MusikTexte 125 – Mai 2010, 81–82
Mehr Wort- als Klangspiel
Hans G Helms’ „Fa:m’ Ahniesgwow“ in Köln
von Rainer Nonnenmann
Das Buch ist Lese-, Sprech- und Hörtext zugleich. 1960 im Kölner Verlag DuMont erschienen, bewegt es sich im Grenzbereich zwischen Literatur und musikalischer Komposition. Die räumlich-graphische Anordnung mancher Passage – vor allem der ersten achtstimmigen Parallelstruktur – ähnelt eher einer Partitur zur praktischen Aufführung denn einem konventionellen Lesetext. 2004 gründete sich das Kölner Sprachkunsttrio „sprech-bohrer“, eigens um Hans G Helms legendäres „Fa:m’ Ahniesgwow“ zu erarbeiten. Nach sechs Jahren Texteinrichtung und Einstudierung war im März in Köln das Ergebnis zu erleben.
Im Gegensatz zu späteren Vokalwerken hat Helms sein „Fa:m’ Ahniesgwow“ nicht in phonetischer Lautschrift geschrieben, so dass schon damals seine eigenen Lesungen von Mal zu Mal anders ausfielen. Die zahllosen Lesartenvarianten machen den Text zum Paradebeispiel eines vieldeutigen offenen Kunstwerks. Jede klangliche Realisation der demontierten und neu kombinierten Sprache erfordert dagegen eine lautliche Festlegung, vor allem auf das von Helms bevorzugte Englisch, Deutsch, Latein und Jiddisch, aber auch auf einige skandinavische und slawische Sprachen, die der staatenlose deutsch-jüdische Dichter und Musiker nach dem Krieg während Aufenthalten in Auffanglagern für „Displaced Persons“ von anderen Lagerinsassen aufschnappte. Mit der klanglichen Fixierung einher geht dann zwangsläufig auch eine mehr oder minder deutliche inhaltliche Interpretation.
Eigenverantwortlich auszugestalten hatten die Interpreten auch Rhythmus, Tempo, Dynamik und Intonation, wozu im Text gelegentliche Großschreibung und Interpunktion allenfalls vage Anhaltspunkte bieten. Mal gestalten die „sprechbohrer“ epische Passagen wie Rap oder Slam Poetry. Dann wieder lassen sie wildes Jägerlatein hören, gefolgt von babylonischen Polyphonien, strengen dreistimmigen Kanons, Cantus-firmus-artigen Stimmverteilungen, bis es wieder homophon „in gekümmelten Sänften durchs Alice-Land“ geht. Ohne größere Sinnzusammenhänge aus der Buchstabensuppe fischen zu können – was nur ausnahmsweise möglich ist – vermittelt sich dem Hörer dennoch allein durch die verschiedenen Arten des Sprechens der Inhalt des Buchs, eine „Fama“ vom „Amigau“: die Auseinandersetzung mit der Nazi- und Kriegsvergangenheit sowie der amerikanischen Besatzungsmacht und bunten Konsum- und Warenwelt des westdeutschen Wirtschaftswunders der fünfziger Jahre.
Hier tönt es in militärpolizeilichem Schergenschneit „SSardofaksisto“ und fanatisierendem Einpeitschertonfall „Euch wird ein Fühler erscheinen“. Dort wird defätistisch-subversiv dagegen gehalten „Hiel Hiel hielt er nur, was er verspricht“. Auf eine litaneiartige „Bet-Aria“ folgt durch minimale Verkürzung des Vokals „e“ unter maximaler inhaltlicher Wendung eine „Aria de Bett“, die verbal-lautmalerische Schilderung einer für alle Beteiligten (wieviele?) mehr oder weniger befriedigenden Kopulationsszene. Immer wieder verdichtet sich der Sprachsalat zu amourösen Phantasien und sexuellen Ausschweifungen zwischen dem „Girli-maichen“ und dem „Phalladra“, dem Mai-wonnigen Mädchen Helène und dem geilen Filou und Hallodri Michael. Schauplatz und weitere Akteure dieser kleinen Liebesgeschichte sind die „Pipöbel vom Cam“, die Leute im Kölner Café und Jazzlokal „Campi“, in dem sich auch die Komponisten des Studios für Elektronische Musik des WDR trafen.
Trotz der virtuosen kompositorisch-lautlichen Umsetzung durch die „sprechbohrer“ macht „Fa:m’ Ahniesgwow“ über weite Strecken nicht den Eindruck eines zum Vortrag bestimmten Texts. Trotz aller Dekomposition der lexikalisch-syntaktischen Sprachstrukturen bleibt vieles klar semantisch gebunden, so dass sich dem Hörer statt einer musikalischen eine entsprechend literarisch-epische Rezeptionshaltung aufdrängt. Das Wortspiel dominiert das Klangspiel. Bei einer Aufführung – zumal einer dreistimmigen – geht alles viel zu schnell, als dass sich sämtlichen inhaltlichen Anspielungen und klanglichen Allusionen ausreichend nachhören ließe, die sich einer mehrmaligen Lektüre wohl erschließen, wenn der Leser selbst sein Lesetempo und seine Assoziationsrichtungen steuert. Die Möglichkeit des Hörens und Wiederhörens – wie sie die bei Wergo in Vorbereitung befindliche CD mit Helms’ berühmtem Buch bieten wird – mag hier Abhilfe schaffen.