MusikTexte 120 – Februar 2009, 78–79

Sesam öffne Dich!

Die neue ON-Konzertreihe mit Schlüsselwerken der neuen Musik

von Rainer Nonnenmann

Im Folgenden werden zwei Texte nachgedruckt, die im Auftrag des Vereins „ON – Neue Musik Köln“ geschrieben worden sind. ON ist das Kölner Projekt im Rahmen des Förderprojekts Netzwerk Neue Musik der Kulturstiftung des Bundes. Auf Vorschlag des Leipziger Komponisten und Pianisten Steffen Schleiermacher und des Münchner Musikmanagers Jens Cording hat die Kulturstiftung des Bundes ihr Förderprojekt mit einem ansehnlichen Etatzuschuss für mehrere Jahre ausgeschrieben, und die Stadt Köln hat sich daraufhin mit Erfolg um die Teilnahme beworben. Es folgten die Gründung des Vereins „ON – Neue Musik Köln“, in dem zur Zeit fünfunddreißig Veranstalter, Initiativen, Orchester und Ensembles, so­wie Musiker, Komponisten und in der Musik­vermittlung tätige Einrichtungen zusammen­arbeiten. Den Vorstand des Vereins sitzen Thomas Oesterdiekhoff und Rainer Nonnenmann vor, Geschäftführer ist Till Kniola. Der Text von Rainer Nonnenmann ist für das ON-Magazin zwei/nullacht entstanden, der von Gisela Gronemeyer für eins/nullneun. MT

Seit Langem pflegen wir ein festes Repertoire an Symphonien, Opern, Konzerten, Quartetten, Liedern und Klavierwerken des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. Gemessen an der Menge der in diesem Zeitraum komponierten Musik ist die Zahl der kanonisierten Werke verschwindend. In einem ähnlichen Verhältnis stehen Klasse und Masse der Musik des zwanzigsten Jahrhunderts, mit dem großen Unterschied, dass hier die Meisterwerke vom großen Rest noch kaum geschieden sind. Die Geschichtsschreibung dieser jüngsten Epoche ist noch in Bewegung. Sie hat zwar ebenfalls so etwas wie einen Kanon herausgebildet, doch wird dieser zumeist in scheinbar wertneutralen Chroniken, Synopsen oder Werkindexen versteckt. Warum vermeiden Enzy­klopädien, Lexika und Handbücher, offen von einem Kanon maßgeblicher Werke zu sprechen? Weil man sich angreifbar zu machen scheut? Weil Diskussionen über Werte und Kriterien zu befürchten sind? Weil die Auswahl eben dieser und keiner anderen Titel angefochten werden könnte? Weil man Begründungen liefern müsste, historische, ästhetische, technische, aufführungspraktische, soziale, politische, nationale, ideologische oder auch ganz subjektive, persönliche?

Musikalische Leitfossilien

Jede Geschichtsschreibung – und sei sie noch so quellenkundlich korrekt und methodenkritisch reflektiert – erfolgt aus ihrer eigenen Zeit und Perspektive. Alle Epochen schreiben die Historie der ihr vorangegangenen Epochen neu. So ist auch jede Kanonbildung eine zeit- und ortstypische Konstruktion mit teils deutlichen Unterschieden zu früheren Kanonisierungen in anderen Städten und Ländern. In Köln haben seit einem Jahr professionell mit neuer Musik befasste Musiker, Veranstalter, Journalisten, Wissenschaftler und Pädagogen eine ausufernde Liste an Schlüsselwerken erstellt, die dann von einer dreiköpfigen Arbeitsgruppe (Werner Wittersheim, Musikchef WDR 3; Hermann-Christoph Müller, Musikreferent der Stadt Köln; und Thomas Oesterdiekhoff, Geschäftsführer des Ensembles musikFabrik) zu einem Kanon verdichtet wurde. Übrig bleiben sollten nur Werke der neuen Musik, die zum ersten Mal bestimmte Fragen aufgeworfen, neue Aspekte erkundet, Anstöße für wesentliche Techniken, Stilistiken oder ganze Richtungen der neuen Musik gegeben und damit folgenreich gewirkt haben. Dem Experiment liegt folgende Überlegung zugrunde: Wenn die bahnbrechenden Epochenwerke so etwas wie die „Leitfossilien“ des musikalischen zwanzigsten Jahrhunderts sind, dann können sie auch als Türöffner zu einer Musik dienen, die den meisten Menschen verschlossen ist beziehungsweise gegen die sich umgekehrt die meisten Menschen verschließen.

Ein Kanon entsteht nicht auf dem Reiß­brett als trockene Quersumme von Expertenmeinungen. Im Gegenteil. Er ist das Resultat lebendiger Musikgeschichte, an der sich Musiker, Veranstalter und die interessierte Öffentlichkeit gleichermaßen beteiligen. Ein Kanon ist das Ergebnis eines komplexen Selektions- und Filtervorgangs, bei dem viel Musik – zu recht oder unrecht – vergessen wird, während einige Werke – zum Teil nach gravieren­den Umwertungen – eine besonders lebhafte, vielseitige und lang anhaltende Rezeption erfahren. Zur Zeit ihrer Entstehung gefeierte Werke sind schon wenig später vergessen, während zunächst durch­gefallene Stücke plötzlich neu entdeckt und noch nach Jahrhunderten mit großer Anteilnahme aufgeführt und gehört werden, etwa Beethovens Fidelio oder 9. Symphonie. Vor dem Hintergrund der Kompetenzen, Erfahrungen, Vorlieben und aufführungspraktischen Möglichkeiten der Kölner Veranstalter, Musiker und Ensembles hat ON jetzt einen Kölner Kanon des Jahres 2008 erstellt, der kein angestaubter Papiertiger bleiben möchte. Im Wissen um die Wandelbarkeit von Werken und Werten will die darauf gegründete neue Kölner Konzertreihe mit Schlüsselwerken im Verbund mit Moderationen, Vorträgen, Gesprächen, Ausstellungen und anderen Vermittlungsformen in lebendige Interaktion mit dem Publikum treten, um aktiv an der Diskussion und Bildung eines Kanons der neuen Musik mitzuwirken.

ON will nicht einfach mit Gütesiegel verbriefte Meisterwerke präsentieren. Die Schlüsselwerks-Reihe ist kein Guide de Michelin, Baedeker oder „The Best of 20th Century Music“. Stattdessen sollen zentrale Werke von Solo, Kammermusik, Ensemble, Orchester, Oper, Chor und Elektronik in erhellende musik-, kunst-, geistes- sowie allgemein sozial- und kulturgeschichtliche Zusammenhänge gestellt werden, welche die Schlüsselfunktion der Werke einem möglichst breiten Publikum ohne hohe Bildungsschwellen erlebbar machen und zugleich die historische Tiefendimension von Ansätzen und Werken unserer unmittelbaren Gegenwart verdeutlichen. Insofern betreibt die neue Reihe keine selbstbespiegelnde Nabelschau der neuen Musik. Vielmehr versteht sie sich als Angebot zum Hören und Diskutieren. Sie möchte die Bildung eines Repertoires aus zentralen Werken der neuen Musik befördern und insgesamt die neue Musik stärker im öffentlichen Diskurs verankern, indem sie die oft getrennten Bereiche Bildung und Erlebnis zu prägenden Bildungserlebnissen zusammenzufassen sucht. Unterstützend werden im ON-Magazin sowohl externe Experten das Thema der Repertoire- und Kanonbildung mit Darstellungen und Gegendarstellungen kritisch begleiten als auch Laien und Persönlichkeiten des Musik- oder Kulturlebens ganz individuelle Schlüsselerlebnisse mit Schlüsselwerken oder auch mit Schlüsselfiguren der neuer Musik schildern.

Klingender Kompass

Doch bleiben Bedenken. Ist ein Kanon der neuen Musik nicht ein Widerspruch in sich? Soll damit festgeschrieben werden, was wesentlich Bewegung und Aufbruch ins Unbewährte ist? Immerhin traten füh­rende Vertreter der Nachkriegsavantgarde mit dem Anspruch auf, durch „Revolution in Permanenz“ zu einem immer neuesten, avanciertesten Stand des Materials vor­zudringen und mit jedem Werk ein neues Kapitel Musikgeschichte zu schreiben. An­stelle solch linearen Geschichts- und Fortschrittsdenkens herrscht indes heute längst totale Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit unterschiedlichster Stile, Sparten, An­sätze und Techniken. Statt Kunstwerke ­le­diglich als Etappen eines zwanghaften Selbst­überbietungsprozesses zu betrachten, sollten besser die eigenständigen Qua­litäten der Werke entdeckt werden. Dass Pierre Boulez 1952 aus der Perspektive seines eigenen seriellen Komponierens Schönberg für tot erklärte und dessen frei atonale Werke als bloße „Vorbereitungsstufen“ mit allenfalls dokumentarischem Wert abtun zu können glaubte, erscheint heute als absurde Vermessenheit eines Künstlers in selbst angemaßtem Gleichklang mit Hegels wehendem Weltgeist.

Die Bemühungen um einen Kanon an Schlüsselwerken zeigen ein wachsendes Bedürfnis nach Vergewisserung und Vergegenwärtigung, auch und gerade im Bereich der neuen Musik. Denn Fakt ist: die neue Musik ist hundert Jahre alt, und je älter sie wurde, desto mehr verzweigte sie sich in einzelne Sparten und Untersparten bis hin zu individuellen Privatästhetiken zahlloser Künstler. Immer mehr Hörer und selbst professionelle Musiker und Komponisten der vierten, fünften und jüngsten Generation nach dem epochalen Schritt in die Atonalität um 1908 kennen heute kaum mehr die Tradition des fortgesetzten Traditionsbruchs der neuen Musik. Manchen Meilensteinen der Musik des zwanzigsten Jahrhunderts wuchsen geradezu mythische Qualitäten zu. Sie werden immer wieder beschworen, doch kaum jemals gespielt. Wo aber Unkenntnis und Unübersichtlichkeit wachsen, nimmt auch das Bedürfnis nach Erinnerung und Klärung zu.

ON reagiert auf die gewandelte Situation mit Aufführungen gerade derjenigen Werke der neuen Musik, die überkommene Traditionen beseitigt, neue Tore des Komponierens und Hörens aufgestoßen sowie bisher ungeahnte Möglichkeitsräume jenseits des urbar gemachten Fruchtlandes der alten abendländischen Musik erschlossen haben. Als zentrale Wegmarken und Anhaltspunkte der Musik der letzten hundert Jahre liefern die Schlüsselwerke eine Art Kompass. Sie versprechen einprägsame Musikerlebnisse und Orientierungshilfen inmitten des Pluralismus an Musik aller Stile, Epochen, Kulturen und Weltgegenden. Die Schlüssel zum Labyrinth der neuen Klänge und Hörweisen gibt ON jetzt an die Hand. Passen sie auch? Versuchen Sie es! Sesam öffne Dich!