MusikTexte 121 – Mai 2009, 81–82

Erneute Vorboten alter Klassizität?

Haydn und seine Erben bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik

von Rainer Nonnenmann

Für die zeitgenössische Kammermusik ist die produktive Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Tradition und insbesondere mit deren innovativen Strängen eine naheliegende Herausforderung. Erstaunlich ist indes, dass sich Komponisten just in dem Moment auf Joseph Haydn besinnen, wo aus Anlass von dessen zweihundertstem Todestags allerorten Kongresse, Symposien, Konzerte und Musikfestivals stattfinden, während der Vater der klassischen Kammermusik in der neuen Musik sonst so gut wie keine Rolle spielt. Entspricht dem äußerlichen Anlass auch ein echtes künstlerisches Entdeckerinteresse? Oder sollen unverbindliche Haydn-Beschwörungen bloß aktualitätsheischend Aufmerksamkeit erregen, so wie schon zu Haydns Lebzeiten Dutzende Kleinmeister ihre Elaborate unter dem wohlklingenden Namen des europaweit berühmten Klassikers veröffentlichten, um dem dümpelnden Absatz des eigenen Hausgemachten aufzuhelfen?

Bei den diesjährigen einundvierzigsten Wittener Tagen für neue Kammermusik geisterten Haydn und seine romantischen Erben auffallend prominent durch Titel, Werkkommentare und Partituren. Aber wäh­­rend Beethoven, Schubert, Schumann und Mahler seit den sechziger Jahren längst als Wegbereiter der neuen Musik von Kom­ponisten, Interpreten und Musikwissenschaftlern neu entdeckt und rezipiert wurden, bleibt der Umgang mit den Universalisten unter der Rokoko-Perücke unentschieden. Auch die Wittener Novitäten trugen nicht zur Klärung des undurchsichtigen Verhältnisses der Gegenwart zum 1809 verstorbenen Meister bei.

Unter den insgesamt vierundzwanzig erst- und uraufgeführten Stücken befanden sich auffallend viele für traditionelle Kammermusik-Besetzungen: sechs Streich­quartette, zwei um Zusatzinstrumente erweiterte Quartette und zwei Klaviertrios. Zudem zielten etliche Stücke auf strukturelle Anknüpfungen an die klassisch-romantische Tradition, auch wenn sich dieser Anspruch zuweilen in bloßen Lippenbekenntnissen zu erschöpfen schien. Kaum nachvollziehbar waren etwa die Anlehnungen an die späten Beethoven-Quartette in der ephebenhaft verhuschten Fluidoklangwelt des chinesisch-stämmigen Kaliforniers und Ferneyhough-Schülers Ming Tsao oder die unterschwellige Präsenz spanischer Folklore bei José Rio-Pareja. Auch die kontrastierenden Teile der „Homenagem a Haydn“ des Portugiesen Daniel Moreira ließen eine verbindliche Ausgestaltung der verbal beschworenen Bezüge auf „formale und expressive Strategien“ des Eisenstädter Jubilars vermissen. Umso handfester griff dagegen Jorge Enrique López im dritten Satz „Presto alla tedesca“ seines Klaviertrios opus 22 das Finale aus Haydns Klaviertrio Hoboken XV : 29 auf, ein schwung­voller Walzer, dem der lange in Kärnten ansässige US-amerikanische Exil-Kubaner im weiteren Verlauf empfindliche rhythmisch-harmonische Beulen und Blessuren beibrachte, während er im Kopfsatz mehr oder minder verschwiegene Verbindungen zu Bruckner und Schubert unterhielt. Von guter Haydn-Manier erwiesen sich auch – obwohl nicht ausdrücklich auf diesen bezogen – die „schlechtecharakterstücke“ von Bernhard Gander. So wie einst der Klassiker die vier Temperamente vertonte, verdichtete sein österreichischer Nachfahre die Charaktermängel Gier, Neid und Geiz zu hoch energeti­schen Sätzen für Klaviertrio, deren aggres­siv zupackende Gesten das spanische Trio Arbós mit förmlich besitzergreifender Obsessivität spielte.

Als widerborstigen Stachel in das Streichquartett bohrte Johannes Schöllhorn eine Kontrabassklarinette. Der zur klassischen Formation denkbar quer stehende Fremdkörper klapperte indes nicht als deplaziertes fünftes Rad am munter weiterrollenden Quartett, sondern erwies sich mit kurzen Slabstößen erstaunlich eng in das Gesamtgeschehen integriert, auch wenn die oft extrem tiefen und leisen Klänge zuweilen kaum mehr als klare Töne erlebt werden konnten, sondern eher als diffuse atmosphärische Störung im Raum. Das junge US-amerikanische JACK Quartet, dessen feinfühliger Elan und hellhörige Detailversessenheit dem jährlich in Witten residierenden Arditti Quartet den Rang streitig zu machen ansetzt, spielte dazu filigran tickende Ostinatofiguren mit höchster Präzision. Martin Smolka gesellte zum Streichquartett Bassklarinette und Gitarre. Mit vielmals wiederholten, schwungvollen Bogenstrichen über leere Saiten schien er zu Beginn seines „Rinzai and Water Skaters“ alles wegwischen zu wollen, was auf den Instrumenten zuvor jemals gespielt wurde. Indem er die befreiende Geste nach und nach ausdünnen, langsamer und schwächer werden ließ, führte er den Hörer behutsam in das ruhevolle Herzstück seines Werks. Spinnwebfein wie von zarten Wasserläufern, so der Titel, gezupfte Gitarren-Flageoletts umkreisen hier den immer gleichen Moll-Dreiklang, dessen tonales Sentiment unmittelbar anrührt und den Hörer zugleich wegen der allzu offenkundig auf solche Wirkung kalkulierenden Absicht verstimmt.

Der in Witten bereits mehrfach vorgestellte George Aperghis transformierte Klavierkonzerte von Chopin und Schumann elektronisch bis zur Unkenntlichkeit zu unterschiedlich massiven und rauen Klangflächen, zu denen Pianist Nicolas Hodges live spitze Repetitionsketten wie tönend bewegte Graffitis auf die statischen Klangwände mehr mit Meißeln hämmerte als sprühte. Diese vordergründige Strukturparallele von „Dans le mur“ ließ jedoch tiefere Analogien zwischen Musik und den in der Grauzone zwischen ornamentalen Bildern und lesbaren Schriftzeichen sich bewegenden temporären Graffitis unbeleuchtet, obwohl die mechanistischen Kettenbildungen des Klavierparts an die ganz ähnlich geknüpften Sprachsilben-Spiele von Aper­ghis’ Vokalwerken erinnerten. Ein gerüttelt Maß romantische Aura beschwor der zunächst in ökologischem Landbau ausgebildete Niederländer Gijsbrecht Royé mit zwei Schalmeien, deren viel besungene Hirtenpoesie er in „[zonder titel]“ – gespielt vom 1998 in Den Haag gegründeten „Ensemble R“ – durch skurrile Kollision mit freejazz-artig sich überschlagenden Soli von Zugtrompete und Posaune sowie zwei näselnden arabischen Streichlauten Rababs restlos aufrieb.

Bukolische Züge zeigten auch die Freiluftkonzerte und Klanginstallationen, mit denen die Wittener Tage erstmals den unweit der Stadt gelegenen Landschaftspark Hohenstein bespielten. Bei strahlendem Frühlingswetter verließ die Kammermusik die gute Stube und wurde einmal „gut durchlüftet“, wie Festivalleiter Harry Vogt schrieb. Schon den Dichtern der Empfindsamkeit und Romantik war die Natur ein vielstimmiges Tönen von allen Seiten: kaum ein Roman oder eine Novelle um 1800, wo nicht Post- oder Waldhorn, Saitenspiel, Hirtenflöte, Schalmei, Äolsharfe oder ein Wanderlied als klingende Seelenspiegel erscheinen. Daniel Ott ließ das Publikum von einer Aussichtsterrasse mit „Blick Richtung Süden“ ins grüne Ruhrtal auf verschiedene Realitätsebenen sehen und hören: vom Wind zerstreute und plötzlich herangewehte Klänge von entlang des Flusses auf einer Entfernung von zwei- bis fünfhundert Meter Luftlinie postierten Blechbläsern; natürliches und per Lautsprecher zugespieltes Vogelgezwit­s­cher; real nach Fahrplan und per Elektronik vorüberrauschende Züge; ein einkomponiertes echtes Feuerwehrauto; sowie entfernt gerade noch sichtbare Enten und hörbares Quaken in unmittelbarer Nähe. Resultat dieses Zusammenspiels war eine heitere Charade aus Illusion und Wirklichkeit, wie sie schon die Romantiker gerne trieben. Statt in die Ferne zu schweifen, implantierte Christina Kubisch einem versiegten Zierbrunnen per Lautsprecher kristallklare Tropfenklänge und gemäß dem sprechenden Anfangsvers „Am Brunnen vor dem Tore“ das leicht verfremdete Klaviervorspiel von „Der Lindenbaum“ aus Schuberts „Winterreise“, verkannte dabei jedoch, dass der rauschende Lindenbaum den Winterreisenden nicht zu idyllischer Rast auf den für das Publikum auf Steinbänken ausgelegten bequemen Kissen lädt, sondern zu finaler Ruhe durch Suizid per Erhängen in seinen lockenden Zweigen.

Seit geraumer Zeit ist die Wittener Mustermesse für zeitgenössische Kammermusik auch ein wichtiges Forum für französische Komponisten in Deutschland. Umfangreich porträtiert wurde dieses Jahr Hugues Dufourt, der hierzulande weit weniger bekannt ist als Gérard Grisey und Tristan Murail, obwohl er es war, welcher der „musique spectrale“ 1979 den Namen gab und als einer der ersten die Erstarrung voraussah, die dieser Musikrichtung durch die ausschließliche Abbildung von Obertonspektren drohte und nach wenigen Jahren tatsächlich zu ihrem Ende führte. So begrüßenswert die Vorstellung dieses Komponisten war, so vage blieb doch der Eindruck von dessen Persönlichkeit und Musik. Die insgesamt sechs in Witten aufgeführten Werke Dufourts – fünf deutsche Erst- und eine Uraufführung – stammten alle aus den letzten zehn Jahren und boten folglich kaum ein komplettes Porträt. Nicht über unverbindliche Andeutungen hinaus ging das Gespräch des Ex-Spektralisten mit Moderatorin Martina Seeber. Es ließ offen, wie sich der bereits in den achtziger Jahren aufgekommene „Post-Spektralismus“ zur „musique spectrale“ verhält und worin sich der von Dufourt behauptete politische Aspekt von Kammermusik – im Gegensatz zur angeblich „industriellen und hedonistischen Orchestermusik“ – zeigt und welche Stoßrichtung er hat.

Das in Witten mit Abstand älteste präsentierte Werk Dufourts, „L’île sonnante“ von 1990, erwies sich zugleich als sein stärkstes, vielleicht weil es dem spektralistischen Ansatz – physikalisch korrekt analysierte instrumentenspezifische Ober­tonspektren mit rein instrumentalen Mitteln nachzugestalten – noch am nächsten kommt. Durch analoge Spielweisen, Glissandi, Bebungen und verwandte Klirrfaktoren wird hier eine E-Gitarre mit einem ausschließlich aus Metallidiophonen bestehenden Schlagwerk bis zur Ununterscheidbarkeit verschmolzen. Im Klavierkonzert „L’Origine du monde“ lässt Dufourt wuchtige Akkorde des Solisten so ins Ensemble abstrahlen, dass eine konventionelle Bogenform mit klanglich-ener­getischer Verdichtung und finalem Verebben entsteht. Ähnlich verlief das vom ensemble recherche uraufgeführte Ensemblewerk „L’Asie d’après Tiepolo“, dessen Entstehung sich einer Anregung durch das Deckenfresko Giovanni Battista Tiepolos im Treppenhaus der Würzburger Residenz verdankt. So wie sich aus dem wattierten Rokoko-Olymp einzelne Figuren abheben, zerlegt Dufourt durch Filterprozesse einen monochromen Tutti-Klang sukzessive in Einzelfarben.

Auch in „Dawn Flight“ schlüsselt der 1943 in Lyon geborene Komponist, der im Gegensatz zu seinen Pariser Weggefährten nicht bei Olivier Messiaen (sondern bei Jacques Guyonnet in Genf) studiert hat, mit wechselnder Dynamik und Spieltechnik bei immer gleichen Arpeggio- und Akkordfolgen das schmale Klangspektrum des homogenen Streichquartettsatzes auf. Das halbstündige Werk zeigt einen zwanghaften Willen zur Größe, basiert aber letztlich auf schematischen Wechseln homo- und polyphoner Passagen und der wenig originellen Idee von Musik als Fluss, Modulation und „konkreter Topologie von Intervallen und Verbindungen“. Im typischen impulsiven Zugriff des Arditti-Quartetts entstand so nur ein dämmrig aktionistischer Post-Spektral-Minimal-Neovital-Manierismus. Eine spannungslose Reihung eines akkor­di­schem und eines linearen Abschnitts mit abschlie­ßender Kombination beider Kontraste zeigte auch die „Hommage à Chopin“ für Klavier. Auf ein und demselben durchgehenden Bewegungsduktus beruht dagegen das Klavierstück „Rastlose Lie­be“, dessen aufgewühlte Achteltriolen Dufourt dem gleichnamigen Schubert-Lied entlehnte, bezeichnenderweise im Schubert-Jahr 1997.

Wie bei Dufourts Klavierkonzert agierte das dreißigköpfige Remix Ensemble aus Porto auch bei Werken von Emanuel Nunes und Jonathan Harvey nicht ganz präzise. Die hörbar besser geprobten „Tissures“ des portugiesischen Landsmanns Nunes ließen ein in klarer Tiefenstaffelung fein austariertes Verhältnis von flächigen Tutti- und rhythmischen Solopassagen erkennen. In Harveys „Jubilus“ wirkten die expressiven Kantilenen der Solobratsche kurzatmig und das begleitende Oktett ohne die sonst vom Komponisten geschätzten Hall-, Resonanz- und Echomöglichkeiten der Ircam-Elektronik auffallend stumpf und flächig.

Von bemerkenswerter Andersartigkeit war François Sarhans „Home Work“. Im verdunkelten Festsaal des Wittener Saalbaus wurden Flötist, Keyboarder und Schlagzeuger abwechselnd in Lichtkegel getaucht, in denen sie zu spielen begannen und mit fahrigem Plauderton eine jeweils durch wenige Requisiten charakterisierte Alltagssituation in Wohnzimmer, Garage und Küche kommentierten. Als Interludium zwischen den Soli erklang immer derselbe wie von einer alten Schellackplatte leicht knisternde Ragtime, während das Publikum mittels kleiner Fernrohre den Blick auf erotische Abziehbildchen richten konnte, die an Saaldecke und Wänden nacheinander beleuchtet wurden. Der Voyeurismus des Konzertlebens und die hybride Ausstellungssituation einer kompositorisch-interpretatorischen Leistungsschau wie der Wittener Tage können solch selbstironischen Reflex gut vertragen.