MusikTexte 126 – August 2010, 31–40

Jenseits des Gesangs

Sprach- und Vokalkompositionen von Schwitters bis Schnebel

von Rainer Nonnenmann

… das laute Schreiben […] sucht vielmehr (im Streben nach Wollust) die Triebregungen, die mit Haut bedeckte Sprache, einen Text, bei dem man die Rauheit der Kehle, die Patina der Konsonanten, die Wonne der Vokale, eine ganze Stereophonie der Sinnlichkeit hören kann: die Verknüpfung von Körper und Sprache, nicht von Sinn und Sprache.

Roland Barthes 1

Seit den ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts und erneut nach dem Zweiten Weltkrieg entdecken Dichter und Komponisten systematisch den Eigenklang von Sprache und dessen spezifische Musikalität. Im Zwischenbereich von Musik und Literatur erkunden sie Sprache als künstlerisch gestaltbares Medium von ganz eigener Klanglichkeit und Expressivität. Im Unterschied zur traditionellen Textvertonung, bei der Sprache vor allem als Trägerin von Gesang und zur Ausdeutung von Textinhalten dient, soll bei der Komposition von Sprache als Musik die spezifische Lautlichkeit und Struktur der Sprache selbst als Musik erlebbar werden. Um gesprochene Sprache wie Musik in erster Linie als akustisches Me­dium bearbeiten und hören zu können, bedarf es kompositorischer Strategien, die den selbstverständlichen Alltagsgebrauch des Verständigungsmediums durchkreuzen und seine akustische Materialverwandtschaft mit Musik freilegen. So verschieden die gewählten Ansätze sind: Sie alle eint der veränderte Einsatz von Vokal- und Sprechstimmen jenseits des Gesangs.

Fast alle bedeutenden Komponisten des zwanzigsten Jahrhunderts haben neue Verhältnisse zwischen Sprache und Musik erschlossen und mit ihren Vokal- und Sprachkompositionen Schlüsselwerke der neuen Musik insgesamt geschaffen. Bis heute übt der Komplex „Sprache als Musik“ eine ungebrochene Faszination aus, nicht zuletzt weil Sprache das zentrale Medium des menschlichen Bewusstseins, Denkens, Verstehens, Kommunizierens und Handelns ist. In je eigener Weise sind sämtliche Lebensbereiche von Sprache durchdrungen, Familie, Partnerschaft, Gesellschaft, Kunst, Kultur, Religion, Wissenschaft, Wirtschaft … Fast alle Interaktionen zwischen Menschen sind sprachlicher Natur. Die ästhetische Auseinandersetzung mit dem existentiellen Verständigungsmedium berührt folglich immer auch außermusikalische Kontexte. Sie stand nachgerade zwangsläufig im Zentrum des zwanzigsten Jahrhunderts und der politisierten sechziger und siebziger Jahre, die nicht zuletzt das zentrale Ziel hatten, bewusstseinsverändernd auf die Rezi­pienten einzuwirken und letztlich Kunst in Lebenspraxis zu überführen.2

Im Folgenden soll auf eine kleine Auswahl aus der Überfülle neuerer Sprach- und Vokalkompositionen eingegangen werden, die in der Vergangenheit zum Teil bereits untersucht wurden.3 Sie stammen von Kurt Schwitters, Pierre Schaeffer, Luciano Berio, Cathy Berberian, György Ligeti, Dieter Schnebel, Karlheinz Stockhausen, Steve Reich und Alvin Lucier. Mit Ausnahme von Schwitters „Sonate in Urlauten“ (1922–1932) stammen alle gewählten Beispiele aus der für die Komposition von Sprache als Musik bedeutsamen Phase der fünfziger und sechziger Jahre, in der die wichtigsten Ansätze zu zahllosen späteren Bestrebungen entwickelt wurden. Die Werk­auswahl gestattet die Erörterung von drei grundlegenden, eng miteinander zusammenhängenden Aspekten: die Musikalisierung von Sprache durch deren Verfremdung, insbesondere ihre Entsemantisierung, die Arbeit mit vorsprachlichem Lautmaterial und latenter oder expliziter Theatralik und die Musikalität von Fremdsprachen, sowie die Transformation von Sprache in Musik mittels elektronischer Hilfsmittel.

Sonate in Urlauten

In der Poesie spielte der Eigenklang von Sprache und punktuell eingesetzte Onomatopoetik von jeher eine wichtige Rolle. Auch Komponisten haben immer wieder versucht, die klangliche Qualität von Texten in der Art und Weise ihrer Vertonung umzusetzen. Novalis, Hölderlin und Eichendorff erhoben den Lautstand der Wörter zur ebenso sensuellen wie formalen und bedeutungstragenden Konstruktionsschicht von Dichtung. Dabei blieb der Sprachklang jedoch durchgängig an Semantik und Syntax gebunden. Erst die dadaistischen Lautpoeten der zehner und zwanziger Jahre und die nach Nazi-Herrschaft und Zweitem Weltkrieg daran anknüpfenden Vertreter der konkreten Poesie verselbständigten die Lautlichkeit gesprochener Sprache zu einer autonomen Gestaltungsebene, indem sie die Artikulation der Sprachlaute partiell oder komplett von den lexikalischen, semantischen und syntaktischen Strukturen lösten. In Dadaimus, Lettrismus, Ultralettrismus, Lautdichtung, konkreter Poesie, Musique concrète vocale, Poésie sonore, Sound Poetry, Sprechtexten und akustischen Texten diente Sprache nicht mehr als Mittel zum Zweck der Kommunikation oder lautmalerischen Verklanglichung von poetischen Inhalten. Stattdessen wurde der Sprachklang selbst zu Material, Form und Inhalt von Dichtung gemacht.

Einer der ersten, der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts neben Christian Morgenstern, Paul Scheerbart, August Stramm, James Joyce, Tristan Tzara, Hugo Ball, Hans Arp, Raoul Hausmann, Daniil Charms, Vladimir Chlebnikow, Gertrude Stein, Henri Chopin, Isidore Isou und anderen mit reinen Sprachklängen arbeitete, war der Schriftsteller und – wie er sich selbst nannte – „Merz-Künstler“ Kurt Schwitters. Seine „Sonate in Urlauten“ (1922–1932) ist die erste, ausschließlich auf Sprachlauten als eigenständigem Klangmaterial basierende Komposi­tion. Schwitters hat sie mehrfach vor Publikum aufgeführt und zweimal auf Grammophon aufgezeichnet, einmal Mitte der zwanziger Jahre in seiner Heimatstadt Hannover und später vermutlich während seines Exils in England ab 1940 in London.4 Die „Partitur“ besteht aus Buchstaben- und Silbenfolgen, die keine lexikalischen Übereinstimmungen mit der deutschen Sprache haben, aber wie im Deutschen auszusprechen sind. Wie jede Notenschrift birgt der Text – wenn auch ungleich mehr – Leerstellen und Aufführungsvarianten, da genauere Vortragsanweisungen fast völlig fehlen. Abgesehen von einem etwas umfangreicheren Vorwort und einigen verbalen Zusätzen wie „gesungen“, „gekreischt“, „munter“, „langsam“, „kräftig“ et cetera muss der Interpret für seinen Vortrag Rhythmik, Tempo, Dynamik und Artikula­tionsweise selbst aus dem Text herauslesen.5 Hinweise auf die intendierte Sprachmelodie geben sonst lediglich die im Deutschen gebräuchliche Interpunktion, Groß- und Kleinschreibung, Trennung, Vokal- und Konsonantdoppelung, so dass bestimmte Lautfolgen entsprechend gedehnt oder verkürzt, abgesetzt oder verbunden, weich oder scharf, hebend oder senkend zu gestalten sind. Einen wichtigen Hintergrund zum Verständnis und zur Interpretation des Werks bildet der in den zwanziger Jahren noch weit verbreitete, artifizielle Deklamationsstil älterer Rezitatoren, wie beispielsweise Ludwig Wüllner, de­ren expressive Vortragskunst teils extrem vom normalen Sprechton abwich und stark zum Sprechgesang tendierte, wie ihn nicht zuletzt auch Arnold Schönberg in seinen dreimal sieben Melodramen des „Pierrot lunaire“ opus 21 (1912) gestaltete.

Formal besteht die „Ursonate“ aus vier Sätzen, die dem klassischen Modell eines Sonatenzyklus folgen und durch thematische Entsprechungen verbunden sind. Um identische Themen einheitlich zu artikulieren, sind die insgesamt achtzehn Themen durchnummeriert und bei jedem neuerlichen Auftreten entsprechend beziffert. Der Kopfsatz ist ein Rondo mit Einleitung und vier thematisch verschiedenen Couplets; der zweite Satz ist ein halb gesungenes Largo aus lang gedehnten Vokalen; der dritte Satz ist ein konsonantisch dominiertes Scherzo mit vier unterschiedlichen Themen und einem vokalischen ruhigen Trio-Mittelteil; das Finale schließlich ist ein Presto in Sonatenhauptsatzform mit Kadenz und einer Schlusscoda, bestehend aus dem von Z bis B rückwärts gesprochenen Alphabet. Das berühmte Hauptthema des ersten Satzes „fümms bö wö tää zää Uu, pögiff, kwiiee“ leitete Schwitters aus der Anfangszeile eines phonetischen Gedichts seines böhmischen Dichterfreundes Raoul Hausmann ab, das er im Herbst 1921 bei einer Lesung in Prag kennengelernt hatte.

Schwitters nannte sein Stück „Sonate in Urlauten“, weil er es ausschließlich aus phonetischem Lautmaterial ohne semantische Prägung und syntaktische Gesetzmäßigkeit komponierte. Von diesem Grundprinzip weicht er lediglich mit drei Ausnahmen ab: das zweite Thema des Kopfsatzes „Dedesnn nn rrrrrr“ entlehnte er dem Städtenamen Dresden, das Anagram „PRA“ leitete er aus dem Nachnamen des dadaistischen Malers und Schriftstellers Hans Arp ab, und das Motiv „rakete“ des dritten Kopfsatz­themas entspricht dem Wort Rakete ohne bedeutungstragende Dehnung des zweiten Vokals, die das Wort erst verständlich macht. Ansonsten wählte Schwitters einen kleinen charakteristischen Ausschnitt aus dem nahezu unendlichen Bereich möglicher Lautkombina­tionen, dem gegenüber die lexikalisch und grammatisch korrekten Silbenverbindungen der deutschen Sprache nur die Spitze des Eisbergs bilden. Bei der Erfindung seiner Lautfolgen ließ er sich von Abkürzungen auf Firmenschildern und Stellwerkhäuschen anregen, deren Sinn er nicht verstand.6 Die ausgewählten und zu regelrechten The­men kombinierten Sprachklänge verarbeitete er dann mittels gängiger kompositorischer Techniken: Umstellung, Permutation, Substitution, Kombination, Abspaltung, Wiederholung, Reihung, Steigerung et cetera. Dass er dabei klassischen Satz- und Formmodellen folgte, hat zwei widerstreitende Aspekte. Zum einen diente ihm die Berufung auf die altehrwürdige Gattung der Sonate dazu, die Sprachlaute als genuin musikalisches Material zu legitimieren und den Kunstanspruch seiner neuartigen Sprach­komposition zu unterstreichen. Zum anderen führte die Wahl der Gattung und Satztypen zu Inkonsistenzen gegen­über dem Lautmaterial, da die Formen aus einem ganz anderen historisch-stilistischen Bereich stammen und lediglich mit dem Sprachmaterial gefüllt wurden, statt – wie bei Beispielen der konkreten Poesie nach 1945 – aus diesem zu erwachsen.

Die „Sonate in Urlauten“ unterläuft die mit ihrer Gattungsbezeichnung geweckte klassische Erwartungshaltung. Daher wohnt ihr bei allem kompositorischen Ernst auch etwas von dadaistischem „Bürgerschreck“ inne. Zudem verstößt sie eklatant gegen das Hauptprinzip aller Sprachen. Obwohl rein aus sprachlichem Material gebildet, verweigert sie jede Form von sprachlicher Verständigung. Insofern die dadaistische Lautdichtung mit den zentralen Konventionen des existentiellen Kommunika­tionsmediums bricht, indem sie kommunikationslos damit umgeht, wurde die „Ursonate“ vom bürgerlichen Publikum zurecht als radikaler Angriff auf Kultur, Gesellschaft und Zivilisation verstanden. Tatsächlich wurde hier der bereits um 1900 von Hugo von Hofmannsthal und anderen diagnostizierte Sprachzerfall offensichtlich. Im Zuge von Sprachkrise, Sprachkritik und moderner Sprachphilosophie hatte sich die Einsicht in die totale – sowohl synchrone als auch diachrone – Relativität von Sprache durchgesetzt: dass es keine naturgesetzliche Einheit von Zeichen und Bezeichnetem gibt, alle Wörter lediglich willkürliche Kodifizierungen sind und die tausenderlei verschiedenen Sprachen alle auf Konventionen beruhen, die nichts Ewiges, Bleibendes sind, sondern sich im Laufe der Geschichte durch den veränderten Gebrauch der Wörter – die alte Bedeutungen verlieren und neue annehmen – entsprechend wandeln. Seit 1950 schrei­ben unterschiedliche Vertreter der konkreten Poesie sowie der neueren Sprach- und Vokalkomposition die von Schwitters begründete Komposition von Sprache als Musik auf je eigene Weise fort.

Gesten und Sprechblasen

Im Zuge der Materialerweiterungen der sechziger und siebziger Jahre erschlossen Komponisten jenseits konventioneller Spiel- und Klangpraktiken auch geräuschhafte Aktionen als komponierfähiges Material, darunter auch Blas-, Kratz-, Reibe- und Klappergeräusche, die in traditioneller Instrumentalmusik sonst als Störungen oder Fehler tabuisiert waren. In gleicher Weise entdeckten sie in Vokalmusik erweiterte stimmliche Artikula­tionsmöglichkeiten und Lautäußerungen jenseits des Gesangs. In den Blickpunkt gerieten Lautäußerungen, die beim Kunstgesang strikt zu vermeiden sind und zumeist durch bestimmte Körperzustände, Tätigkeiten, Affekte und situationsbezogene Sprech­­weisen hervorgerufen werden. Schon 1947 hatte der Begründer des französischen Lettrismus Isidor Isou das gewöhnliche Alphabet um neunzehn weitere vorsprachliche Lautäußerungen zu einer Enzyklopädie der Artikulationsmöglichkeiten erweitert und die Stimme aus dem Korsett des gewöhnlichen Singens und Sprechens befreit: Ein- und Ausatmen, Zischen, Röcheln, Knurren, Schnappen, Seufzen, Schnarchen, Gurgeln, Wimmern, Husten, Rülpsen, Zungenschnalzen, Lippenfurzen, Rattern, Spucken, Küssen und Pfeifen.7 Bereits Hegel hatte die existentielle Qualität, Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit solcher Laute erkannt: „Schon außerhalb der Kunst ist der Ton als Interjektion, als Schrei des Schmerzes, als Seufzen, Lachen die unmittelbare lebendigste Äußerung von Seelenzuständen und Empfindungen, das Ach und Oh des Gemüts.“ 8

Da diese Lautäußerungen aus alltäglichen Zusammenhängen bekannt sind, werden sie zwangsläufig auch mit diesen Situationen, Aktionen, Körper- und Seelenzuständen in Verbindung gebracht, wenn sie von Komponisten gefordert und von Interpreten künstlich hervorgerufen werden. Musik aus derlei körperhaftem Sprach- und Stimm-Material zeichnet sich durch drei Eigenschaften aus: Erstens hat sie stets einen mehr oder minder stark ausgeprägten theatralischen Charakter; zweitens müssen Ausdruck und Bedeutung von den Interpreten nicht in die Musik hineingelegt werden, da den sprachlichen und insbesondere vorsprachlichen Klängen eine spezifische Expression bereits in hohem Maße zu eigen ist; drittens handelt es sich um Interpretenmusik, da die Stimme als körpereigenes Instrument die psychosomatischen Verfassungen am direktesten widerspiegelt beziehungsweise suggeriert und sich viele Klangaktionen selbst in einem durch graphische und verbale Angaben erweiterten Notationssystem kaum ausreichend objektivieren und präzise fixieren lassen, so dass die Interpreten zahlreiche Entscheidungen subjektiv selber treffen müssen und die Wiedergabe eines Stücks sich von Aufführung zu Aufführung ungleich mehr wandelt als bei herkömmlich notierten Partituren.

Zeit seines Lebens setzte sich Luciano Berio in allen Spielarten mit dem Doppelcharakter von Sprache als Klang und Bedeutung auseinander. Schon der Name des von ihm und Bruno Maderna 1955 am Italienischen Rundfunk RAI in Mailand gegründeten „Studio di Fonologia musicale“ war Programm. Die im Italienischen doppelte Lesart als musikalische Phonetik oder phonetische Musik unterstrich die für Berios gesamtes Schaffen zentrale Einheit von Phonetik, Sprachklang und Musik. Für die amerikanische Sängerin Cathy Berberian, mit der er von 1950 bis 1964 verheiratet war, komponierte Berio seine berühmte „Sequenza III“ für Frauenstimme (1966). Wie viele Sprachkompositionen dieser Zeit ist dieses Stück theatralische Interpretenmusik. Es beruht auf einem kurzen, semantisch-syntaktisch offenen engli­schen Satz des Schweizer Dichters Markus Kutter, dessen neun mobile Satzglieder Berio in einzelne Wörter, Silben und Phoneme zerlegte und nach Belieben umstellte. Text und Sprache werden gewissermaßen atomisiert und wieder neu zusammengesetzt. Zur Fixierung der gewünschten Klangresultate kombinierte Berio die herkömmlich auf Tonhöhen und Dauern zentrierte Resultatnotation mit graphischen Elementen, Intonationskurven, relativen Tonhöhenangaben, Dichte- und Geschwindigkeitsgraden sowie verbalen Aktionsanweisungen und Expressemen wie „urgent“, „dreamy“, „nervous“ et cetera. Die verwendeten Artikulationsweisen klassifizierte er nach sechs Kategorien: 1. herkömmliche Gesangstechnik und Wortsprache; 2. leichte stimmliche Veränderungen wie Summen und Flüstern; 3. vorsprachliche, körperhafte Lautäußerungen wie Lachen, Keuchen, Husten; 4. Körperbewegungen, welche die bereits angeführten Arten der Tongebung beeinflussen, wie etwa Hand vor den Mund halten; 5. ohne Stimme verursachte Geräusche wie Klatschen oder Fingerschnalzen; und schließlich 6. rein körperliche Aktionen und Gesten, Arm und Fußbewegungen, die keinen Einfluss auf die stimmlichen Hervorbringungen haben. Im Zusammenspiel aller Materialebenen entsteht so eine Art imaginäres Melodram.

Berios Werke für Sing- oder Sprechstimmen – etwa ein Viertel seiner über hundertfünfzig Kompositionen – sind kaum denkbar ohne Cathy Berberian. Die Tochter armenischer Einwanderer wurde in Attleboro, Massachusetts, geboren und hatte an der Columbia University in New York Tanz, Schauspiel, Pantomime und Kostümbildnerei sowie Gesang an den Konservatorien in Paris und Mailand studiert, wo sie Berio kennen lernte und 1950 heiratete. Auch die Scheidung 1964 tat ihrer gemeinsamen künstlerischen Arbeit keinen Abbruch. Ihre Experimentierfreudigkeit, Ausstrahlung und ihr Stimmvolumen von über drei Oktaven machten die Sängerin zu einer zentralen Interpretin der neuen Musik der sechziger und siebziger Jahre. Bussotti, Cage, Henze, Maderna, Milhaud, Pousseur und Strawinsky komponierten für sie. Mit schauspielerischem und komödiantischem Talent vermochte sie neue Musik einem breiten Publikum nahe zu bringen. Ihr erstaunlich vielseitiges Repertoire umfasste auch armenische Volkslieder, Salonlieder, Weill- und Beatles-Songs sowie frühbarocke Musik in historischer Aufführungspraxis.

Für sich selbst schrieb Berberian „Stripsody“ (1966) auf Sprechblasen und Zeichnungen aus populären Comics wie „Peanuts“ und „Superman“. Das nur viereinhalb Minuten dauernde Stück ist eine Art Divertimento oder virtuoses Vaudeville. Die Stimmkünstlerin führte es gerne am Schluss von Solo-Recitals oder als Zugabe auf. Wie bei einem imaginären Zeichentrickfilm reiht sie typi­sche Laute und Redeweisen der Comicsprache aneinander, Mickeymousing, Tierlaute sowie onomatopoetische Sprach- und Aktionslaute wie „Peng“, „Zack“, „Doing“ et cetera. Durch abrupte Gesten werden diese Klänge zu kur­zen Szenen mit Mord, Liebe, Hund und Katze, Cowboy und Indianern zusammengefasst. Nicht zuletzt wegen ihrer sich selbst auf den Leib geschriebenen „Stripsody“ verkörperte Cathy Berberian als eine der ersten Künstlerinnen die Einheit von Komponistin und Interpretin.

Bei der Erforschung von Stimme, Körper, Gefühlen, Körpersprachen, Tanz, Theater, Natur- und Tierlauten, ar­chaischen, religiösen und rituellen Stimmpraktiken folg­ten Berberian bis heute zahlreiche weitere, zunächst vor allem US-amerikanische Komponisten-Interpreten-Performerinnen. Viele gingen in dieser weiblichen Domäne über das von Berberian erschlossene Material hinaus: „Feministinnen sprechen von der spezifisch weiblichen Ausdrucksform der ,Hexenmusik‘, die von einer ursprünglichen Einheit von Musik, Theater und Tanz im Matriarchat ausgehen soll.“ 9 Als Stimmkünstlerinnen zu nennen sind etwa Pauline Oliveros, Meredith Monk, Yoko Ono, Laurie Anderson, Diamanda Galas, Joan La Barbara, Amanda Stewart, Shelley Hirsch, Anna Homler, Grace Yoon, Fatima Miranda, Ge-Suk Yeo, Jennifer Walshe, Ute Wassermann, Isabeella Beumer, Paula Claire, Greetje Bij­ma, Bettina Wenzel, Diamanda Galas, Sofia Jernberg und Sainkho Namtchylak.10 Als männliche Stimmartisten zu nennen sind unter anderem Henri Chopin, Bob Cobbing, David Moss, Jaap Blonk, Phil Minton, Chris Mann und Mischa Käser. Zu erwähnen wären in Deutschland außerdem das von Dieter Schnebel 1978 begründete Berliner Musik- und Theaterensemble „Die Maulwerker“ sowie das Kölner Sprachkunsttrio „sprechbohrer“ mit dem Komponisten Harald Muenz, der Pianistin Sigrid Sachse und dem Phonetiker Georg Sachse, das sich der Pflege des Repertoires an Sprachkompositionen von Schwitters bis Hans G Helms ebenso widmet wie der Aufführung neuer und eigener Werke.

Metasprache

Im Zuge des „linguistic turn“ der neueren Kunst-, Literatur- und Sprachwissenschaft richtete sich seit den sechziger Jahren die Aufmerksamkeit zunehmend auf Bilder und Wörter, die nicht mehr selbstverständlich als Zeichen für bestimmte Dinge funktionieren, sondern aus metasprachlicher Perspektive ihren Zeichen- oder Abbildcharakter selbst problematisieren. In gleicher Weise begann Sprache in vielen Kompositionen nicht mehr der Verständigung über außersprachliche Inhalte zu dienen, sondern der Selbstreflexion des Materials und der Mechanismen, Chancen, Schwierigkeiten und Hemmnisse sprachlicher Verständigung. An die Stelle des „Was“ sprachlicher Mitteilung traten das „Wer“, „Wann“, „Wo“ und vor allem das „Womit“ und „Wie“ des Sprechakts. Viele Komponisten verstanden Musik als komponierte Analyse, welche die physikalischen und physiologischen Bedingungen der Hervorbringung von Klang sowie dessen historische Besetzungen untersuchen und erlebbar machen sollte. Viele Sprachkompositionen der vergangenen fünfzig Jahre rücken damit in die Nähe dessen, was man als „kritisches Komponieren“ bezeichnen könnte.11

Metasprachliche Sprachmusik über den Gebrauch von Sprache sind beispielsweise die „Aventures“ für drei Sänger und sieben Instrumentalisten (1962/1963) und die zwei Jahre später entstandenen „Nouvelles Aventures“ (1965) von György Ligeti. Statt Texte zu vertonen, komponierte Ligeti den Text selbst, indem er hundertneunzehn verschiedene Laute mit Hilfe des internationalen phonetischen Alphabets fixierte und mit bestimmten Tonhöhen sowie fast hundert verschiedenen, verbal bezeichneten Ex­pressemen kombinierte. Mit dem aus Englisch, Deutsch, Französisch und Italienisch konglomerierten Lautmaterial bildete er eine nicht-begriffliche Kunstsprache, die zwar komplett ohne Semantik und Syntax auskommt, dafür aber eine Vielzahl typischer Ausdruckscharaktere kennt.12 Statt verbal teilen sich Affekte, Emotionen und Situationen rein intonatorisch mit. Ab Ziffer 30 der „Nouvelles Aventures“ haben die Interpreten jede einzelne Vokalaktion mit „übertrieben-barocker“ Mimik und Gestik sowie in jeweils anderer expressiver Intona­tion vorzutragen: „erstaunt glücklich“, „schroff befehlend“, „erschrocken zurückweichend“, „ironisch entwertend“, „seufzend resigniert“ et cetera. Je nach Verständnis und Persönlichkeit der Interpreten öffnen sich dabei unterschiedliche Realisationsmöglichkeiten. Die verbal be­schriebenen, selbst aber nonverbalen, doch gleichwohl affektiv-semantischen Sprechweisen umfassen das gesamte Spektrum menschlicher Stimmungen, Gefühle, Verhaltensweisen. Im Verbund mit Instrumentalaktionen machen sie die Musik zu einer hochexpressiven „Abenteuergeschichte“ oder imaginären Opernszene ohne bestimmte Handlung. Es entsteht ein absurdes Theater, bei dem Singen nur noch eine beliebige Artikula­tionsart unter anderen ist. Erst nachträglich entwarf Ligeti dazu ein Libretto mit szenischen Tableaus, welche die durch die Musik kommunizierten Affekte und Situationen verdeutlichen sollten. Abgesehen von einer pantomimischen Realisation durch Rolf Scharre an der Württembergischen Staatsoper in Stuttgart 1966, die Ligeti zwar mit geplant, dann aber abgelehnt hatte,13 wurde eine Inszenierung jedoch nie rea­lisiert und von Ligeti später auch eigens untersagt.14

Sprachverwirrung und Zungenreden

Weitergehende Freiheiten räumte Dieter Schnebel den Interpreten ein. Seine „glossolalie“ für Sprecher und In­strumentalisten (1959/1960) besteht zunächst aus neunundzwanzig Seiten verbal und graphisch beschriebener Materialpräparationen, bei denen unter thematischen Über­schriften wie „oppositionen“, „bestätigungen“, „gegenein­ander“, „zustände“ et cetera verschiedene Aspekte und Pa­ra­meter von Sprache benannt und verknüpft sind. Durch Auswahl, Definition und Komposition dieser Material­beschreibungen haben die Interpreten erst einmal das eigentliche Stück auszuarbeiten, damit sie wirklich „ihre Musik spielen und nicht dem Diktat eines anderen folgen“.15 Auf dieser Grundlage komponierte auch Schnebel eine Fassung: „glossolalie 61“ für drei bis vier Sprecher, zwei Klavierspieler, ein oder zwei Schlagzeuger und Dirigenten (1961). Aus jeder der neunundzwanzig Materialpräparationen erarbeitete er zwei bis drei Versionen, die er dann zu einer „viersätzigen Sinfonie“ zusammenstellte.16 In einem Kontinuum aus verständlichen und unverständlichen Artikulationsarten sowie vokalen und instrumentalen Klängen versammelte er Sprachen in allen möglichen Erscheinungs- und Funktionsweisen: Nationalsprachen (auch außereuropäische wie Chinesisch, Arabisch, Japanisch, Hebräisch et cetera), Dialekte, Umgangssprachen, Jargon, Phraseologien, Ideologeme, Literatur, Lyrik, paralinguale Lautäußerungen und typische Sprechweisen bestimmter Charaktere. Statt Mitteilungsmedium wird Sprache selbst zum Gegenstand der Auffüh­rung: „Sprechen ist dann darzustellen, muss sozusagen gespielt werden, wie man sonst ein In­strument spielt.“ 17 So werden beispielsweise auch eine zu Beginn gesprochene Konzerteinführung, einzelne Besetzungs­angaben und Vortragsanweisungen zu sprachlich-lautlichen Bestandteilen des Stücks selbst.

Das internationale und idiomatische Sprachmaterial – bei dessen Beschaffung und Notation Schnebel seinerzeit von Hans G Helms unterstützt worden war – ist in „glossolalie 1961“ jeweils im originalen Schriftbild der Sprachen notiert und bei unbekannten Fremdsprachen zusätzlich in internationaler phonetischer Lautschrift transkribiert. Verschiedene Schrifttypen wie Latina oder Fraktur – letzteres bei altertümlichen Wörtern wie „Hag“, „Fron“, „Schelm“ und anderen – deuten zudem die historische Dimension von Sprache an. Desgleichen betonen historische Notationsformen wie Neumen oder Mensural­notation die Geschichtlichkeit der Musik. Durch Kombination bestimmter Stile und Inhalte mit dafür unpassenden Sprechweisen entstehen sprachliche Chimären und Hybridbildungen: wenn ein infantiles Lallen im Brustton der Überzeugung vorgetragen wird, ein Dankgebet hysterisch gekreischt, ein Liebesgedicht im Feldwebel-Ton gebrüllt oder eine sachliche Bedienungsanleitung erotisch gehaucht wird. Der griechische Titel „glossolalie“ bedeutet soviel wie Zungenreden: ekstatisches, bewusstseinsun­abhängiges Reden in verschiedenen oder keinen realen Sprachen. Das bekannte Pfingstwunder der Apostelgeschichte ereignet sich auch in Schnebels Stück, wo Sprache durch Fremdheit, Über- und Entsemantisierung zwar als Sprache unverständlich, zugleich aber eben dadurch als Musik erlebbar wird.

Die babylonische Sprachverwirrung hatte auch ihr Gutes, insofern sie erstmals die Möglichkeit eröffnete, Sprache als Musik wahrzunehmen. Sprachverwirrung und Musikwerdung von Sprache sind zwei Seiten ein und desselben Ereignisses. Beim Pfingstwunder wurde die Sprach­verwirrung dadurch wieder aufgehoben, dass unter Ausgießung des Heiligen Geistes alle Völker in anderen Zungen zu reden begannen und dennoch alle die Sprachen der anderen verstanden. Eine mögliche Erklärung für dieses Mirakel bietet der Versuch, das Pfingstwunder in Einheit mit dem babylonischen Sündenfall zu denken, der die Wahrnehmung fremder Sprachen als Musik überhaupt erst ermöglichte. Während wir unsere Muttersprache und uns vertraute Fremdsprachen stets primär dem kommunizierten Inhalt nach verstehen, hören wir unbekannte Fremd-, Nonsens- und Phantasiesprachen vor allem intonatorisch, assoziativ und als rhythmisch, melodisch, dynamisch verschieden modulierten Klangfluss. An die Stelle kogniti­ven Verstehens tritt umfassenderes ästhetisches Erleben.

„Glossolalien“ mit Tendenzen zu einem multilingua­len Sprachklangfluss sind auch James Joyces Riesenroman „Finnegan’s Wake“ und Hans G Helms’ daran ange­lehntes Lese- und Hörbuch „Fa:m’ Ahniesgwow“ (1960). Durch Kompilation mehrerer Sprachen und unterschiedlich großer Bedeutungseinheiten von ganzen Satzteilen bis zu einzelnen Silben und Phonemen, entsteht in beiden Fällen eine Art Übersprache mit einem um das Vokabular der Vielzahl verwendeter Sprachen erweiterten und verfeinerten Ausdrucksvermögen. So können Kombinationen und Wortneuschöpfungen aus verschiedenen Sprachen mehrere Bedeutungen, Konnotationen oder Assoziationsfelder vermitteln. Während bei Joyce der Text herkömmlich linear Zeile für Zeile zu lesen ist, arbeitet Helms zusätzlich mit vertikalen Leseachsen, so dass sich wie bei einem Kreuzworträtsel zuweilen gleichzeitig mehrere Leserichtungen und Deutungsperspektiven anbieten. Bei zunehmender Überfrachtung der Texte mit der Semantik mehrerer Sprachen – bei Joyce bis zu drei Dutzend! – führt derlei Übersemantisierung jedoch auch dazu, dass das überkomplex gewordene Sprachkonglomerat nicht mehr semantisch-syntaktisch wahrgenommen wird, sondern sich jedweder Deutung entzieht und analog zum Prozess der Entsemantisierung primär klanglich als unverständliche multilinguale Sprachmusik gehört wird, eben als Glossolalie.

Wieder einen anderen Ansatz verfolgte Schnebel in seiner Werkreihe „Produktionsprozesse“ mit „Maulwerke“ für Artikulationsorgane und Reproduktionsgeräte (1968–1974). Das Stück ist eine auskomponierte Analyse der an der vorsprachlichen und sprachlichen Lautartikulation beteiligten Organe und Körperfunktionen. Die Vokalisten sind in Dunkelheit gehüllt und auf Stühlen, Liegen und Standplätzen bis zur Reglosigkeit fixiert. Als einzige Körperteile werden ihre Artikulationsorgane mit Scheinwerfern ausgeleuchtet, mit Fernsehkameras gefilmt und auf Monitoren vergrößert projiziert sowie mittels Kehlkopf- und Kontaktmikrophonen aufgezeichnet und über Lautsprecher verstärkt wiedergegeben. Lippen, Zunge, Zähne, Gaumen, Rachen, Zäpfchen und deren Aktionen werden regelrecht inszeniert. Im Rahmen mehrerer „Exerzitien“ für Atemführung, Kehlkopftätigkeit, Kiefer-, Lippen- und Zungenbewegungen werden diese Körperteile auf ihre anatomische Bau- und Funktionsweise untersucht und gleichermaßen den Vokalisten wie dem Publikum bewusst gemacht.18 Im Zuge der Hervorbringung des gesamten Lautspektrums vom Kunstgesang über Alltagssprache bis zu reinen Körpergeräuschen werden die Stimm- und Sprechinstrumente gleichsam in ihre physio­logischen Einzelteile zerlegt. Die Autopsie der Artikula­tionsorgane bewirkt zum einen den Zerfall der natürli­chen Artikulationseinheiten von Sprechen oder Singen. Zum anderen bieten die gymnastisch-sezierenden Analysen auch die Möglichkeit zu neuen Synthesen. In den Ab­schnitten „Produktionen“ und „Kommunikativa“ werden die Artikulationswerkzeuge beispielsweise mit ungewöhnlichen Artikulationsarten kombiniert. Wenn dabei die spezifische Artikulationsart eines Organs auf ein anderes übertragen wird, können völlig neue klangliche Resultate entstehen. So gewinnt der scheinbar rein materialistische Ansatz plötzlich eine spekulative, experimentelle Dimension.

Aus ähnlich materialanalytischen Absichten amalgamierte Helmut Lachenmann in „temA“ für Flöte, Stimme (Mezzosopran) und Violoncello (1968) ein stark erweitertes Spektrum an Sprach-, Vokal- und Instrumentalklängen. Gelegentliche sinnvolle gesprochene Sätze dienen hier nicht der Vermittlung außersprachlicher Inhalte, sondern primär als aufführungspraktische Hilfen zur leichteren Artikulation schneller Lautfolgen. Die Sprachlaute werden gleichsam instrumental behandelt, die Instrumentalklänge gleichsam vokal. Die Aktionen der Musiker durchdringen sich wechselseitig, um aneinander – gemäß Lachenmanns Idee einer Musique con­crète instrumentale beziehungsweise Musique concrète vocale – wechselseitig die zu ihrer Entstehung nötigen mechanischen und physiologischen Voraussetzungen freizulegen, wozu nicht zuletzt der im Werktitel verschlüsselte menschliche Atem gehört.

Musique concrète vocale

Seit der Komponist und Radiotechniker Pierre Schaeffer Ende der vierziger Jahre am französischen Rundfunk ORTF in Paris die sogenannte Musique concrète entwickelte, ist Sprache in zahllosen verschiedenen Anwendungs- und Verarbeitungsweisen zum Bestandteil elektroakustischer Musik geworden. Statt Musik „abstrakt“ zu konzipieren, als Partitur zu notieren und dann von Interpreten klanglich realisieren zu lassen, nahm Schaeffer präexistente Klänge von Verkehr, Natur, Haushalt, Fabri­ken, Konzerten et cetera auf, um mit Hilfe radiophoner Verarbeitungsmöglichkeiten direkt mit diesen Klängen zu komponieren. Im Gegensatz zur Interpretenmusik sollte auf diese Weise die Wiedergabe der Musik mit dem Produktions- und Speichermedium von Musik (damals noch der Schallplatte) identisch werden. Schaeffers Anliegen, unmittelbar mit klingender Materie zu arbeiten, schloss von Anfang an Sprech- und Singstimmen als kon­kretes Klangmaterial ein. Frühe Beispiele dafür liefern die „Étude pathétique“ (1948) und die beiden mit seinem Studioassistenten Pierre Henry entwickelten Gemeinschaftsproduktionen „Symphonie pour un homme seul“ (1949/50) und „Orphée 53“ (1953). Letztere ist eine Zwischenform von Live-Aufführung und Hörspiel und wurde als eines der ersten Werke der Musique concrète 1953 bei den Donaueschinger Musiktagen dem internatio­nalen Fachpublikum vorgestellt. In Fortsetzung von Schaeffers und Henrys Ansatz prägte Ende der fünfziger Jahre der französische Dichter und Ultralettrist François Dufrêne den Begriff der „musique concrète vocale“ für genuine Sprach-Tonband-Kompositionen, die keine andere Form der Verschriftlichung in Texten oder Partituren mehr kennen.

Auf ähnliche Weise, wenn auch mit prinzipiell anderem Zugriff auf Sprachklänge, schuf Karlheinz Stockhausen in seiner Tonbandkomposition „Gesang der Jünglinge“ (1955/1956) ein Kontinuum aus verständlich gesungener oder gesprochener Sprache und rein elektronisch generierten Klängen. Er ließ zunächst einen zwölfjährigen Knaben des Kölner Domchors – den späteren Tenor und Direktor der Kölner Musikhochschule Josef Protschka – über einen apokryphen Preishymnus singend-sprechend improvisieren. Die Knabenstimme zeich­nete er auf, um sie anschließend im Studio für elektronische Musik des (N)WDR Köln zu verarbeiten und quasi chorisch zu vervielfachen. Dabei nutzte er serielle Abstufungen von zuvor klassifizierten Klangeigenschaften, Artikulationsweisen, Vokalstrukturen, Graden an Textverständlichkeit und Raumstellen auf dem vierkanaligen Tonband.19 Mit Hilfe elektronischer Gemische schuf er so eine Anamorphose von Sprache an Musik. Als Textgrundlage wählte er die Erzählung von den drei Männern im Feuerofen aus dem dritten Kapitel des alttestamentarischen Buchs Daniel. Der babylonische Tyrann Nebukadnezar lässt die drei Juden Sadrach, Medach und Abed-Nego, die sich weigern, dem goldenen Standbild des Despoten zu huldigen, in einen Feuerofen werfen, worin sie jedoch nicht verbrennen, sondern von einer himmlischen Gestalt bewahrt werden. Die Vermutung liegt nahe, Stockhausen habe – bevor er später politische Einlassungen durch Musik kategorisch ablehnte – mittels dieses Texts eine sprachlose Auseinandersetzung mit dem Holocaust gesucht.

Eine andere Vorgehensweise in ein und demselben elektronischen Studio wählte György Ligeti, als er für sein Tonbandstück „Artikulation“ (1958) „eine Art Quasisprache“ 20 komponierte. Ohne den Einsatz realer Sprech- oder Singstimmen erzeugte er ausschließlich mit elektroni­schen Filtern, Rausch-, Sinuston- und Impulsgeneratoren sprachähnliche Klänge. Nachdem Stockhausen den Versuch, für seinen „Gesang der Jünglinge“ mit Hilfe eines zweiten Tonbandgeräts einen fünften Kanal zu erhalten, hatte aufgeben müssen, da sich die Geräte über einen längeren Zeitraum nicht exakt synchronisieren ließen, entdeckte zehn Jahre später Steve Reich diesen technischen Mangel als eine Erfindung von eigenem Wert, die ganz neue musikalische Möglichkeiten bot. Reich ließ in seinem ersten Tape Piece „It’s Gonna Rain“ (1965) Bandschleifen mit ein und demselben kurzen Satz eines schwarzen Predigers so lange über zwei Tonbandgeräte laufen, bis sich aufgrund geringfügig verschiedener Laufgeschwindigkeiten der Geräte zuerst minimale, dann immer größere Phasenverschiebungen ereigneten und die Worte sich in immer wieder andere Klang- und Rhythmusfolgen auflösten. Das Experiment begründete die repetitive Minimal Music mit – später auch auf herkömmliche Instrumente übertragen – sich wechselseitig überlagernden und gegeneinander verschiebenden Patterns. Zudem eröffnete das Phase Shifting die Erkenntnis, dass es letztlich keine Wiederholung gibt, da jedes scheinbar gleiche Ereignis beim zweiten oder hundertsten Mal anders wahrgenommen wird.

Wieder eine ganz andere Art der Transformation von Sprache in Musik zeigt „I am sitting in a room“ für Stimme auf Tonband (1969) des US-amerikanischen Konzept- und Performance-Künstlers Alvin Lucier. Auch hier werden die elektroakustischen Speicher- und Wiedergabe­mittel als genuin musikalische Produktionsmittel genutzt. Und auch hier dient das Prinzip der Wiederholung als zentrales Transformationsmittel. Im Gegensatz zu Reichs Tonbandstücken ist hier die verändernde Kraft nicht die Zeit, sondern der Raum. Für die Realisation seines Konzeptstücks setzte sich Lucier in einen Raum, um dort eine kurze Beschreibung des Stücks zu geben. Seine verbale Schilderung des Aufbaus und Verlaufs des Stücks wird dann tatsächlich zum Stück selbst, so wie es sich dann während einer Dreiviertelstunde ereignet. Lucier nahm seinen Text auf Tonband auf und ließ ihn anschließend über Lautsprecher wiedergegeben. Diese Lautsprecherwiedergabe zeichnete er dann erneut auf, um sie anschließend ebenfalls wieder über Lautsprecher abzuspielen. Der Vorgang von Aufnahme, Wiedergabe und neuerlicher Aufnahme der Wiedergabe vollzieht sich insgesamt zweiunddreißig Mal. Mit jedem Mal schreibt sich die Art und Weise, wie der Satz im Raum erklingt, in die Aufnahme ein. Die spezifischen Gegebenheiten des Raums, seine Größe, Baumaterialien und sein Inventar und seine damit verbundenen akustischen Eigenschaften, Nachhall, Dämpfungen, Brechungen, Reflexionen und Echos wirken als Resonatoren oder Filter, die bestimmte Frequenzbereiche verstärken oder absorbieren. Durch vielmaliges Playback wird so ein virtueller Raum mit völlig neuen akustischen Eigenschaften hörbar. Luciers individueller Sprachklang mit seinen Frequenzspektren, Geräuschanteilen, unterschiedlichen Dynamikstufen, Pausen und charakteristischen Stotterern artikuliert den Raum.21 Nicht weniger manipulativ wirken die Aufnahme-, Speicher- und Wiedergabegeräte, die ein und denselben Satz nie hundertprozentig eins zu eins aufzeichnen und wiedergeben. Der gesprochene Kommentar wird von Mal zu Mal unkenntlicher, bis er nur noch als reiner Klang im Raum zu hören ist. Die von Lucier zu Beginn gesprochene Handlungsanweisung erweist sich als Self-fulfilling Prophecy, sie wird zum Ergebnis ihrer selbst: Was anfangs Sprache war, erscheint endlich rein klanglich als Musik.

Wie Reichs frühe Tonbandstücke demonstriert Luciers „I am sitting in a room“, dass kein Medium einfach nur neutrales Mittel zum Zweck der Vermittlung von Information ist. Jede mediale Vermittlung prägt sich unweigerlich dem Vermittelten ein. Der amerikanische Medientheoretiker Marshall MacLuhan brachte diese Erkenntnis mit seinem berühmten Diktum „The medium is the message“ auf den Punkt. Dieselbe Einsicht belegen die verschiedensten Entdeckungen der Musikalität des zentralen menschlichen Kommunikationsmediums: der Entdeckung von Sprache als Musik, die bis heute nichts von ihrer Faszinationskraft verloren hat. Da Sprache genauso wie Musik ständig Veränderungen im Zuge des allgemeinen historisch-gesellschaftlichen Wandels unterworfen ist, ist des Entdeckens hier so schnell kein Ende …

1Roland Barthes, Die Lust am Text, aus dem Französischen von Traugott König, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1974, 97–98.

2Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1974, besonders 67 und 108.

3Aus der Fülle an Studien sei zumindest eine kleine Auswahl genannt: Dieter Schnebel, „Sprache – hin und zurück (Neue Chormusik)“ (1966), in: Denkbare Musik. Schriften 1952–1972, herausgegeben von Hans Rudolf Zeller, Köln: DuMont, 1972, 402–415; Über Musik und Sprache. Sieben Versuche zur neueren Vokalmusik (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt Band 14), herausgegeben von Rudolf Stephan, Mainz: Schott, 1974; Werner Klüppelholz, Sprache als Musik. Stu­dien zur Vokalkomposition bei Karlheinz Stockhausen, Hans G Helms, Mauricio Kagel, Dieter Schnebel und ­György Ligeti (1976), Saarbrücken: Pfau, zweite Auflage, 1994; Wilfried Gruhn, Musiksprache – Sprachmusik – Textvertonung. Aspekte des Verhältnisses von Musik, Sprache und Text, Frankfurt am Main: Diesterweg, 1978; Heinz-Klaus Metzger, Rainer Riehn, Günter Peters (Herausgeber), Autoren-Musik. Sprache im Grenzbereich der Künste (= Musik-Konzepte Band 81), München: text + kritik, 1993; Themenheft „Musiksprechen“ der Neuen Zeitschrift für Musik, Heft 5, 1998; Georg Heike, Musiksprache und Sprachmusik. Texte zur Musik 1956–1998 (= Quellentexte zur Musik des 20. Jahrhunderts Band 4, 1), herausgegeben von Stefan Fricke, Saarbrücken: Pfau, 1999; Albrecht Riethmüller (Herausgeber), Sprache und Musik. Perspektiven einer Beziehung (= Spektrum der Musik Band 5), Laaber: ­Laaber, 1999.

4Kurt Schwitters, Ursonate, CD, Mainz: Wergo, 1993.

5Kurt Schwitters, „Meine Sonate in Urlauten“ (1927), in: Derselbe, Anna Blume und andere. Literatur und Grafik, herausgegeben von Joachim Schreck, Köln: DuMont, 1997, 389–393. Auf den Seiten 394–422 findet sich die komplette Ursonate abgedruckt.

6Ebenda, 391.

7Michael Lentz, „Musik? Poesie? Eigentlich … Laut Poesie/Musik nach 1945“, in: Neue Zeitschrift für Musik, Heft 2, 1996, 49.

8Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III (= Werke Band 15), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986, 150.

9Gisela Gronemeyer, „Kommunikationskraft der Gefühle. Zu Meredith Monk und Laurie Anderson“, in: MusikTexte 44, Köln 1992, 16.

10Vergleiche auch: Theda Weber-Lucks, „Aufbrechen – Ergründen – Transformieren. Frauen in der Lautpoesie“, in: Neue Zeitschrift für Musik, Heft 5, 1998, 34–37.

11Rainer Nonnenmann, „Die Sackgasse als Ausweg. Kritisches Komponieren: ein historisches Phänomen?“, in: Musik & Ästhetik, Heft 36, 2005, 37–60.

12Annika Lindemann, „Sprache als Musik? Eine linguistische Untersuchung der ,Aventures‘ von György Ligeti“, in: MusikTexte 106, 15–20.

13Harald Kaufmann, „György Ligetis szenische Abenteuer. Zur Stuttgarter Premiere von „Aventures & Nouvelles Aventures“ (1966), in: Derselbe, Von innen und außen. Schriften über Musik, Musikleben und Ästhetik, herausgegen. von Werner Grünzweig, Hofheim: Wolke, 1993, 108–111.

14György Ligeti, Gesammelte Schriften Band 2 (= Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung Band 10,2), herausgegeben von Monika Lichtenfeld, Mainz, Schott, 2007, 201–225.

15Dieter Schnebel, „glossolalie“ (1959) für Sprecher und Instrumentalisten, Vorabzug des unveröffentlichten Manuskripts, Mainz: Schott, ohne Jahr, 1.

16Dieter Schnebel, „glossolalie 61“ für drei bis vier Sprecher, zwei Klavierspieler, ein oder zwei Schlagzeuger und Dirigenten (1961), Mainz: Schott, 1974, VIII.

17Dieter Schnebel, „glossolalie 61“ (1963), in: Derselbe, Denkbare Musik. Schriften 1952–1972, herausgegeben von Hans Rudolf Zeller, Köln: DuMont, 1972, 384.

18Hierzu und im Folgenden: Dieter Schnebel, Denkbare Musik. Schriften 1952–1972, herausgegeben von Hans Rudolf Zeller, Köln: DuMont, 1972, 458–460.

19Karlheinz Stockhausen, „Musik und Sprache“ (1958), in: Derselbe, Texte. Aufsätze 1952–1962 zur musikalischen Praxis Band 2, herausgegeben von Dieter Schnebel, Köln: DuMont, 1964, 58–68.

20György Ligeti, Gesammelte Schriften, am angegebenen Ort, 78.

21Alvin Lucier, „Jeder Raum hat seine eigene Melodie“. „I am sitting in a room“ (1969), in: Derselbe, Reflexionen. Interviews, Notationen, Texte, herausgegeben von Gisela Gronemeyer und Reinhard Oehlschlägel, Köln: MusikTexte, 1995, 95–103.