern einer Stuttgarter Eliteschule, die dort sogar einen eigenen Musik-Zug belegen und zum Teil erwägen, später Musik zu studieren. Indes hatten auch sie nach eigener Aussage bisher wenig oder gar keine Berührungen mit neuer Musik gehabt, was auch für ihre zahlreich erschienenen Eltern, Geschwister und Großelter gelten dürfte. So vermag auch Spitzenförderung und Vermittlung auf höchstem Niveau zumindest indirekt eine gewisse Breitenwirkung erzielen.