MusikTexte 124 – Februar 2010, 3–4

Versuch über neue und Neue Musik

Ein Editorial

von Reinhard Oehlschlägel

Nach mehr als fünfundzwanzig Jahren der Existenz unserer Zeitschrift MusikTexte ist es vielleicht zum ersten Mal notwendig, die Schreibweisen der Bezeichnung des Themenfelds der MusikTexte hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Bedeutungen zu kommentieren. Im Heft 123 konnte der Leser einen Kommentar aus der Feder unseres Mitherausgebers Frank Hilberg lesen, in dem Neue Musik mit dem berühmten großen N geschrieben wird.

Bei den Gesprächen unter den an der Gründung der MusikTexte Beteiligten in der eigenartigen Aufbruchs­situation der frühen achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts – erinnert sei an die Gründungen des Ensemble Modern, der Kölner Gesellschaft für Neue Musik und der MusikTexte mit all den Folgen von Ensemblegründun­gen, Gesellschaften für Neue Musik in anderen Großstädten und Zeitschriftengründungen –, ging es in erster Linie um das, was man inzwischen Geschäftsmodell nennt, um die bewusst elementar gehaltenen äußeren Bedingungen von Format, Aufmachung, Umfang, Gliederung, Schrifttypen und Papiersorten, um die Suche nach einem treffenden Titel und Untertitel und dabei nicht zuletzt auch um die Frage, wie das Themenfeld bezeichnet werden sollte, um das es in dieser neuen Zeitschrift gehen sollte.

Die Bezeichnung „Neue Musik“, die Paul Bekker wahrscheinlich zum ersten Mal in einem Beitrag zur Frankfurter Zeitung 1919 oder 1920 eingeführt hat und die auf dem Titelblatt seiner Broschüre „Neue Musik“ in der von Kasimir Edschmid 1920 im Erich Reiß Verlag Berlin herausgegebenen Schriftensammlung „Tribüne der Kunst der Zeit“ zu finden ist, war in diesem Zusammenhang keineswegs schon ein Begriff, ein Terminus; im Text selbst umschrieb Bekker seinen Gegenstand als „neue Musik“. Erst die Gründung der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik, der IGNM, am Rande der Salzburger Festspiele 1922 setzte die Großschreibung „Neue Musik“ sehr allmählich und nur für den deutschsprachigen Raum durch. Anton Haefeli berichtet in seiner Monographie „Die Internationale Gesellschaft für Neue Musik“ von 1982, dass der Name der Gesellschaft nicht definitiv festgelegt wurde. Haefeli nennt dann die englische, die französische und die deutsche Version, um hinzuzufügen: „oder anfänglich auch ,Internationale Musikgesellschaft‘ oder die ,musikalische Internationale‘“ (53). Wie unsicher zu Beginn der Name war, zeigt schließlich die Faksimile-Wiedergabe des Titelblatts vom Programmheft des ersten Kammermusikfests der IGNM in Salzburg im August 1923, das „INTERNATIONALE GESELLSCHAFT FÜR ZEITGENÖSSISCHE MUSIK“ überschrieben ist. Natürlich wurde die allmähliche Entwicklung der Bezeichnung Neue Musik zum Begriff nicht allein von der IGNM, deren Festivals ja von Land zu Land pilgerten, vorangebracht, sondern vor allem durch die Tätigkeit der deutschen, österreichischen und schweizeri­schen und der städtischen Vereinigungen unter dem glei­chen Namen und deren zahlreichen Konzert- und Vortragsveranstaltungen. Beim internationalen IGNM-Start wie bei vielen na­tionalen und lokalen Veranstaltungen im deutschsprachigen Raum spielte die Musik des engeren und weiteren Schönberg-Kreises die führende Rolle, obwohl Schönberg, Webern und Berg die IGNM zunächst recht skeptisch beobachteten. Der Begriff selbst hebt ja nur auf das jeweils Neuartige der bezeichneten Musik, keineswegs auf das Atonale oder die Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen des Schönbergkreises ab. Zusammen mit der Musik von Strawinsky, Bartók, Kodály, Wellesz, Křenek, Milhaud, Casella und vielen heute weniger bekannten Komponisten wurde im Lauf der zwanziger Jahre mehr und mehr unter der Bezeichnung Neue Musik begriffen und dargestellt, bis der politische Einschnitt der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 die Entwicklung der Neuen Musik und des im Entstehen begriffenen Diskurses um die Phänomene der Neuen Musik aus Deutschland, nämlich Atonalität, Dodekaphonie, Neoklassizismus, politische Musik, auch erweiterte Tonalität ins krasse Gegenteil des Erschlagworts „Entartete Musik“ ohne jeden Erkenntnis- und Begriffscharakter pervertierte. Neue Musik in Deutschland ging, zusammen mit allen anderen modernen Kunsthaltungen dieser Zeit, vor allem in die Vereinigten Staaten ins Exil, auch in die sogenannte Innere Emigration in Deutschland, ohne dass dabei der Begriff Neue Musik noch eine wesentliche Rolle gespielt hat. 1938 erlitten Neue Musik und moderne Kunst in Österreich das gleiche Schicksal. Und 1939 gingen schließlich auch die Festivals der IGNM weltweit den gleichen Weg. Keine Frage, zu dieser Zeit war die Welt der IGNM mit ganz wenigen Ausnahmen auf Europa fixiert.

Wiederbelebt wurde die neue Musik selbst und ihr scheinbar heroischer Begriff, mit dem sie ins Exil, in Elend und Not getrieben worden war, 1945 im Rückgriff auf all das, was in den ersten Jahrzehnten des zwanzig­sten Jahrhunderts zu ihr gehört hat, mit Musik von Hindemith, Bartók, Strawinsky und des Schönbergkreises, um nur die berühmtesten Protagonisten zu nennen. Die IGNM wurde international wieder zum Leben erweckt. Und in den westlichen Besatzungszonen kam es 1946 zur Gründung der Internationalen Ferienkurse für Neue Musik Darmstadt, wie sie später genannt worden sind, durch den Kulturdezernenten der Stadt Darmstadt, Wolfgang Steinecke. Auch das ebenso schnell nach Kriegsende ins Leben gerufene Institut für Neue Musik und Musikerziehung Bayreuth (später nach Darmstadt umgesiedelt) bediente sich der Bezeichnung Neue Musik, obwohl es zunächst weit konservativer angelegt war. Was die Ferienkurse anging, erfuhr der Begriff Neue Musik im Maße der Entwicklung eines gegenüber den Zwanzigerjahren neuen Kompositionsansatzes eine allmähliche Umwertung. Erst um 1950 ist die neue serielle Musik die Speerspitze der Entwicklung. Einigermaßen paradox ist dabei, dass die jungen Komponisten ihren Ansatz als eine wesentlich radikalere Abwendung von allem, was es bisher gab, verstanden haben; einzig Webern galt ihnen als der Eckstein des Neuen. Dennoch blieb es bei dem mit großem N geschriebenen Oberbegriff, der auch dadurch mehr und mehr zur Begriffshülse verkam. Bei näherer Untersuchung könnte sich herausstellen, dass der gemeinsame Nenner – bei allen Unterschieden – die Wiederaufbausituation nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg gewesen ist und damit die Notwendigkeit in der Musik, wie in allen anderen Bereichen auch, etwas nach vorn in die unmittelbare Zukunft Gerichtetes fand, an dem die Szene der Komponisten, Interpreten, Wissenschaftler und Journalisten jedenfalls einen minimalen Halt finden konnte. Die Institutionalisierung setzte sich im Übrigen um 1950 in der Etablierung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten fort, in denen Redak­tio­nen für Neue Musik mit Budgets und Sendeplätzen als regelrechter Auftragsgegenstand eingerichtet wurden. Na­türlich geschah das auch für eine ganze Reihe von traditionellen Sparten von Orchestermusik, Kammermusik, geistlicher Musik, Opernmusik, Lied- und Klaviermusik. Für die Musik des zwanzigsten Jahrhunders geschah das unter der Chiffre „Neue Musik“. Aufschlussreich ist auch, dass diese Neue-Musik-Redaktionen selber der Bezeichnung aus dem Weg gingen, wo immer das möglich war. Wie anders ist es zu erklären, dass jeder Sender über seine Konzertreihe oder sein jährliches oder zweijährliches Festival mit neuer Musik eine je eigene möglichst attraktive Überschrift gesetzt hat, wie musica viva, Musik der Zeit, Musik der Gegenwart, Das neue Werk, Pro Musica Nova, Musik des 20. Jahrhunderts, Ars Musica und anderes mehr. Die öffentlich-rechtlichen Redaktionen Neue Musik bearbeiteten also weniger ein gemeinsames Feld in offener Konkurrenz, sondern vielmehr jede ihren eigenen abgesteckten, besonderen Bereich.

Die Folge- und Gegenansätze zur seriellen Musik der Fünfzigerjahre schließlich dröselten die vorgetäuschte Geschlossenheit der Szene der Neuen Musik in Westdeutschland immer weiter auf. Der erste und radikalste war dabei der Fluxusansatz, der Anfang der Sechzigerjahre eine kurze Zeit mit dem Etikett „Neodada“ aufgetreten ist. Die Fluxuskonzerte sprengten dabei die engen Grenzen der Konzertbühne. An ihnen waren in völlig gleicher Weise Literaten, Musiker, Theater- und Film-, Aktions- und Performancekünstler beteiligt, so dass es einfach keinen Musikoberbegriff mehr gab. Zugleich wurde die Arbeitsteilung zwischen demjenigen, der das einzelne Stück ausgedacht und ausgearbeitet hat, und einem oder mehreren Interpreten fast ganz aufgehoben. Der Fluxuskünstler trug sein „Stück“ selbst vor mit einer resultierenden Präsenz, wie sie im Musikleben sonst nur sehr selten zu erleben war. Natürlich gab es Ausnahmen wie die Cellistin Charlotte Moorman.

Der zweite Ansatz, der auf die seriellen Komponisten gefolgt ist, war der einer gesellschaftskritischen und politischen Musik Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre nach der Wiederentdeckung der Musik von Hanns Eisler. Auch diese von den konservativen Kräften bekämpfte Spielart konnte mit dem Etikett „Neue Musik“ nicht mehr viel anfangen, auch wenn ihr Ansatz im Gesamtkontext durchaus neu war. Die Gesellschaft für Neue Musik hat Anfang der Siebzigerjahre das Phänomen in einem Konzertwochenende in Bonn untersucht, und die nur kurz wieder auflebenden Tonkünstlerfeste haben in Stuttgart eine Übersicht vermittelt. Dass es beide Spielarten, Fluxus und die gesellschaftskritische und politische Musik nicht gerade einfach hatten, auch wenn es um Musik von Nono und Henze ging, überhaupt aufgeführt und wahrgenommen zu werden, mag auch an der Verfestigung der Neue-Musik-Strukturen gelegen haben.

Die Siebzigerjahre wurden spätestens ab der Mitte des Jahrzehnts von einer jungen Generation neoromantische, später auch neoklassische und neomoderne Musik schreibender Komponisten belebt, die sich etwas später in postmoderne Denkmuster einfügen ließ. Der einzige Zusammenhang zur „Neuen Musik“ schien dabei die vollkommen legitime Nutzung der mit dem Begriff verbundenen In­stitutionen (IGNM, Darmstadt und die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten) zu sein.

In der Phase der Gründung der MusikTexte Anfang der Achtzigerjahre war die Zeit gekommen, auf das im institutionellen, gleichwohl verblassenden Markenzeichen Neue Musik enthaltene Anspruchsdenken zu verzichten, also möglichst niemanden auszugrenzen, am allerwenigsten Musiker, deren Sozialisation über experimentelle Jazz-, Rock- oder Popmusik verlaufen ist, natürlich ohne künstlerische Kriterien dabei außer Kraft zu set­zen. Insbesondere sollte vermieden werden Entscheidungen darüber zu treffen, wer dem „Cenacle“ (Adorno) der „Neuen Musik“ angehöre und wer nicht. Wie weit das im Einzelnen gelungen ist, kann nur der Leser entscheiden.

Die Schreibweise „neue Musik“ sollte den Leser jedenfalls in keiner Weise irritieren oder gar desinteressieren, im Gegenteil. Dass die Texte von Autoren, die an dem großen N festhalten, sowie die institutionellen Namen, in denen „Neue Musik“ mit großem N enthalten ist, korrekt wiedergegeben werden, versteht sich von selbst.