MusikTexte 117 – Mai 2008, 83–85

Glück auf!

Die vierzigsten Wittener Tage für neue Kammermusik

von Rainer Nonnenmann

Am südlichen Rand des Ruhrgebiets gelegen, gehört Witten zu den historischen Wiegen des Bergbaus im Revier. Wie vielerorts wird auch hier längst keine Kohle mehr gefördert. Geblieben sind der Stadt aber zwei bedeutende Schmieden: eine für Edelstahl und eine für neue Kammermusik. 1936 vom Wittener Komponisten Robert Ruthenfranz als „Wittener Musiktage“ initiiert, finden die „Wittener Tage für neue Kammermusik“ unter neuem Namen seit nunmehr vierzig Jahren in Zusammenarbeit der Stadt mit dem WDR Köln statt. Bis heute lassen sich in diesem Bergwerk der Avantgarde zwischen Schutt und Abraum immer wieder neue klingen­de Adern und Flöze entdecken. Glück auf!

Eine ortstypische Erdung erfuhr das dies­jährige, von der lokalen Öffentlichkeit weitgehend ignorierte Festival durch die inzwischen komplett zum Museum ausgebaute Zeche Nachtigall, die nach neun Jahren erstmals wieder mit Klanginstallationen bespielt wurde. In der lang gestreckten Ziegelei ließ Jay Schwartz die zehnte Fassung seiner „Music for Autosonic Gongs“ hören, deren neun Vorgänger bereits in Donaueschingen, Köln, Kassel und anderswo zu erleben waren. Durch computergesteuerte Rückkopplung mit Mikrophonen vor und Lautsprechern hinter den Gongs entstehen immer wieder in anderen Obertonspektren sich auf- und abbauende Klangwellen. Mehr auf die spezifischen Gegebenheiten des Orts reagierte Andres Bosshard, dessen „Klangbaustelle“ mit Ziehharmonika-Spiel traditionelle Bergmannsmusik beschwor. Georg Nussbaumer ließ im Inneren eines Schlots Ballone aufsteigen, deren Helium-Füllung durch kleine Orgelpfeifen entwich, so dass die tönenden Ballons irgendwann wieder herabsanken. Als horizontales Pendant dazu plazierte er vor und in einem begehbaren Stollen diverse hör- und sichtbare Stationen, darunter ein als Ramme immer wieder mit dem Stachel in den Fels vorstoßendes Cello, dessen über Lautsprecher verstärkte Erschütterungen und Resonanzen gemäß den Museumswärtern – auskunftsfreudige ehemalige Kumpels, die es wissen müssen – den „Klang des Bergs“ gut erfassten. Franz Martin Olbrisch schließlich nutzte für ein „Konzert­environment“ im Märkischen Museum, wo die Wittener Konzerte bis 1973 stattfanden, Archivaufnahmen des Festivals aus vierzig Jahren, die er als verfremdete Klangzuspielungen und mittels halbdurchlässiger Folien vielfach gebrochene Videoprojektionen mit live spielenden Musikern überlagerte, um Vergangenheit und Gegenwart wechselseitig zu durchdringen.

Auf Quellen eines ganz anderen Archivs, der Heidelberger Prinzhorn-Sammlung mit Briefen und Kunstwerken psychisch Kranker, basierten drei der insgesamt fünfzehn WDR- und vier weiterer Kompositionsaufträge. Für die hervorragenden Vokalsolisten der Schola Heidelberg unter Leitung von Walter Nußbaum vertonte Nigel Osborne Textfragmente mit extrem unterschiedlichen Tempi, schnell gewispert oder als langgezogener Cantus firmus, die sich gemäß dem Stücktitel „Naturtöne/Abschied“ am Ende in traumhaft kreisende Spiralwindungen verloren. Johannes Kalitzkes „-inn Stufen­der Sonderung“ kombinierte ein konvulsivisch atmendes Akkordeon mit ei­nem Männerquartett, das an Tischen manisch kritzelte, Morsesignale klopfte und nur mit vorgehaltenen Händen sprach, so dass die Aktionen mehr verschwiegen als mitteilten und gerade durch diesen Widerstreit gesteigerten Ausdruck entfalteten. Zu einem ebenso sehnsuchtvollen wie in sich versponnen Brief einer Patientin an ihren Mann schuf Jay Schwartz eine einfache, aber klare und wirkungsvolle Analogie. Die bis zur Unleserlichkeit zahllos übereinander geschriebene Bitte „Herzensschatzi komm“ ließ er als vielfach sich überlagernde gepfiffene Glissandi über Soprane und Männerstimmen so lange abwärts sinken, bis in tief­ster Lage nur noch Einzeltöne des Bassisten übrig bleiben, von denen aus das Stück dann wieder in seinen Anfang zurückläuft und sich am Schluss in höch­sten Pfeiftönen verliert: Geisteskrankheit als Circulus vitiosus ohne Entrinnen.

Eingehend porträtiert wurde das Schaffen von Rebecca Saunders. Die in Berlin lebende Engländerin und ehemalige Rihm-Schülerin plazierte für ein nächtliches Wandelkonzert mehrere Solo-, Duo- und Trio-Kompositionen ihrer „chroma“-Werkreihe in den verschiede­nen Räumlichkeiten des Märkischen Museums. Nach dem Vorbild von Stockhausens „Musik für ein Haus“ entstand so ein klingendes Mobile, welches das Publikum aktiv erwandern oder um sich kreisen lassen konnte. Jeder Raum erwies sich dabei in Abhängigkeit von seinem akustischen Sättigungsgrad als unterschiedlich durchlässig für benachbarte und fernere Ereignisse. Wuchtige Klaviercluster-Schläge mit zupackenden Trommelwirbeln und orgelnden Röhrenglocken zweier Schlagzeuger sprengten selbst den Hauptsaal, so dass das klangliche Über­maß in andere Räume reichte und zugleich das Eindringen äußerer Ereignisse verhinderte. Umgekehrt vermochten die zerbrechlichen Klänge von immerhin hundertfünf Spieluhren das Museums-Foyer nicht mal annähernd zu füllen, geschweige denn bis in andere Räume vorzudringen. Obwohl derlei Simultankonzepte schnell unverbindlich wirken, weil das Publikum hektisch umhereilt, um nur ja nichts zu verpassen, gelang Saunders durch eine ausgefeilte Einsatzfolge des im Haus verteilten Ensemble-Puzzles ein dramaturgisch zwingender Gesamtverlauf, der zu konzen­triertem Hören bannte.

Seit 2003 betitelt Saunders ihre Stücke nicht mehr nach bestimmten Farben wie Blau, Lila, Grün, Zinnober- oder Karmesinrot, sondern nennt sie einfach nur noch „chroma“ I–X. Da es ihr offenbar nicht mehr um die mit einzelnen Farben verbundenen außermusikalischen Assoziationen geht, könnte sie statt allgemein von „Farben“ phänomengerechter auch einfach von Klängen sprechen. Zugleich stellt sich die Frage, warum in vielen ihrer Stücke ausgerechnet Spieluhren vorkommen, die sich weniger durch ihre unveränderliche Klangfarbe auszeichnen, als durch eine von Naivität und nostalgischen Erinnerungen getönte Kindheitsaura. Die im Atrium der Universität Witten-Herdecke aufgeführten „chroma fragments“ liefen mit Spieluhren-Geklingel, gestrichenen Fingerzimbeln und glöckchenhaften Klavierklängen jedenfalls Gefahr, einfach nur schön, das heißt Kitsch zu sein. Als Uraufführung zu hören war Saunders „Company“ für fünf im Raum verteilte Solisten, mit denen sie bereits mehrfach zusammenarbeitete. Die 1967 geborene Komponistin zeigte sich hier als Meisterin des kleinsten gemeinsamen Nenners scheinbar völlig unterschiedlicher Instrumente. Vokalwechsel a-o-a-o des Countertenors (Kai Wessel) lässt sie in der Trompete (Marco Blaauw) als Wahwah-Dämpferklänge auftauchen, dann in der E-Gitarre (Adrian Pereyra) als Tonhöhenschwankungen mit Gleitstrahl, im Cello (Éric-Maria Couturier) als übertriebene Vibrati und endlich im Akkordeon (Teodoro Anzellotti) als Bebungen zweier hoher Liegetöne. Da die Klänge im Pianissimo-Bereich ihre Abstrahlcharakteristik verlieren, kommt es zu ortlos im Raum stehenden Verschmelzungen. So entsteht eine sinnlich und lustvoll hörbare Einton-Musik in der Scelsi-Nachfolge, deren halbstündige Adagio-Strecke mit kurzem kontrastierendem Mittelteil jedoch formal unterentwickelt blieb.

Nachdem die Wittener Tage bereits 2006 zwei Kanons von Hans Abrahamsen vorgestellt hatten, ließ der 1952 geborene Däne und ehemalige Ligeti-Schüler dieses Jahr unter demselben Obertitel „Schnee“ eine Erweiterung auf zehn Kanons und drei Intermezzi hören. Seine sich selbst begleitenden Melodien und Rhythmen provozieren ein permanentes Wahrnehmungsspiel zwischen Melodie- und Begleitstimme, Vorder- und Hintergrund. Auch wenn die bloße Reihung der Kanons mit über einer Stunde Gesamtdauer ermüdete, handelt es sich – zumal in so konzentrierter Wiedergabe durch das „ensemble recherche“ – um eine ganz eigentümliche, in sich bewegte, stille und minimalistisch um sich selbst zirkulierende Musik, die sich von den meisten zeitgenössischen Ansätzen abhebt, und das will etwas heißen. Wolfgang Rihms „Male über Male 2“ überzeugte mit formaler Komplexität, die sich stimmig und nachvollziehbar rundete dank Jörg Widmanns im Detail präzisem und dramaturgisch in weiten Bögen atmendem Klarinettenspiel sowie der wachen Begleitung durch neun Musiker des WDR Sinfonieorchesters Köln unter Leitung von Emilio Pomàrico. Durch klare Materialschichten bestimmt zeigte sich auch Mark Andres „…es…“, intensiv wiedergegeben vom Klangforum Wien unter Leitung von Johannes Kalitzke. Brice Pauset komponierte dagegen mit „La Harpe de Mélodie“ einen bauschigen Handschlag zwischen Boulez und Lachenmann, während die angeblich intendierte Verbindung von spätmittelalterlicher Ars subtilior mit süd­indischem Mridangam kaum von sich Hören machte. Virtuos brillierenden Vibra- und Marimbaphon-Kaskaden stellte Pauset ein breites Spektrum geräuschhafter Spiel- und Klangpraktiken an die Seite. Der Eindruck von Äußerlichkeit und formaler Labilität, den die luxurierende Klangvielfalt hervorrief, mag von altdeutschen Vorurteilen gegen französische Musik genährt sein, findet jedoch eine Bestätigung in Pausets impressionistischem Anliegen – er selbst spricht von „Animismus“ der Klänge –, „eine Musik ohne Plan, ohne triumphierende Architek­tonik“ zu schreiben.

Wenig überzeugen konnten auch Erin Gees „Mouthpieces“ mit immer wieder denselben repetitiven Mustern verschiedener Stimm- und Sprachlaute. In Verbindung mit dem Klangforum Wien beleuchteten die von der Vokalkünstlerin auch als Soloperformance vorgetragenen Aktionen immerhin sinnfällige Entsprechungen zu instrumentalen Artikula­tionsweisen. Ansonsten gerieten die fortwährend wiederholten „Gugu-Dada“-Plosivfolgen ihres „Mouthpiece X“ vor dem Hintergrund einer eher basalen Dur-Moll-Harmonik zu einer Art mütterlichem Liebes- oder Säuglingslallen. Flexiblere Spiel- und Vokaltechniken bot Dorothee Oberlinger in ihrer Blockflöten-So­lo­performance mit Luciano Berios „Gesti“ von 1966 und neuen Stücken von Dai Fuji­kura und Jorge Sánchez-Chiong. Ein wahres Feuerwerk an Überraschungseffekten zündete schließlich Olga Rajewa in „Krimi“. Die 1971 geborene Moskauerin bediente sich dabei auch Klängen wie aus dem Hörspielstudio: rennende Schritte auf Tomtoms, keuchender Atem des Akkordeon-Balgs, quietschende Autoreifen als Glissandi auf dem Kontrabass und finaler Pistolenschuss als knallender Trommelschlag. Indes wollte all dies keine Spannung aufkommen lassen, weder die eines imaginären Films noch musikalisch. Stattdessen fügte sich das Geschehen durch schwebende Vibraphonmelodien zu einem ebenso comic-haften wie hausbackenen Rondo.

Zum Höhepunkt des seit 1990 von WDR-Musikredakteur Harry Vogt programmierten Festivals wurde in der Königsdisziplin reiner, absoluter Kammermusik das Konzert des Arditti-Quartetts. Die vor gut zwei Jahren mit Lukas Fels als neuem Cellisten abgeschlossene Rund­erneuerung dieser Quartettformation hat auch das Spiel des noch als letztes Gründungsmitglied von Anfang an aktiven Primarius Irvine Arditti hörbar verjüngt. Wurde früher zuweilen der immer wieder gleiche packende Zugriff seines Quartetts auf unterschiedlichste Partituren als gleich­macherisch kritisiert, so begeisterten die vier Musiker jetzt mit neuer Lebendigkeit, Präzision, Sensibilität und Treffsicherheit bei der Ausgestaltung von Gesten, Phrasen und ganzen Werken. Eindrücklichen Beweis ihres Könnens gaben sie mit „Exordium“ von Brian Ferneyhough, der nach der Uraufführung seines Fünften Streichquartetts 2006 diesmal gleich mit zwei neuen Werken vertreten war. Sein Elliott Carter zum hundertsten Geburtstag gewidmetes Stück besteht aus über vierzig kurzen Charakterfragmenten, deren dynamische, expressive und satztechnische Bandbreite zugleich hundert Jahre Streichquartett-Schaffen zu rekapitulieren scheint und gleich zu Beginn die bestimmenden klanglichen Extrempole markiert: einem schroff unter Überdruck gepressten Kratzen folgt augenblicklich ein mit Unterdruck gespieltes zartes Flageolett. Klassisch viersätzig dagegen gab sich „Dum Transisset“, das Ferneyhough auf der Folie eines Choralfragments des englischen Renaissancekomponisten Christopher Tye komponierte. Altmeister Sir Harrison Birtwistle schließlich steigerte sein gut halbstündiges Zweites Streichquartett zu immer furioser aufspielender Musikantik, bis die­se sich totläuft und schließlich abrupt abbricht. Wie um neu anzusetzen, probieren die Musiker im letzten Abschnitt jeder für sich verschiedene Spielgesten aus, ohne erneut zu einem konsistenten Satz zusammenzufinden. Zur räumlichen Verdeutlichung ihrer musikalischen Dissoziation gehen sie zu voneinander separierten Plätzen und treten der Reihe nach endlich ganz von der Bühne ab. Nur der einsam zurück bleibende Cellist wiederholt in solipsistischer Vereinzelung noch ein und dieselbe Floskel, der keiner mehr antwortet: Eindrücklicher Abgesang auf eine ebenso alte wie quicklebendige Gattung.