MusikTexte 121 – Mai 2009, 77–78
Ein Gleichnis?
Zum Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln
von Rainer Nonnenmann
Eine über Jahre geknüpfte Kette an Unachtsamkeiten kostete plötzlich in Minutenschnelle zwei Menschenleben und sechsundzwanzig Regalkilometer Archivbestände aus tausend Jahren: kostbare päpstliche Bullen, kaiserliche Erlasse, mittelalterliche Ratsprotokolle und Handschriften, Abertausende Akten, Gemälde, Stadtpläne, Photos … Von vielen Generationen mühevoll zusammengetragen, sorgsam konserviert und glücklich durch die Wirren der Zeiten und den Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs gerettet, wurde das Gedächtnis der alten Reichs- und Hansestadt Köln im Nu vom Erdboden verschluckt. Am 3. März 2009 stürzten das Historische Archiv der Stadt – eines der größten und ältesten kommunalen Archive nördlich der Alpen – samt zweier angrenzender Häuser in die direkt vor den Gebäuden verlaufende offene Ausschachtung für die im Bau befindlichen Nord-Süd U-Bahn: Kollektive Amnesie, Komplettabsturz aller Speicherkapazitäten, Totalschaden der Festplatte, kein Backup möglich.
Zwei Monate nach der Katastrophe, in denen täglich sechzig Feuerwehrleute in zwei Schichten von Morgens bis Abends Aufräum- und Bergungsarbeiten leisteten, scheinen sich die ersten, schlimmsten Befürchtungen glücklicherweise nicht zu bewahrheiten. Bis zum 20. April wurden etwa fünftausendsechshundert Tonnen Schutt beseitigt und konnten schätzungsweise achtzig Prozent der Archivbestände geborgen werden. Bis Ende Mai hofft man, den Rest zu finden, auch wenn die Situation im U-Bahn-Schacht unterhalb einer Tiefe von zwanzig Metern nicht abzusehen ist, wo das Grundwasser sieben Meter hoch steht und wohin direkt nach dem Unglück mehrere tausend Tonnen Beton geschüttet worden waren, um das umliegende Erdreich zu stabilisieren. Der Zustand der geborgenen Archivalien, die Fachleute und freiwillige Helfer aus der ganzen Bundesrepublik in einer Lagerhalle vom gröbsten Schmutz reinigen und für die weitere Restauration sortieren, ist sehr unterschiedlich: neben unbeschädigt gebliebenen Bänden finden sich beklagenswerte Schnipsel, von tonnenschweren Beton- und Stahlträgern zermalmte Bücher und vom Regen- und Grundwasser völlig durchweichtes Papier.
Unbeschadet gerettet werden konnten glücklicherweise sämtliche Findbücher, in denen alle Archivbestände verzeichnet sind. Und aus einem unversehrt gebliebenen Kellerraum konnten achthundertfünfzig Regalmeter geborgen werden, darunter Zeitungen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts sowie die Vorlässe des Schriftstellers Günter Wallraf und des Architekten Erich Schneider-Wessling, unter dessen Bauzeichnungen sich auch mehrere Briefe Karlheinz Stockhausens befinden, dessen Kürtener Haus der Architekt von 1962 bis 1965 baute (vergleiche MusikTexte 118).
Neben bedeutenden Quellen zur bürgerlichen Musikpflege des neunzehnten Jahrhunderts beherbergte das Kölner Historische Archiv auch zahlreiche Dokumente und Nachlässe der neuen Musik. Etliche Bestände stammen von den städtischen Institutionen: dem 1925 unter Hermann Abendroth zur Musikhochschule umgewandelten Kölner Konservatorium, dem Gürzenich-Orchester und der Kölner Oper. Immerhin gab es zwischen den Weltkriegen in Köln Ur- und Erstaufführungen von Schönberg, Berg, Krenek, Hindemith, Strawinsky, Bartók und anderen und wurde bereits 1921 mit der Kölner Gesellschaft für Neue Musik einer der ersten Ortsvereine der im selben Jahr gegründeten IGNM ins Leben gerufen. Relevante Quellen zur jüngeren Musikgeschichte enthielten auch einige der insgesamt achttausendvierhundert personenbezogenen Bestände, die zum Teil noch kaum wissenschaftlich ausgewertet werden konnten. So begleitete etwa der Germanist Hans Mayer als authentischer Chronist die Kölner Musikgeschichte zwischen den Weltkriegen, und ist in den unversehrt gebliebenen Beständen des Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer auch dessen unrühmliche autokratische Absetzung von Bartóks Pantomime „Der wunderbare Mandarin“ unmittelbar nach deren Kölner Uraufführung 1926 aktenkundig.
Entgegen dem bei manchen Archivaren anzutreffenden Dünkel, Materialien aus der Zeit nach Erfindung des Buchdrucks als bloßen „Journalismus“ abzutun, gelangten auch bedeutende Zeugnisse der jüngsten Kölner Musikgeschichte in das Archiv. Zu danken ist dies vor allem den umfassenden Kenntnissen des langjährigen Archivars Eberhard Illner und den guten Kontakten, die dieser zu den Akteuren unterhielt, welche während der fünfziger und sechziger Jahre maßgeblich zum Ruf Kölns als Welthauptstadt der neuen Musik beitrugen. So gelangte der Nachlass von Günter Wand ins Archiv, unter dessen umfangreicher Korrespondenz sich auch der Briefwechsel mit dem befreundeten Bernd Alois Zimmermann befindet. Von internationalem und Sparten übergreifendem Rang ist die Sammlung der Bildenden Künstlerin Mary Bauermeister, die zum Kölner IGNM-Weltmusikfest 1960 als Gegenveranstaltung ein „Contre Festival“ veranstaltete und bis 1962 ihr Atelier in der Kölner Altstadt zum Schauplatz von Konzerten, Lesungen, Ausstellungen und Happenings machte mit Nam June Paik, David Tudor, John Cage, Sylvano Bussotti, Cornelius Cardew, Hans G Helms, Heinz-Klaus Metzger, Karlheinz Stockhausen und vielen anderen. Der Nachlass des 1995 verstorbenen Baritons William Pearson, der seit 1957 in Köln lebte, dokumentierte Entstehung und Realisation vieler interdisziplinärer, musiktheatralischer Arbeiten von Kagel, Schnebel, Ligeti und Henze. Kaum ansatzweise ausgewertet wurde bislang der Nachlass des deutsch-amerikanischen Elektronik-Tüftler Ernest Berk mit hunderten Bändern und diversen elektroakustischen Apparaturen. Auch Robert HP Platz hatte sein gesamtes persönliches Archiv ins Historische Archiv gegeben, Partiturhandschriften, Skizzenbücher, Zettelkästen, Originalbänder von Uraufführungen eigener und anderer Stücke unter seinem Dirigat.
Dass die Domstadt in den letzten Jahren manche Sammlung infolge des akuten Platz- und Personalmangels im Archiv verlor – etwa die Bestände des 1980 von Platz begründeten und bis 2001 geleiteten „Ensemble Köln“ an das Europäische Zentrum der Künste Hellerau oder den Nachlass von Johannes Fritsch und seines seit 1970 bestehenden Feedback Studio an das Archiv Musik der Berliner Akademie der Künste –, erweist sich angesichts des Kompletteinsturzes des Historischen Archivs jetzt möglicherweise als Glücksfall. Das 1971 errichtete Archivgebäude war längst an seine Kapazitätsgrenzen gelangt und mit dem Abbau von ursprünglich siebenundsechzig Planstellen auf nur noch sechsundzwanzig Angestellte in seinen Handlungsmöglichkeiten immer weiter gelähmt worden. Annahme und Erwerb von Sammlungen und Nachlässen sollten eingestellt werden, da sie nur zu den freiwilligen und nicht zu den gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen des Archivs gehören, das sich fortan auf die kulturhistorisch weit weniger wichtige Aufbewahrung von Akten der städtischen politischen Gremien und Verwaltungsapparate beschränken sollte. Der bereits seit einiger Zeit erwogene Neubau des Archivs, der auch ein Restaurierungs- und Digitalisierungszentrum enthalten soll, ist nun unerlässlich geworden, selbst wenn es noch Jahre dauern wird, bis die geborgenen Archivalien wieder in Stand gesetzt und sortiert sind. Ein von der Kölner Kulturverwaltung im Dezember 2008 dem Kulturausschuss vorgelegter „Kulturentwicklungsplan“ sieht hierfür zirka sechsundfünfzig Millionen Euro vor. Woher die Stadt dieses Geld nehmen soll, steht jedoch in den Sternen. Immerhin nennen erste Schätzungen einen Schaden in Höhe von einer Milliarde Euro. Das wäre mehr als der noch längst nicht abgeschlossene U-Bahn-Bau schon bisher gekostet hat. Dabei noch nicht eingerechnet sind die aufwendige Restaurierung Hunderttausender Exponate, der unwiederbringliche Verlust vieler Unikate und möglicherweise auf die Stadt zukommende Regressforderungen vieler privater Leihgeber, die dem Historischen Archiv ihre Dauerleihgaben anvertraut haben, weil sie diese dort sicher verwahrt und der Nachwelt geordnet zugänglich gemacht hofften. Bereits jetzt haben mehrere Depositare über einen Rechtsanwalt Schadensersatz geltend gemacht, weil städtische Gebäudewirtschaft und Archivleitung weder angemessen auf die Gefährdung durch den U-Bahn-Bau reagiert noch die Leihgeber ordnungsgemäß informiert haben.
Das nach und nach abseh- und bezifferbare Ausmaß der Katastrophe hat inzwischen auch zu politischen Konsequenzen geführt. Oberbürgermeister Fritz Schramma (CDU), der am Tag nach dem Unglück den Weiterbau für „geradezu unverantwortlich“ erklärt hatte, wird sich im Sommer nicht mehr zur Wiederwahl stellen, nachdem sein Krisenmanagement selbst bei der eigenen Fraktion in Kritik geraten war. Und die Düsseldorfer Bezirksregierung, die als technische Aufsichtsbehörde für sämtliche Stadtbahn-Neubauten zuständig ist, hat inzwischen die Kontrolle über den Kölner U-Bahn-Bau einer unabhängigen Ingenieursgesellschaft übertragen. Allerdings gelangte die Behörde erst durch den Archiveinsturz zur Einsicht, dass es wohl ein Fehler gewesen ist, dem Bauherrn, den Kölner Verkehrsbetrieben (KVB), zugleich auch die Aufsicht über den Bau zu übertragen. Nachdem man von einer „Kompetenz-Vermutung“ ausgegangen sei, hat die Kölner Katastrophe jetzt gezeigt, dass weder die KVB über die nötige Kompetenz verfügte noch die Bezirksregierung eine Überprüfung der von ihr gemutmaßten Kompetenz für nötig befunden hatte. Die Vorsicht, die der Düsseldorfer Regierungspräsident Jürgen Büssow jetzt in seinen Reden walten lässt, „die Katastrophe [steht] mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit den Bauarbeiten für den Gleiswechsel am Waidmarkt in Zusammenhang“, hätte man sich von seiner Bauaufsicht bei der praktischen Kontrolle des Kölner U-Bahnbaus früher gewünscht.
Ohne einzelnen Institutionen oder Funktionsträgern persönliche Schuld zuzuweisen, bemängelt der Kölner Regierungspräsident Hans Peter Lindlar massive Kontrollprobleme im System. Die Verantwortung des Stadtrats sei auf dem Weg über die kommunalen Stadtwerke bis zur städtischen KVB durchgereicht und damit der direkten Kontrolle des Rats entzogen worden. Zudem würden die Ratsmitglieder, obwohl einige sogar Aufsichtsräte der Stadtwerke sind, das immer weitläufigere Geflecht der über hundert städtischen Betreibergesellschaften kaum mehr durchschauen. Inwiefern Klüngelei, grobe Fahrlässigkeit oder das rheinisch-katholisch gottvertrauende Laissez faire „Et is wie et is, et kütt wie et kütt und is no immer joot jejange“ Mitschuld am Unglück tragen, ermittelt einstweilen die Staatsanwaltschaft. Feststeht in jedem Fall, dass durch die mehrfache Abgabe von Zuständigkeiten und Kontrollfunktionen viel zu lange unerkannt blieb, dass für den U-Bahn-Bau – der in nur wenige hundert Meter parallel zum Rhein erfolgt – über Jahre hinweg ein Vielfaches der genehmigten Menge an Grundwasser abgepumpt wurde, was das Erdreich destabilisierte und schließlich in großen Mengen in den fast dreißig Meter tiefen U-Bahn-Schacht abrutschen ließ. Dem direkt angrenzenden Archivgebäude wurde so förmlich der Boden unter den Fundamenten weggezogen.
Die Strecke der neuen Kölner Nord-Süd-Stadtbahn verläuft entlang der Hauptachse der antiken Römerstadt Colonia Claudia Ara Agrippinensium, an der sich auch heute die Perlen der modernen Metropole reihen. Hier liegen Kölner Philharmonie, historisches Rathaus, Museum Ludwig, Wallraf-Richartz-Museum, die auf römischen Fundamenten errichtete romanische Säulenbasilika Sankt Georg, die salische Kirche Sankt Maria im Kapitol, die gotische Severinskirche und die keine zweihundert Meter von der Archiv-Unglücksstelle gelegene Kirche Sankt Johann Baptist, deren Turm bereits im September 2005 als Folge der Tunnelbohrungen einzustürzen drohte. Sämtliche genannte Kirchen und das Rathaus weisen seit Beginn der Tiefbaumaßnahmen Mauerrisse auf. Um verlorenes Vertrauen wieder zu gewinnen, haben die Kölner Verkehrsbetriebe das „Sicherheits- und Risikomanagement für den Bau aller Haltestellen“ an den TÜV Rheinland abgetreten. Dieser hat bei sechzig Prozent der entlang der Baumaßnahmen begutachteten Häuser Schäden festgestellt, diese aber allesamt „als völlig normal und nicht gefährlich“ eingestuft. Eine nach der Katastrophe erschienene „Scherzkarte“ sah dies anders. Sie zeigte die 1945 total kriegszerstörte Stadt mit der Unterschrift: „Köln nach Fertigstellung der U-Bahn“.