MusikTexte 120 – Februar 2009, 82–84

Musenstreit als Ehezwist

Das Festival Eclat für neue Musik Stuttgart erprobt neue Musiktheater-Konzepte

von Rainer Nonnenmann

In den vergangenen Jahren hat sich das Stuttgarter Festival für neue Musik Eclat zu einem wichtigen Forum für experimentelles Musiktheater entwickelt. Hier sollen Dinge ermöglicht werden, die der behäbige Apparat der Stadt- und Staatstheater nicht zulässt, weil die dort zur Verfügung stehenden Räume, Kräfte, Sänger, Musiker und Werkstätten angemessen genutzt werden sollen, mit der Folge, dass sich starre Produktions- und Präsentationsvorgaben aufdrängen, die oft von vornherein keine alternativen Verhältnisse von Text, Musik, Szene, Licht und neuen Medien mehr zulassen. Im Eclat-Programmbuch klagte Hans-Peter Jahn folglich: „Das aktuelle Musikthea­ter ist übersät mit Karzinomen alten Denkens, weil dieses Denken aus den immanenten Zwängen heraus entsteht, Musik als die alles bestimmende Kategorie im Musiktheater zu begreifen.“ Im Einführungsgespräch stellte Musikjournalist Reinhard Schulz an dem Festivalleiter und SWR-Redakteur für neue Musik als bemerkenswert heraus, dass Jahn so weit geht, den für Eclat beauftragten Künstlern auch programmatische Vorgaben zu machen, bis hin zur „Zwangsverheiratung von Komponisten mit Textern und Regisseuren“. Die Kinder solcher Verbindungen gelingen mal mehr, mal weniger.

Das erste neue Musiktheaterwerk des Festival-Jahrgangs 2009 suchte den geschichtsmächtigen Konflikt um die Vorherrschaft von Text oder Musik, der die Entwicklung der Zwittergattung Oper seit vierhundert Jahren vorantreibt, durch strikte Trennung zu schlichten. Indes leg­ten Verena Joos und Reinhard Karger ihrem Stück ausgerechnet ein Ehedrama zugrunde. Gleich zu Beginn mündet eine in mikrotonalen Intervallen langsam aufsteigende Klavierskala plötzlich in das Kopfsatz-Allegro von Mozarts Klaviersonate a-Moll KV 310, die das Piano-Duo GrauSchumacher auf zwei vierteltönig gegeneinander verstimmten Konzertflügeln spielt. Fortgesetzter Dissens ist vorprogrammiert: Wer ist hier gegen wen ver­stimmt? Unter ständigem Ringen um die „richtige“ Intonation entwickelt sich das weitere Geschehen als penetrierte Disharmonie aus Sich-Fliehen, Sich-Suchen und Gemeinsam-Spielen-Wollen ohne wirklich zusammenkommen zu können.

Hinter dem laxen Werktitel „Also dann“ verbirgt sich die Tragikomödie eines Paares, das sich auseinander gelebt hat und doch den letzten Schritt zur Trennung scheut. Unter fortwährendem Hader bleiben Mann und Frau ineinander verkeilt. Wie zwei Panther umkreisen sich die Schauspieler Christina Weiser und Klaus Beyer im engen Lichtkegel eines Scheinwerfers, wo sie sich einen ebenso zermürbenden wie für das unbeteiligte Publikum belustigenden Rosenkrieg liefern. Dessen Leidensstationen wech­seln mit teils originalen, teils neu montierten Passagen aus Mozarts Klaviersonate. Das Konzept klingt primitiv und schematisch, zeitigte aber ein spannungsvolles Resultat, bei dem sich Motive und Töne des einen Klaviers im veränderten mikrotonalen Kontext des anderen zu schmerzlich dissonierenden Fremdkörpern oder unerwiderten Klopfzeichen verkehrten. Autorin und Komponist wollten in ihrer „erotischen Versuchsanordnung“ weder den Text mit Musik untermalen noch die Musik durch Inszenieren bebildern. Anstelle des alten Musenstreits – prima la parola oder prima la musica? – sollten sich die eifersüchtigen Kunstformen mit gleichem Recht entfalten. So entstanden zwei Theaterstücke, ein szenisches und ein musikalisches, die sich durch ständigen Wechsel erst im Kopf des Hörer-Betrachters zu einem Gesamtereignis überlagern, indem dieser das Schauspiel mit der Musik parallelisiert: mit den gegeneinander verstimmten Flügeln, dem Dualismus von „männlichem“ und „weiblichem“ Thema der Sonatenform und der Wiederkehr der Abschiedsformel „Also dann“ zur einsetzenden Reprise: da capo – der eingefahrene Streit geht von vorne los.

Als zweite Novität präsentierten die Neuen Vocalsolisten Stuttgart gleich drei Werke auf spanische Textvorlagen. Auf Anregung von Christine Fischer – Intendantin des das Eclat-Festival veranstaltenden Stuttgarter Verbunds „Musik der Jahrhunderte“ – wurden die Stücke unter dem Obertitel „Visiones-Ficciones“ als ein „A cappella Musiktheater“ in drei Akten inszeniert. Elena Mendoza ließ in „Fe de erratas“ die Sänger-Sprecher hitzig über den Fortgang des Stücks debattieren, in dem sie gerade auftreten. José-María Sanchez-Verdú umgab die Singstimmen in seinen „Engel-Studien“ mit einem sphärischen Hallraum aus mitschwingenden Gongs. Und Michael Hirsch bot mit „Tragicomedia“ eine krause Geschichte aus Kuppelei, Liebe, Hass, Mord und Selbstmord, deren versprengte deutsche und spanische Textfragmente jeden verstehbaren Erzählfluss durchkreuzten. Zudem schien jeder Akteur einem anderen Stück zu entstammen und die Unbestimmtheit seiner autistisch wirkenden Rolle durch umso schneller plappernde Selbstversicherungs­versuche und opernhaft-theatralische Eskapaden kompensieren zu wollen. Rein selbstbezüglich blieb auch der Einsatz von sechs Videobildschirmen, die den sechs Sängern als Spiegel dienten und die wenigen Requisiten, Lesepulte, Bücher und Gongs vervielfachten. Statt auf diese Weise dem Publikum die Mechanismen des eigenen Wahrnehmens aufzuschlüsseln, hatte solch rein selbstreferentielles Musiktheater nichts und niemandem mehr etwas zu sagen außer dem Credo: Sing ich, also bin ich.

Auf Selbstbezüglichkeit basierte auch „Arbeit und Freizeit (1) – Solitude“ von Daniel Kötter. Jedoch gelang dem aktuellen Stipendiaten der Akademie Schloss Solitude mit seiner Durchleuchtung eben dieser Einrichtung, die ihn gerade beherbergt, eine kritische Hinterfragung der Mechanismen von Arbeitswelt, Kunstsystem und des Verhältnisses von freier Betätigung und notwendigem Broterwerb. Bei dieser „8-Kanal-Videoperformance“ sitzen vier Mitarbeiter und vier Stipendia­ten der Akademie in einer Reihe nebeneinander. Durch die Worte „Arbeit“ und „Freizeit“ auf über ihnen hängenden Videobildschirmen werden sie klar zugeordnet. Mit Beginn der Performance verlassen alle acht Personen ihre Plätze, um sich jeweils an ihre Arbeit zu machen, in Küche, Bibliothek, Sekretariat, Werkstatt oder den Künstlerstudios der Akademie. Während der gesamten Laufzeit von einer Stunde werden die acht verschiedenen Räume und Aktionen dann mittels Kameras, die um dreihundertsechzig Grad rotieren, sukzessive auf die Videoschirme projiziert. Die anfangs klare Trennung von Arbeit und Freizeit wird dabei immer fraglicher. Was ist es, wenn die Bibliothekarin nach dem Sortieren von Büchern einen historischen Film über Stahlgewinnung sieht? Ist es Arbeit, wenn Stipendiat Christoph Ogiermann mit Stimme und Mikrophon experimentiert? Und ist es „Freizeit“, wenn er anschließend auf dem Keyboard ein barockes Orgelwerk von Jan Peter Sweelinck spielt?

Als Wiederaufführung im Stuttgarter Theaterhaus zu erleben war Enno Poppes 2008 bei der Münchner Biennale uraufgeführtes Musiktheater „Arbeit Nahrung Wohnung“ (vergleiche MusikTexte 117, Seite 81). Poppe musikalisiert nicht Szenen, sondern macht die Entstehung von Musik selbst sichtbar. Regisseurin Anna Viebrock setzte den sachlich aufzählenden Obertitel und den prosaisch-kryptischen Untertitel dieser „Bühnenmusik für vierzehn Herren“ sinnfällig um, indem sie die vier Schlagzeuger und vier Keyboarder – Mitglieder und Gäste des Ensembles musikFabrik – an ihren In­strumenten wie auf Werkbänken bei der Arbeit sichtbar auf der Bühne agieren ließ. Mit Blicken durch eine Durchreiche zeigte sie die zwei Schauspieler und vier Sänger dicht gedrängt bei kleinem Küchen-Einmaleins mit Schälen, Schneiden, Hacken, Schütten, Rühren, was über Kontaktmikrophone verstärkt hörbar gemacht und im letzten Drittel des fast zweistündigen und über weite Strecken musikalisch auf der Stelle tretenden Stücks mit den Instrumentalisten und Vokalisten kombiniert wurde. Wie schon in mehreren Werken zuvor belegt Poppe die Tastaturen der Keyboards mit wechselnden Klangfarben, von billigen Klingeltönen und ordinärem Scherzartikel-Muhen bis zu verzerrtem E-Gitarren-Dröhnen und massivem Wummern in der Art von Käpt´n Nemos Unterwasserorgel. Mit fortwährend schwankenden Tonhöhen und teils regelrecht torkelnden, verbeulten und wimmernden Lauten vollziehen die Tasteninstrumente eine ihnen ganz untypische Pseudomorphose an die mit ähnlich eiernden Vibrati, Glissandi und Silbenwiederholungen gesungenen Psalmodien der Vokalisten, zu denen sich der Komponist durch Aufnahmen mit Kirchengesängen von den schottischen Inseln hatte anregen lassen. Trotz Verstärkung blieb der Text von Marcel Bayer dadurch nahezu unverständlich. Indes hatten es die surrealistisch-poetischen Textfragmente, selbst wenn sie gelegentlich verständlich wurden, nicht eben auf Epik und vordergründigen Sinn abgesehen: „Geh ich als Meeeee…r
schweieieieiei…nnnnn…chenenenen in die Geschiiiiii…chte eieieiei…ein.“

Unter den größeren Festivals für neue Musik zeichnet sich Eclat dadurch aus, dass man hier die standardisierten Abläufe typischer Avantgarde-Veranstaltungen zu durchbrechen versucht, indem jedes Jahr andere programmatische Wege und Präsentationsformen ausprobiert werden. So gleicht kein Festivaljahrgang dem nächsten. Vor zwei Jahren wurden neue Werke für Sing- und Sprechstimmen im Wechsel mit romantischen Klavierliedern und Chorwerken von Schubert und Schumann uraufgeführt, um landläufige Vorstellungen über die historische Romantik zu korrigieren und die Moderne als „kleine Schwester der Romantik“ zu befragen. Und im letzten Jahr sollte der Auftritt von bis zu drei verschiedenen Ensembles in ein und demselben Konzert „monochrome Klangerfahrun­gen“ unterwandern helfen. Das diesjährige Festival bot neben Musiktheaterwerken in den meisten von insgesamt elf Konzerten jeweils ein Werk oder einen Werkzyklus eines einzigen Komponisten. An die Stelle von Wechsel, Vielstimmigkeit und Varianz sollte die Konzentration der Beschränkung treten. Wer jedoch alles auf eine Karte setzt, läuft Gefahr, mit jedem Fehlgriff gleich ein ganzes Konzert zu verspielen.

Die Mono-Konzerte boten zu gleichen Teilen ältere Werke und Novitäten. Es gab Wiederaufführungen von Wolfgang Rihms 2004 vollendetem achtteiligem Zyklus „Fetzen“ für Streichquartett und Akkordeon, von Walter Zimmermanns kompletten zwei Serien „Voces Abandona­das“ von 2005 und 2006, sowie von Jörg Widmanns bisher fünf Streichquartetten. Letztere Gesamtaufführung durch das bestens präparierte Leipziger Streichquartett wurde zur erschütternden Selbstmontage des 1973 geborenen Komponisten. Vermutlich bedurfte es dieses geballten eineinhalbstündigen Non-Stop-Durch­laufs, um zu erkennen, wie sehr Widmann seine zwischen unfreiwilliger Komik und prätentiöser Pathetik changierenden Partituren aus verschiedenen Werken von Schumann, Berg, Lachenmann, Rihm und anderen zusammenklaubt, die er offenbar als Selbstbedienungsläden missversteht.

Einen zwiespältigen Eindruck hinterließ das Konzert mit Werken von Mesías Maiguashca (siehe den Schwerpunkt in diesem Heft). Der aus Ecuador stammende Komponist lässt ein Dutzend „Holz-Klangobjekte“, Äste, Stämme, Wur­zeln, mit Schlägeln und Bögen bespielen und über Kontaktmikrophone verstärken. In „Holz arbeitet II“ von 2005 dienen die an Nylonfäden aufgehängten Hölzer als Instrumente mit unterschiedlich dröhnenden Eigenklängen. Nach und nach werden sie jedoch als eine Art Tastatur verwendet, mittels derer das Schlagzeug­ensemble K.O. Freiburg elektronische und konkrete Klänge sowie Aufnahmen traditioneller Musik der Andenvölker aus dem Computer abruft. In „El Negro Bembón“ dagegen erschöpft sich das gleichförmige, kaum wandelbare Klangmaterial dieser kruden Gerätschaften sehr schnell, zumal Maiguashca die extreme Gegen­überstellung mit einem wohltemperierten Konzertflügel (Yukiko Sugawara) durch allzu simple Repetitionsfolgen verspielt.

Durchweg enttäuschend blieb das „Klang­LogBuch“ für Klavier und Elektronik von Johannes Kretz. Der Wiener Kom­ponist wollte in seiner Grand tour d’hori­zon nichts geringeres thematisieren, als „was Musik (und Leben) überhaupt sein kann“. Dazu führt er den Uraufführungs-Pianisten Florian Hoelscher auf eine groß­spurige Wanderschaft durch fünf Kontinente dieser Welt. Mit Klavier, das er mit wummernder Soundtrack-Elektronik über­formt. kann er hörbar nichts anfangen. Im Abschnitt „Asien“ lassen sich so neben Messiaenschen Vogelstimmen-Imitationen auch Urwald-Geräuschkulissen und ethnische Gesänge hören. In „Amerika“ erfolgen Ausflüge in die Barpianistik mit weitschweifigen Paraphrasen über „As time goes by“ und in „Australien“ verwan­deln sich Klavieranschläge zum schnarrenden Souvenir sonore in der Art eines – was sonst – Didgeridoo. Und während „Afrika“ ein präpariertes Klavier nutzt, verliert sich „Europa“ in konturlosem Akkord- und Läuferwerk. Jeder Takt von Liszts „Années de pélerinage“ und jede Sekunde von Stockhausens „Telemusik“ sind mehr wert als diese ganze Reise in achtzig Minuten um die Welt.

Auch für Bernd Richard Deutschs „Martyrium oder Die Dinge sind“ ist Scheitern ein zu großes Wort. Der Wiener begann schon als Vierundzwanzigjähriger mit der Arbeit an seinem Opus Maximum, einem „Neurotischen Oratorium“ für Soli, Sprecher, Chor, Orchester und Videozuspielungen. Frei nach Bernd Alois Zimmermanns tönendem Apokalyptikum handelt es sich um das „Requiem eines jungen Komponisten“ auf nachtschwarze Texte von Dante, Gryphius, van Gogh, Konrad Beyer und anderen. Über weite Strecken unterliegt Deutsch einem monströsen Missverständnis. Statt Beyers grotesk überzogene Horrorgeschichte als scheppernden Comic zu vertonen, komponierte er eine möchtegern kolossale Begleitmusik aus spätpubertären Schreckensfanfaren und Trommelkanonaden samt „Rhythmus der Einsamkeit“ und „Kadenz des Leidens“.

Neben Deutschs Riesenschwarte sang das SWR-Vokalensemble Stuttgart unter Leitung von Rupert Huber gleich zweimal in Folge Matthias Pintschers neues „She-cholat ahavah ani“ für gemischten Chor a cappella auf das Kapitel 5 des Hohe Lieds Salomonis im hebräischen Original. Das Stück folgt einer flächigen Konzeption, bei der sich Liegetöne zu schwebenden Akkorden schichten, über denen dann einzelne Solostimmen mit kurzen, teils exaltierten Vokalisen hervortreten. Durch einen vom ersten Takt an präsenten Zentralton entfaltet diese Musik eine pseudotonale Zentripetalkraft, da sich alle Klänge in verschiedenen Abweichungsgraden von Höhe, Ambitus, Dynamik und Dichte relational zu diesem Fixpunkt verhalten. Womöglich suchte Pintscher mit diesem roten Faden das ebenso theologische wie irdische Thema der Liebe umzusetzen. Zugleich zeugt dieser aufdringliche Leitfaden für Hörer und Sänger auch von der Übervorsichtigkeit des international gefeierten Komponisten, der erstmals für gemischten Chor a cappella komponierte.

Der mit zwölftausend Euro dotierte 53. Kompositionspreis der Landeshauptstadt Stuttgart 2008 wurde im Auftaktkonzert von Eclat mit dem Ensemble ascolta zu gleichen Teilen an Thuon Burtevitz und Michael Maierhof verliehen.