MusikTexte 118 – August 2008, 95–96

Kosmischer Teilchenbeschleuniger

Die ersten „Stockhausen-Kurse“ ohne Stockhausen

von Rainer Nonnenmann

Im Dezember vorigen Jahres hat der Kommandant die Brücke verlassen, doch seine Kosmonauten steuern furchtlos weiter nach seinem Fahrplan. Als 1998 klar wurde, dass sich Karlheinz Stockhausens alter Wunschtraum eigener Kurse für Komponisten, Musiker und Musikwissen­schaftler in seinem Bergischen Wohnort Kürten, dreißig Kilometer östlich von Köln, verwirklichen ließ, notierte er vorsorglich gleich für alle Jahrgänge der „Stockhausen-Kurse Kürten“ bis zu seinem hundertsten Geburtstag 2028 ein Motto. Die Losung der diesjährigen elften Kurse wurde nun erstmals nicht von ihm ausgegeben, sondern von Suzanne Stephens, seiner Musikergefährtin seit 1974: „,Lernen zum Strahlen‘, so wie Stockhausen selbst immer gestrahlt hat und es durch seine Musik weiterhin tun wird“. Rührung und Trauer über den erlittenen Verlust waren bei der Rednerin und den im Saal versammelten Teilnehmern und Stockhausenianern unverkennbar.

Während der vergangenen zehn Jahre haben über tausend Musikerinnen und Musiker aus zweiunddreißig Nationen an den Kursen teilgenommen. Die ersten „Stockhausen-Kurse“ ohne Stockhausen 2008 suchten zwei Träume des Meisters posthum umzusetzen. Statt eine Woche dauerten sie erstmals siebzehn Tage und präsentierten im Rahmen eines neu ins Leben gerufenen „Zentrums für Stockhausen-Raummusik“ jeden Abend elektronische Werke, was beim Publikum jedoch nur zögerlichen Zuspruch fand. Begleitend dazu leiteten Stockhausens Klang­regieassistent Bryan Wolf und Stockhausens persönlicher Tontechniker Igor Kavu­lek erstmalig Seminare zu Klangregie. Als für die zweite Woche die Teilnehmer der Interpretations- und Analysekurse anreisten, wurde es voller. Doch blieben es statt der sonst etwa hundertdreißig Teilnehmer diesmal lediglich etwa achtzig. Vor allem für Komponisten dürften die Kurse ohne Stockhausen viel von ihrem Reiz verloren haben.

Die insgesamt sechzehn Konzerte setzten sich zusammen aus einem Gastkonzert des Asko-Ensembles zur Eröffnung, vier Dozenten- und drei Teilnehmerkonzerten sowie acht Konzerten mit Lautsprecherwiedergaben von fünfzehn elektronischen und instrumentalen Werken Stockhausens. Wie in den vergangen Jahren unterrichteten versierte Stockhausen-Interpreten: Suzanne Stephens (Klarinetten), Kathinka Pasveer (Flöten), Marco Blaauw (Trompete), Nicholas Isherwood (Bass), Stuart Gerber (Schlagzeug), Alain Louafi („Inori“-Gesten) sowie die Pianisten Antonio Pérez Abellán und – als ehemalige Schüler – Frank Gutschmidt und Benjamin Kobler. Die zum Abschluss durch die Dozenten verliehe­nen Teilnehmer-Preise gingen an acht Musikerinnern und zwei Musiker.

Natürlich fehlte Stockhausen bei seinen Kursen, persönlich und fachlich, wie Suzanne Stephens am Ende der Kurse schilderte: Vor allem seine Freundlichkeit und Motivation gegenüber allen Mitarbeitern hat gefehlt, und seine Arbeit am Mischpult. Er konnte alle Stücke im Schlaf regeln, während das jetzt Kathinka Pasveer und Bryan Wolf mit viel Proben und Lernen über­nehmen mussten. Gottseidank hat Herr Stock­hausen sehr akribisch in seinen Partituren alles notiert und uns instruiert. Wir haben auch ein regelrechtes aufführungspraktisches Archiv aus vielen Briefen und Akten zu allen Werken, in denen wir nachschlagen können. Er hat sich immer um alle Details der Aufführungen gekümmert und wir konnten ganz entspannt in die Konzerte gehen. Jetzt waren auf einmal wir verantwortlich. Das war ein Schock, auch wenn wir seit dreißig Jahren an seiner Seite erfahren haben, wie es sein soll. In den beiden Kurswochen haben wir alle sehr viel gelernt, vor allen Dingen, wie in einer Familie zusammenzuarbeiten, so dass jeder die Verantwortung für seinen bestimmten Bereich übernimmt, den er gut gelernt hat. Keiner hat mehr die Gesamtverantwortung wie Herr Stockhausen früher.

Neben der veränderten Gesamtsituation, der verlängerten Kursdauer und den erstmaligen Klangregieseminaren und elektronischen Konzerten soll es im nächs­ten Jahr weitere Neuerungen geben. Als Musikerin mit der längsten Erfahrung an Stockhausens Seite sowie als Vorsitzende der Stockhausen-Stiftung und Begründerin der Kurse zu Stockhausens siebzigstem Geburtstag 1998 wachsen Suzanne Stephens dabei wichtige Koordinations- und Leitungsfunktionen zu: Stockhausen hat sich immer eine ganzjährige Schule gewünscht, bei der Musiker drei Monate in unserem Probenraum – der über eine Mehrspuranlage verfügt, so dass man alles simulieren kann – Programme fertig erarbeiten und dann ein halbes Jahr auf Welttournee gehen: Eine Art „Rising Stars“ auf Stockhausen. Damit wollen wir nächstes Jahr anfangen, so dass unsere jungen Musiker, die schon seit Jahren bei den Kursen gewesen sind, die Chance haben, die Stücke hunderte Male zu spielen, denn da lernt man sie erst wirklich. Ich habe deswegen schon viele Veranstalter angesprochen, die Stockhausen immer unterstützt haben, und die sind Feuer und Flamme für die Idee, die Stockhausen-Tradition und -Perfektion weiter zu pflegen. Außerdem werden wir das ganze Jahr über Seminare für Dirigenten durchführen, vielleicht mit Peter Eötvös oder Rupert Huber, was dann hoffentlich auch in die Kurse mündet. Wir werden auch Seminare für Musiklehrer Wie unterrichtet man Stockhausen?“ anbieten, in denen wir Projekte vorschlagen, auch Lehrmittel und Filme ausgeben, zunächst mit unseren Musikern an den Schulen der Region, und wenn das klappt, dann in ganz Deutschland und nach und nach mit mehrsprachigem Unterrichtsmaterial in anderen Ländern. Bei den nächsten Kursen werden wir mit Marco Blaauw die Solistenversion von „Michaels Reise“ für neun Musiker machen und sie dann auf Tournee schicken. Und wir werden das musikwissenschaftliche Angebot erweitern. Neben Richard Toops wunderbaren Seminaren, die weiterlaufen, könnte Jerome Kohl Einführungen zu seinen Spezialgebieten geben, zu „Zeitmaße“ und anderen Werken. Auch Imke Misch habe ich angesprochen. Ferner wollen wir Gast-Klangregisseure einladen, Paul Jeukendrup für „Michaels Reise“ und Gérard Pape aus Paris und andere. Also, es fehlt nicht an Ideen. Herr Stockhausen sagte immer: „Furchtlos weiter“, und – das darf man gerade auch bei den Kursen nicht vergessen – „Furchtlos heiter!“

Nachdem Stockhausen seit 1977 das Jahr mit den zwölf Monaten und die Woche mit den sieben Tagen komponiert hatte, arbeitete er bis zuletzt an seinem „Klang“-Zyklus über die vierundzwanzig Stunden des Tages, den er – der bisher noch alles Angefangene zu Ende brachte – nun als sein erstes und letztes Fragment hinterlässt. Zur Vollendung fehlen die letzten drei Stunden. Bei den diesjährigen Kursen waren neben vielen weiteren Werken drei Stücke des Zyklus zu erleben. Die drei Pianisten-Dozenten spielten wie schon 2006 in abwechselnder Folge den fast zweieinhalbstündigen vierundzwanzigteiligen Unterzyklus „Natürliche Dauern“, die dritte Stunde aus „Klang“. Im Eröffnungskonzert brachte das hervorragende Asko Ensemble aus Amsterdam die im Juni 2007 uraufgeführte zehnte Stunde „Glanz“ zur deutschen Erstaufführung. Im Verlauf dieses fast dreiviertelstündigen Stücks wird ein Kerntrio aus Klarinette, Fagott und Bratsche gelegentlich durch äußere Einwürfe bereichert, durchkreuzt oder unterbrochen. Zuerst fährt eine spitz meckernde Oboe dazwischen und steckt das einstweilen vorwiegend melodische Geschehen mit rotierenden Kreisbewegungen an, die das Trio dann bis in aberwitzige Umdrehungszahlen beschleunigt. Ein anderes Mal liefern sich zwei Blechbläser über das Ensemble hinweg ein Duell hin und her geworfener Töne. Schließlich spaziert ein Tubist ohne Rücksicht auf das Spiel der anderen quer über die Bühne. Als Gegengewicht zu solch kindlich-naiven Necke­reien gab Stockhausen das Stück gleich zu Beginn durch gesprochene Worte als katholischen Lobpreis und Segenswunsch zu erkennen: „gloria in excelsis deo, et in terra pax, hominibus benevoluntatis“.

In der dreizehnten Stunde verdichtet der Meister die von den Planeten- und Mondbewegungen abgeleitete Erdenzeit ins Mikrokosmische. Bei der Arbeit an „Cosmic Pulses“ sei es ihm gegangen, als habe er die Rotationsbahnen von vierundzwanzig Monden oder Planeten zu komponieren gehabt. Was sich sonst im Verlauf von Monaten oder Jahren vollzieht, komprimierte er in extremem Zeitraffer auf Minuten und Sekundenbruchteile. Die achtkanalige elektronische Komposition besteht aus vierundzwanzig melodischen Schleifen von einem bis zu vierundzwanzig Tönen, die in vierundzwanzig unterschiedlichen Registern im Gesamtumfang von sieben Oktaven in vierundzwanzig verschiedenen Tempi von 9,36 bis maximal 1920 Impulsen pro Minute beziehungsweise maximal zweiunddreißig Impulsen pro Sekunde zwischen den acht Lautsprechern kreisen. Dazu entstehen inmitten des kosmischen Geflirres faszinierende Phantomklänge wie von Synthesizern, Orgeln, Orchestern oder menschlichen Stimmen. Herabrieselnde Klangkaskaden und Tonhöhenschwankungen erwecken zudem den Eindruck, als höbe oder senke sich der gesamte Klangraum über oder unter die im Raum plazierten Lautsprecher: An die Stelle realer Akustik tritt irreale Kosmik.

Anfangs lassen sich die einzelnen Schichten und Raumwechsel noch nachvollziehen. Schon bald werden die Raum- und Klangbewegungen jedoch derart dicht und schnell, dass nur noch ein pulsierendes Zittern zu hören ist. Für das träge menschliche Gehör wird die strenge Ordnung dieses rasenden Planetentanzes zum wild prasselnden Asteroidensturm. Selbst der Komponist gab im Werkkommentar zu bedenken „Ob man das alles hören kann, weiß ich nicht.“ Nach mehrmaligem Hören soll er geäußert haben, er könne nun zumindest die ersten sieben Minuten durchhören, während er den Rest noch zu lernen habe. Statt Menschenohren erfordert „Cosmic Pulses“ Insekten- oder Fledermausohren. Das Stück ist eine weitere Sprosse in Stockhausens lebenslangem ästhetischem Konzept ständigen „Über-sich-Hinauswachsens“, damit man „jedes Mal ein Stückchen des schwerfälligen Sackes hinter sich lässt, den man von den Säugetieren dieses Planeten geerbt hat“.

Realisiert hat der Verewigte sein gut halbstündiges „Experiment“ mit Hilfe der Techniker des Experimentalstudios für Akustische Kunst Freiburg sowie seines letzten persönlichen Assistenten Antonio Pérez Abellán. Nach der Uraufführung in Rom im Mai 2007 wurde der Meister von Dutzenden junger Menschen umlagert, die in diesem Teilchenbeschleuniger offen­bar den Puls ihrer Zeit erkannten. Auch bei den damals anschließenden letztjährigen Kursen in Kürten wurde das Stück gefeiert. Diesmal fand die Anerkennung jedoch nicht mehr ihren Adressaten. Dozenten, Kursteilnehmer und Hörer bezeugten mit lang anhaltendem Applaus jetzt nicht nur ihren Dank, sondern vor allem ihre Entschlossenheit zum Weitermachen auch ohne die zentrale Lichtgestalt, was den Verlust des Fixsterns indes umso spürbarer machte.