MusikTexte 119 – November 2008, 86–89

Die Liebesmale des Olivier Messiaen

Neue Compact Discs

von Rainer Nonnenmann

Da er sich selbst mehr als Theologe verstand denn als Komponist, sind die Werke von Olivier Messiaen, der am 10. Dezember vor einhundert Jahren geboren wurde, stets mehr als „nur“ Musik. Sie sind ebenso Farbe- und Klangmystik, tönende Jenseitssehnsucht und katholisches Glaubensbekenntnis.

Die Zwitschermaschine

Unter dem Titel „Hommage à Messiaen“ präsentiert der weithin geachtete Interpret von Klaviermusik des zwanzigsten Jahrhunderts Pierre-Laurent Aimard neue Einsielungen (Deutsche Grammophon), darunter das seltener gespielte Frühwerk „Préludes“ von 1928/29. Der Komponist schrieb es als zwanzigjähriger Konservatoriumsstudent unter dem Eindruck des Todes seiner Mutter. Während er sich in späteren Jahren vor allem auf Rhythmik und Einzelstimmführung konzentrierte, überwiegt hier noch die erweiterte harmonische Vielfarbigkeit des Impressionismus. Komponist und Interpret lassen Akkorde wie Edelsteine funkeln und perlende Tonkaskaden wie Brillanten einer gerissenen Kette über den gediegenen Marmorboden kühler Modalharmonik tanzen.

Aus dem „Catalogue d’oiseaux“ von 1958, dessen teils frei anverwandelte, teils streng transkribierte Vogelstimmenkompositionen über zweieinhalb Stunden dauern, wählte Aimard den ornithologischen Waldspaziergang „La Bouscarle“ (Der Seidenrohrsänger) und „L’Alouette Lulu“ (Die Heidelerche), zwei Stücke mit höchst variabler, gestisch impulsiver Rhythmik. Bisher kaum auf CD vertreten waren Aufnahmen der Rhythmus-Etüden „Îles de feux“ von 1949/50, zwei effektvolle Bravourstückchen, deren wilde Ostinato- und Repetitions-Motorik bei einfacher, chromatisch abgewandelter Kinderlied-Melodik Messiaen als späten Nachzügler des Bartókschen Barbarismo zeigen. Alle Aufnahmen entstanden im Februar 2008 im großen Saal des Wiener Konzerthauses, dessen Leere sich hörbar in den Klang eingeschrieben hat. Vielleicht wurden die Aufnahmen auch zusätzlich verhallt. Messiaens spezielle Mischung aus romantischer Ausdrucks- und impressionistischer Eindrucksmusik gewinnt so etwas Sphärisch-Diffuses, verliert aber zugleich etwas von ihrer clarté.

Celeste Liebesklänge

Unter dem Titel „Jardin du sommeil d’amour“ (Garten des Liebesschlafs), einer Entlehnung aus Messiaens „Turangalîla-Symphonie“ vom Ende der vierziger Jahre, vereinigt dieselbe Plattenfirma ältere Aufnahmen von Stücken, die alle von göttlicher Liebe handeln: die populäre Abendmahlsmotette „O sacrum convivium“ von 1937 mit ihrem süßen Liebeshauch verströmenden Chorsatz; die musikalische Meditation „Le baiser de l’Enfant-Jesus“ (Der Kuss des Jesuskinds) aus den „Vingt Regards“ von 1944; den Schlusssatz aus dem „Quatuor pour la fin du temps“ mit der sich in höchster Höhe verlierenden Geige; und der leuchtenden E-Dur-Choralauferstehung der „Transfiguration de Notre-Seigneur Jésus Christ“. Die Reihung des von Vogelstimmen umzwitscherten Liebesnests aus der „Turangalîla-Symphonie“ mit dem „Gesang des Sterns Aldebaran“ von 1974 und dem späten „Demeurer dans l’amour“ aus Messiaens letztem vollendetem Werk ­„Eclairs sur l’Au-Delà“ von 1991 legen frappante Parallelen zwischen den Werken offen.

Die Aufnahmen mit dem Orchestre de l’Opéra Bastille und den Philharmonikern von Radio France unter Leitung von Myung-Whun Chung, einem langjährigen Messiaen-Interpreten, sind tadellos und wurden bereits anderweitig vermarktet. Die Auswahl der Stücke ist jedoch zu einseitig. Aus dem Zusammenhang der Werke gerissen und ohne entsprechende Gegenakzente, die Messiaens Œuvre sehr wohl kennt, verkommen die Liebesstücke zur Kuschel-Klassik, einlullend, weich und müde, als seien es formlose Prototypen der New Age-Bewegung. Messiaen schreibt tiefgläubige Himmelsmusik. Seine klingenden Hochämter für Sonn- und Feiertage sind erfüllt von religiöser Verzückung. Ohne Erdenreste sind sie elegisch verklärt zu ätherischen Himbeerveilchenrosenweihrauchdüften. In Serie genossen hinterlassen sie leichtes Unwohlsein. Die durch keinen Zweifel getrübte Christus- und Gottesliebe des Komponisten unterliegt dem gefährlichen Nahverhältnis von Utopien und Paradiesvorstellungen mit Idylle, Kitsch und billigen Devotionalien.

Generation 1908

Bereits 2006 hatte die Deutsche Grammophon Werke von Dimitri Schostakowitsch und Gerhard Frommel gegenübergestellt. Jetzt kombiniert ihre neue CD-Reihe „Club 100“ Werke aus den dreißiger Jahren der allesamt 1908 geborenen Komponisten Kurt Hessenberg, Lars-Erik Larsson und Messiaen. Letzterer ist mit der Suite „L’Ascencion“ von 1933 vertreten. Direkt vom ersten Takt an machen hier strahlende Blechbläserchoräle die Auferstehung Christi zur Gewissheit. Die Musik zur Feier des Herrschers der himmlischen Heerscharen kennt keine Dramaturgie und Fallhöhe. Mangels anderer Bezugspunkte merkt der Hörer kaum, dass er bereits durchweg im siebenten Himmel schwebt.

Hessenbergs „Suite zu Shakespeares ,Der Sturm‘“ entstand ursprünglich als Schauspielmusik und wurde 1942 von den Berliner Philharmonikern uraufgeführt. Der Frankfurter Komponist hält an Tonalität, Melodik und traditionellen Formen fest. In sieben Sätzen porträtiert er die Hauptfiguren und Stationen von Shakespeares Drama mit Anleihen an historische Stile. Auf eine festliche Intrada im Renaissancestil folgen ein luftiges Adagio, ein Trauermarsch, ein polterndes Scherzo mit neobarock schnatterndem Mittelteil und ein choralartiger Epilog. Larsson war zeitweilig Schüler von Alban Berg in Wien und der erste Schwede, der nach Anfängen in der Sibelius-Nachfolge die Zwölftontechnik anwendete. 1934 komponierte er sein „Konzert für Saxophon und Streichorchester“ für den Virtuosen Sigurd Raschèr. Formal und thematisch folgt das dreisätzige Werk (souveräner Solist ist Frank Lunte) klassischen Vorbildern mit einem munter drauflos plappernden Finale. Kaum anders denn (selbst)ironisch verstehen lässt sich in diesem Kontext eine Solokadenz über das berühmte Klopfmotiv aus Beet­hovens Fünfter Symphonie.

Jenseitsvisionen

Statt wie andere Ensembles und Labels nur Auslesen süßester Häppchen zu bieten, legt das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg gleich das Gesamtwerk Messiaens für Orchester in einem Schuber mit acht CDs (hänssler classic) auf den Jubiläumstisch. Die Aufnahmen entstanden zwischen 1999 und 2008 unter der Leitung des seitdem amtierenden Chefdirigenten Sylvain Cam­bre­ling. Unter den dreizehn Orchesterwerken befinden sich auch die großartige „Turangalîla-Symphonie“, die abendfüllende „Transfiguration de Notre-Seigneur Jésus-Christ“ und das fast volle zwei CD-Längen umfassende Riesenwerk „Von den Canyons zu den Sternen“, das Mes­siaen 1974 unter dem Eindruck der sechzig verschiedenen Rottöne des Bryce Canyon im US-Bundesstaat Utah komponierte.

Vom 1934 entstandenen Frühwerk „Die Himmelfahrt“ bis zu den 1991, im Jahr vor seinem Tod vollendeten „Streiflichtern über das Jenseits“ reiht der katholische Klangmystiker seine festlichen Glaubensbekenntnisse wie Pontifikal­ämter eines ans andere. In solch volltönender Folge quer durch das Kirchenjahr erwecken sie den Eindruck, als habe sich sein Schaffen während der letzten vierzig Jahre nicht mehr verändert. In allen Werken gegenwärtig sind die Vogelstimmen der „gefiederten Gottesboten“ und die immer gleichen Modalakkorde in wieder und wieder denselben Instrumentationsvarianten. Kompositorischer Stillstand wird so zum Ausblick auf das Ende der Zeit in himmlischer Ewigkeit.

Das Ende der Zeit

Keine halben Sachen macht auch das sonst auf das klassisch-romantische Repertoire konzentrierte Klaviertrio „Wanderer“. Zusammen mit dem Klarinettisten Pascal Moraguès produzierte die französische Formation eine neue Einspielung (harmonia mundi) von Messiaens wohl berühmtestem und auf dem Plattenmarkt am meisten vertretenen Werk. Die ungewöhnliche Besetzung für Violine, Violoncello, Klarinette und Klavier verdankt das „Quatuor pour la fin du temps“ der zufälligen Zusammensetzung der Musiker, mit denen Messiaen den Winter 1940/1941 in deutscher Kriegsgefangenschaft in Görlitz verbrachte. Für sie schrieb er sein frühes Meisterwerk.

Inspiriert durch die Apokalypse der Johannes-Offenbarung liegt den acht Sätzen des „Quartetts auf das Ende der Zeit“ ein theologisches Programm zugrunde: Den sechs Schöpfungstagen folgt der Ruhetag und nach der siebten Posaune des Jüngsten Gerichts die Auferstehung von den Toten in die Ewigkeit des unvergänglichen Lichts der Liebe und des Friedens Gottes. Keine andere Kammermusik ist so ekstatisch, erzkatholisch und wollüstig zugleich. Beeinträchtigt wird die Aufnahme durch allzu inflationär eingesetztes Vibrato. Wie unter Freudentränen schluchzen Geige und Violoncello in höchster Lage. Die Musik klingt dadurch zuweilen weniger nach verklärter Jenseitsschau, denn vielmehr allzu menschlich wie grell überzeichnete Heiligenbildchen mit blutendem Herz.

Blaupause des Klingens

Wer zum ersten Mal Mauricio Kagels „Acustica“ im Konzert erlebt, dem geht ein neuer Kosmos des Klingens auf. Die ganze Welt ist ein vielstimmiges Schwingen, Schallen, Tönen, Tröten. Mit kindlicher Spielfreude werden unterschiedlichste Gegenstände abgetastet, gerieben, geschlagen, geblasen: Schläuche, Röhren, Eimer, Steine, Schallplatten, Spielzeug und herkömmliche Musikinstrumente verschie­dener Zeiten und Weltgegenden. Die Musiker traktieren die Dinge mit Zusatzgeräten, Trichtern, mit Förderband, Lötbrenner und unorthodoxen Spielweisen. Dazu erzeugen sie menschliche Laute und Worte bis zum Gesang. In stoisch-ernsten Mienen agieren sie mit den Apparaturen wie Forscher in einem seltsam verrückten Klanglabor zwischen Sinn und Unsinn. Doch was ist Nonsens, wenn alles Klingende Musik geworden ist?

„Acustica“ ist die Lust anzumerken, die Kagel beim Ausdenken, Ausprobieren und Notieren all dieser Sonderbarkeiten hatte. Die zweihundert Karteikarten können bei jeder Aufführung neu kombiniert werden. Das 1970 in Köln uraufgeführte Stück animiert zum Mit- und Selbermachen. Auf der neuen CD ist es in zwei verschiedenen Interpretationen der fünf Musiker des Krefelder „TAM Theaters“ zu hören (Zig-Tag Territoires). Als ein Schlüsselwerk von Kagels „instrumentalem Theater“ ist „Acustica“ Musik zum Hören und Sehen. Die Sichtbarkeit der Dinge und Aktionen ist unerlässlich. Auf CD dagegen werden die unterschiedlichen Medien – experimentelle Klangerzeuger und Tonbandzuspielungen – zu eindimensionaler Lautsprechermusik nivelliert. So erscheint nur das tiefenamputierte Flachbild eines plastischen Gebildes. Die zahlreichen Fotos im CD-Beiheft bleiben ein hilfloser Versuch, diesen Verlust zu kompensieren. Wie lebendig sich instrumentales Theater mit allen Sinnen erleben lässt, demonstrierte Mitte Juni in der Halle Kalk eindrücklich „Hellhörig“ der Kölner Komponistin Carola Bauckholt. Sie hat es bei Kagel gelernt.

Metaphorische Stilmasken

Valentin Silvestrows Sechste Symphonie hört man weniger, als dass man ihre Farben und Temperaturen empfindet. Pulsierendes Aufleuchten und Verglühen von Klängen versetzt eine dunkle Bassgrundierung in sanfte Wellenbewegun­gen, deren Kronen mal warme Geigenkantilenen mit rotem Blattgold, mal Klavier und Glocken mit kühl schimmernden Silberstreifen zieren. Die hallige Akustik des Aufnahmeorts, die Heilig-Kreuz-Kirche in Bad Godesberg, sowie die intensive Einspielung durch das Beethoven Orchester Bonn unter Leitung seines GMD Roman Kofman tun ein übriges, um das 1995 entstandene Werk zu einem kosmisch-ozeanischen Erinnerungsraum zu machen (Dabringhausen und Grimm). Durch allzu viele Wiederholungen derselben Elemente verliert sich das Farb-Klang-Raum-Geschehen jedoch zu oft in rein atmosphärischem Hintergrundrauschen.

Die fünfsätzige Symphonie folgt Traumlogiken und provoziert nicht-prozessuale Hörerlebnisse: Impulse verzittern, werden obsessiv wiederholt, weiten sich zu Klangflächen, schlagen plötzlich in Neues um, werden vergessen und ebenso schlagartig wieder erinnert. Wie aus dem Unterbewusstsein dämmern historische Reminiszenzen auf. Die melancholisch weltvergessenen Gesten des Niedersinkens im uferlos langen Mittelsatz klingen kaum anders denn im Schluss-Satz von Mahlers „Lied von der Erde“. Tatsächlich sind es vor allem Bruckner, Wagner, Mahler, früher Schönberg, Messiaen und nicht der 1937 in Kiew geborene Komponist, die aus diesem – so Silvestrows eigene Charakterisierung – „metaphorischen Stil“ zum Hörer sprechen.

Alpensinfonie en miniature

Georg Krölls „Wie Gebirg, das hochaufwogend“ ist keine Alpensinfonie mit Riesenorchester, Alphörnern, Windmaschinen und äußerlichen Abschilderungen sich auftürmender Gesteinsmassen. Sein Streichtrio registriert eher seismographisch die inneren Regungen, die Friedrich Hölderlin – Dichter der gleichnamigen Titelzeile – beim Betrachten der Berge empfunden haben mag. Vom fahlen Anstieg steigert sich der Bogen ekstatisch, um wieder matt zu Tal zu sinken. Die CD (Telos7) versammelt Streich-, Bläser- und Klaviertrios des 1934 in Linz am Rhein geborenen Komponisten. Allen Stücken gemeinsam sind impulsive Gestik, Musikantik und klangliche Differenzierung, sowohl in feinsten Nuancen als auch schärfsten Kontrasten: weicher Gesang und kosende Glissandolinien stoßen auf wildes Fauchen und Kratzen mit übermäßigem Bogendruck.

Zugleich verfügt Krölls Musik über Anklänge an Spätmittelalter, Renaissance und Barock, die in Bearbeitungen altfranzösischer Chansons von Gilles Binchois ohrenfällig werden. Indes wird diese historische Tiefendimension immer wieder gebrochen. In den elegischen Anfang des auf Frescobaldi rekurrierenden „Capriccio sopra mi“ fährt plötzlich mit voller Wucht ein Kontrabass, als würde ein schwere Schrank verrückt. Das kammermusikalische Meublement bleibt fortan gestört. Nicht zuletzt dank der ausgezeichneten Interpreten von Ensemble Recherche und Ravinia Trio liefert „Omaggio“ – besonders im fulminant virtuosen Finale – ein anschauliches Beispiel für die Klarheit, mit der sich Krölls Kompositionen als variative Abwandlungen einiger prägnanter Elemente entfalten.

Mit Pauken und Trompete

Pauken und Trompeten sind ein Inbegriff von Fest- und Marschmusik. Stücke für Trompete und Schlagzeug gibt es jedoch kaum. Die Besetzung ist dem traditionellen Gattungskanon fremd und wurde nach 1945 wegen ihrer militärischen Konnotationen bis auf wenige Ausnahmen gemieden. Da bedurfte es erst des Trompeters Reinhold Friedrich und der Schlagzeugerin Robyn Schulkowsky. Ihnen verdanken eine Reihe älterer Werke ihre Wiederentdeckung und neue Werke ihre Entstehung. Schulkowsky kam 1980 an die Kölner Musikhochschule zum Schlagzeugstudium bei Christoph Caskel, um schon bald in Uraufführungen von Stockhausen, Kagel und Walter Zimmermann aufzutreten. Im Duo mit Friedrich brachte sie beim Berliner Festival Ultraschall 2005 drei Werke zur Uraufführung, die sie jetzt neben älteren Werken auf CD (Capriccio) veröffentlichten.

Einem neoklassizistisch gefärbten Frühwerk des einundzwanzigjährigen John Cage, der „Sonata“ von 1933, stellen sie das Spätwerk „One4“ von 1990 gegenüber. Desgleichen kombinieren sie das „Trio“ des 1951 erst sechzehnjährigen Cage- Schülers Christian Wolff, basierend auf lediglich drei stets neu gruppierten Tonhöhen, mit Wolffs spätem „Pulse“, dessen reduzierte und ständig aus dem Takt stolpernde Trompeten- und Trommel-Signalrhythmen an Eislers „Kampfmusiken“ der zwanziger Jahre erinnern. Neue Duo und Trio-Kompositionen der beiden jüngeren Komponisten Achim Christian Bornhöft und des Kölners Caspar Johannes Walter umrahmen schließlich Nicolaus A. Hubers großes Trompeten-Solo „doux et scintillant“ von 2004.

Durchs Kreuz zum Licht

Jahrhundertwenden und gar Millennien nähren seit alters her apokalyptische Phantasien und die Erinnerung daran, dass seinerzeit Satanas nur für tausend Jahre gefesselt werden konnte. Doch mit der Gefahr wächst – wie schon Hölderlin erkannte – das Rettende auch. Das Jahr 2000 war „Jahr der Bibel“ und 250. Todesjahr ihres fünften Evangelisten Johann Sebastian Bach. Dazu vergaben die Internationale Bachakademie Stuttgart und ihr Gründer Helmuth Rilling Aufträge zu neuen Passionswerken über die vier Evangelien. Die ausgewählten Komponisten stammten aus vier Erdteilen und vier Sprachräumen. Unter dem Motto „Passion 2000“ uraufgeführt wurden dann beim Europäischen Musikfest Stuttgart Oratorien des Deutschen Wolfgang Rihm nach Lukas, des Argentiniers Osvaldo Golijov nach Markus, des in den USA lebenden Chinesen Tan Dun nach Matthäus und der seit 1992 bei Hamburg lebenden Tatarin Sofia Gubaidulina nach Johannes in russischer Sprache.

In revidierter Fassung und deutscher Übersetzung wurde Gubaidulinas „Passion und Auferstehung Jesu Christi nach Johannes“ im Februar 2007 in der Dresdner Frauenkirche uraufgeführt. Die Aufnahme mit dem SWR Radio-Sinfonieorchester Stuttgart unter Leitung von Helmuth Rilling sowie der von diesem 1954 gegründeten Gächinger Kantorei und dem Kammerchor der Musikhochschule Trossingen ist jetzt auf CD erschienen (Hänssler). Das spirituelle Hauptwerk der 1931 in Tschistopol geborenen Komponistin ist Bekenntnismusik im eigentlichen Sinne des Wortes, „tief religiös, aber nicht kirchlich“, wie sie selbst sagt. Die russisch-orthodoxe Kirche kennt weder musikalische Darstellungen der Passionsgeschichte noch Instrumentalmusik. Ihr Oratorium bewegt sich zwischen naiver Strenggläubigkeit und religiöser Eigenwilligkeit, zwischen archaischem und modernem Tonfall.

Überragender Evangelist, der auch Partien von Jesus und den Jüngern übernimmt und alle anderen Solisten in den Schatten stellt, ist Nicholas Isherwood, der lange mit Karlheinz Stockhausen zusammenarbeitete. Der russischen Kirchentradition folgend hat er mit seiner eindringlichen Stimme das Wort der Verkündigung mehr zu deklamieren als zu singen. Stets kreist er psalmodierend um das Intervall der kleinen Sekunde, dem alten Symbol von Leid und Leidenschaft. In ganz eigentümlicher Weise verbindet er dabei artifiziellen, geradezu testamentarisch überartikulierten Sprechgesang mit an Exaltiertheit grenzender Ergriffenheit und ungewöhnlichen Silbenbetonungen. Letztere sind womöglich Folge von Text-Musik-Verschiebungen im Zuge der Übertragung aus dem Russischen. Manchen Hörer wird das Betroffenheitspathos in Bann ziehen, bei anderen wird es eher Bedürfnis nach größerer Distanz wecken.

Gerahmt und mehrfach unterbrochen wird die ritueller Statik und Formelhaftigkeit des Passionsberichts von der opernhaft ausgemalten Dramatik der Visionen der Johannes-Offenbarung. Durch diese vertikalen Einschübe in die horizontal verlaufende Historie wollte Gubaidulina die übergeordnete Form eines Kreuzes schaffen. In großartigen Wendungen wird diese Konstruktion unmittelbar sinnfällig. So öffnet sich der düstere Leidensweg Christi plötzlich wie durch einen klingenden Vorhang nach oben zur prächtigen Schau des himmlischen Thronsaals mit strahlenden Posaunen, Cymbeln und jubilierenden Chören. Der Gang nach Golgatha dagegen wird parallelisiert mit der Vision von den Schrecken verbreitenden apokalyptischen Posaunen. Der Karfreitag wird so musikalisch-theologisch zugleich zum großen Tag des Zorns in der Tradition der „dies irae“-Kompositionen mit fauchenden Schlagzeug- und Orchesterattacken: Erdbeben und Kometensturz im Cinemaskope-Format.

Der zweite Teil „Johannes-Ostern“, erst 2001 entstanden, schließt motivisch an das Erlösungswerk des Passions-Teils an. Nach erfolgter Auferstehung kleidet Gubaidulina die Schlussutopie eines neuen Himmels in flirrende Heilig-Geist-Funken aus einem Synthesizer flankiert von Glocken, schwirrenden Flöten und glaubensfesten Auferstehungslitaneien. Es ist vollbracht! Über die Dauer von zwei Stunden vermag die Überwältigungsästhetik nicht immer zu tragen. Das oratorische Inventar an Bläserakkorden, Trommelschlägen, Orgelkaskaden, Chören und Soli wetzt sich irgendwann ab wie jedes Messgewand. Auch Gubaidulina erfindet in ihrer Musik nicht den neuen Adam. Eine hörenswerte zeitgenössische Alternative zu Bachs protestantischer Johannes-Passion ist ihr tönendes Osterfest aber allemal.

Ungeheure Musik zum Anfassen

„Kontrakadenz“ von 1971 ist eines der faszinierendsten Orchesterwerke Helmut Lachenmanns und vermutlich insgesamt des zwanzigsten. Jahrhunderts. Das traditionelle Sinfonieorchester ist in diesem frühen Werk des bald Dreiundsiebzigjährigen mit Alltagsgegenständen, elektro­akustischen Instrumenten und Radioaufblendungen gleichsam „präpariert“ und durch neuartige Spieltechniken zu einem fremden, wilden, fauchenden Ungetüm verformt. Bereits der Titel weist das Stück als radikal a-tonalen Gegenentwurf aus, der nicht nur auf tonale Wendungen verzichtet, sondern zumeist überhaupt auf „normale“ Töne. Stattdessen schafft Lachenmann eine erhellende Folge sich wechselseitig in ihrer Zusammensetzung und Entstehung aufschlüsselnder Geräuschklänge, denen man den Akt ihrer Erzeugung durch Blasen, Streichen, Schlagen, Schaben, Reiben, Reißen, Rotieren … förmlich ansieht als säße man beim Hören direkt neben den Musikern.

Jeder Moment ist erfüllt von der Energie, welche die Instrumentalisten aufwenden, damit Materie zum Klingen kommt und sich keine „Kadenz“ beziehungsweise kein Abfall des Klingenden (lateinisch cadere = fallen) ereignet. Die Interpretation und die SACD Surround-Tonqualität des Live-Mitschnitts aus dem Berliner Konzerthaus von 2005 mit dem Ensemble Modern Orchestra unter Leitung des Kölner GMD Markus Stenz ist von kristalliner Schärfe und bringt den haptischen Gestus der Musik beispielhaft zur Geltung. Mit auf der CD (Ensemble Modern Medien) veröffentlicht ist die Ersteinspielung von Lachenmanns Spätwerk „Concertini“ aus dem Jahr 2005 unter Leitung von Brad Lubman.

Alpines Orchesterglühen

Als weltweit erstes Orchester bringt das Ensemble Modern Orchestra seit 1998 ausschließlich Musik des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts zur Aufführung. Nach Charles Ives’ Vierter Symphonie und George Benjamins „Sudden Time“ sind im eigenen Label „Ensemble Modern Medien“ nun zwei CDs mit Live-Mitschnitten des „EMO“ unter Leitung von Markus Stenz aus dem Konzerthaus Berlin und der Alten Oper Frankfurt erschienen.

Ein Meister der Neu- und Umbeleuchtung von Instrumenten und Klängen ist Helmut Lachenmann. Gleich zu Beginn seines als Epilog zum Musiktheaterwerk „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ entstandenen Doppelkonzerts „NUN“ (Ensemble Modern Medien), das 1999 in der Kölner Philharmonie vom WDR-Sinfonieorchester uraufgeführt wurde, lässt Lachenmann den Soloposaunisten flöten und den Soloflötisten wie auf einer Posaune röhren, flattern, glissandieren. Uwe Dierksen und Dietmar Wiesner amalgamieren ihre Solopartien und lassen ihre Einzeltöne so auf das Orchester abstrahlen, dass dieses zur Superposaune und Superflöte mutiert. Durch die Männerstimmen der Schola Heidelberg erscheint der Apparat zudem versprachlicht, während die Gesangspartien instrumental behandelt werden. In einem Nu wird aus dem einen das andere.

So wie im Beiheft von einer wechselseitigen Erhellung von „NUN“ und dem Passacaglia-Finale von Brahms’ Vierter Sinfonie die Rede ist, wünschte sich Lachenmann zum siebzigsten Geburtstag 2005 vom Ensemble Modern Orchestra die Aufführung seines Klavierkonzerts „Ausklang“ zusammen mit Richard Strauss’ „Eine Alpensinfonie“ (Ensemble Modern Medien). Während der „Rosenkavalier“-Komponist von den Avantgardisten als Abtrünniger ignoriert wurde, sieht Lachenmann im Garmischer Altmeister keinen naiven, vergangenheitsverliebten Ton­setzer, sondern einen hoch reflektierten Künstler. Strauss sei im zweiten Weltkriegsjahr 1915, als er seine gipfelstürmende Tondichtung schrieb, das Ende von Tonalität, Spätromantik und Monumentalsymphonik längst bewusst gewesen. Anderenfalls hätte er nicht so melancholisch gebrochen noch einmal alle Register der romantischen Tonsprache gezogen und diese am Ende in Nacht versinken lassen. Strauss’ vom bürgerlichen Musikbetrieb fetischisierter Abgesang und Lachenmanns als ultra-avantgardistische Geräuschmusik verschriener „Ausklang“ haben sich etwas zu sagen. Alpen- und Orchesterglühen beleuchten sich gegenseitig.

Lachenmann entdeckt in Strauss’ Naturalismus einen modernen Gegenentwurf zum spekulativen Idealismus und expressiv aufgeladenen Tonsatz der Romantik. Während diese Musik oft als oberflächliche, plakative Klangmalerei kritisiert wurde, sieht er in Strauss’ Nachahmung von Naturklängen eine Parallele zum eigenen Ansatz der Freilegung der zur Hervorbringung von Klang nötigen natürlichen mechanisch-energetischen Bedingungen. So wie Strauss in seiner hochalpinen Riesenschwarte alle Natur- beziehungsweise Klanggewalten entfacht, will auch Lachenmanns „Ausklang“ als Naturereignis wie Blitz und Donner gehört werden. Im Zentrum der gut fünfzigminütigen Symphonie für Klavier und Orchester stehen vielschichtiges Verklingen und die dadurch fokussierte Erfahrung, dass das Verebben von Klang nur mittels permanenter Energiezufuhr in Gestalt virtuoser Klangkaskaden und Repetitionen verhindert werden kann. An manchen Stellen vertröpfelt das Geschehen in ruhigen Einzeltönen. Dann wieder weiten sich Einklänge zu belebten Klangflächen, die zu den farbreichsten Stellen von Lachenmanns Œuvres gehören und ihn neben Strauss als ebenbürtigen Instrumentationskünstler zeigen.

Markus Stenz und das EMO bewältigen Lachenmanns Partituren mit Lust und Intensität. Der Strauss’sche Aufstieg indes fällt dem Orchester schwer. Erst beim Gipfelhymnus und anschließenden Gewitter kommt der Apparat richtig in Fahrt. Durch Lachenmanns Geburtstagswunsch erstmals zur Interpretation von Musik des verlängerten neunzehnten Jahrhunderts veranlasst, bewegt sich das Ensemble in für es fremden Regionen. Auch wenn man Abstriche bei einem Live-Mitschnitt zugesteht, bleibt die Aufnahme diffus. Es fehlt an Klarheit, Prägnanz und Präzision. Gelegentlich wird hörbar, dass sich dieses Orchester nur projektweise formiert und daher bei traditionell chorisch instrumentierter Musik nicht über die blinde Sicherheit des Zusammenspiels verfügt wie herkömmlich organisierte Philharmoniker.