MusikTexte 127 – Dezember 2010, 23–24

„Das Schiff führt auch zum Tode“

Zur Situation der seriellen Musik (1958)

von Karel Goeyvaerts

Dieser Text und der folgende Brief an Karlheinz Stockhausen stammen aus dem Buch „Selbstlose Musik“ mit den Schriften, Briefen, Gesprächen und Werknotizen von Goeyvaerts, das von Mark Delaere herausgegeben im November dieses Jahres in der Edition MusikTexte erschienen ist.

Wer über das Wasser gehen und dabei nicht schwimmen will, der baue sich ein Schiff. Es ist erstaunlich festzustellen, wie gut heutzutage jeder sein Schiff baut. Eine fehlerlose Technik hat man sich dazu geschaffen und die Chance, wieder zu sinken, ist fast ausgeschlossen.

Bestimmt ist dieser Sicherheitsdrang unserer Zeit eigen, und es wäre deshalb blödsinnig, ihn negativ zu deuten. Man soll nicht geringschätzen, was essentiell zu einem gehört. Trotzdem ist es auch unsere Zeit, die festgestellt hat, wie eng wir uns beschränken, wenn wir unsere Leistungen rational begründen wollen.

Wir sollen jetzt eindringen in das Wesen der seriellen Musik. Heutzutage hat es keinen Zweck mehr, sich damit auseinanderzusetzen, wie sie gemacht wird oder wie sie sich von Anfang an weiterentwickelt hat. Die serielle Musik wurde schon in Handbüchern und Zeitschriften technisch erklärt. Auch glaube ich nicht, dass ich hier für sie eine Lanze brechen soll. Wer hierher gekommen ist, hat sich wahrscheinlich schon mit serieller Musik beschäftigt oder sich wenigstens für sie interessiert. Es scheint mir aber in diesem Augenblick wesentlich, ihrem Sinn im Schaffen unserer Zeit nachzuspüren. Wir sollen schließlich betrachten, was wir tun, und zwar nicht als Musiker, die die Entwicklung der Musik zur Kenntnis nehmen, sondern als Menschen, die Musik in ihre täglichen Lebensäußerungen einbeziehen.

Das Wesentliche bei allem seriellen Komponieren ist die Definition eines Bereichs klanglicher Ereignisse, eines Bereichs, in dem musikalische Einheiten aufeinander bezogen sind, die in ihrem vollkommenen Zusammenhang eine Gesamtstruktur von unverkennbarer Stabilität bilden. Diese Geschlossenheit finden wir schon embryonal in der Zwölftonreihe (obwohl die frühen Zwölftonwerke manchmal noch den von der Klassik abgeleiteten Formen folgten); wir finden sie erweitert und noch zwingender in der Gruppenbehandlung neuester serieller Musik wieder. Der Kern hat sich entwickelt; das Äußerliche, Überflüssige ist verschwunden. Das Organisationsprinzip hat sich zu riesiger Größe erweitert und ist bereits so stark geworden, dass man es wagen kann, ein begrenztes Maß dem Zufall einzuräumen.

Selbst wenn etwas Wasser in ein gut gebautes Schiff eindringt, sinkt es noch nicht ...

Wagen wir es aber, zu fragen, warum so viel Bedächtigkeit, so viel logische Überzeugungskraft aufgewendet wird, warum der Ablauf der Töne strikt dem rationalen Prinzip untergeordnet sein soll, warum auch die seriellen Komponisten heute mit so viel Nachdruck die dunkle, undefinierbare Kraft ausschließen, die chaotische und unlogische, aber erschütternde Werke hervorgebracht hat? Wird nicht vielmehr versucht, auch diese chaotischen Werke, deren erschütternder Überzeugungskraft nicht zu entkommen ist, in eine raffinierte, aber unzutreffende Analyse zu fassen? Wer nicht schwimmen will, der baue sich ein Schiff. Aber dennoch: Wer auf einem Schiff fährt, kann auch das Wasser nicht leugnen ...

Das Schiff der Isolde hat sie zum Tode geführt. Aber auch, wenn sie das gewusst hätte, hätte sie sich nicht geweigert, es zu besteigen. Auch das philosophische Erfassen der Angst, die aus dem „Sein zum Tode“ resultiert, bewahrt uns nicht davor, diese Angst zu erleben. Aber allmählich haben wir gelernt, zu vergessen, was „gefährliches Leben“ heißt und wirkliche Furcht. Ein schreckliches Abenteuer hat uns wehgetan, so dass wir – in einer in diesem Fall ganz natürlichen Reaktion – uns davor geschützt haben, damit wir so etwas nicht noch einmal erleben. Und wäre es verwunderlich, wenn diejenigen, die es am stärksten erlebt haben, sich am meisten schützten? Irgendetwas kann jetzt passieren; es berührt uns nicht mehr; es ist zum „Phänomen“ geworden, das wir ruhig von unserem Sessel aus beobachten können, wie einen Fernsehbildschirm.

Ein serielles Musikwerk beschützt uns wie ein Netz, dessen Maschen uns offen in die freie Welt schauen lassen. Also behalten wir den Eindruck, gar nichts dabei eingebüßt zu haben. Im Gegenteil, es ist uns jetzt möglich, das Leben in allen seinen Einzelheiten zu erläutern, alles ruhig wie ein „Ding an sich“ zu betrachten, und das ist uns desto besser möglich, als wir uns vom „Erleben“ befreit haben. Übrigens ist der Reiz der Klangphänomene, die eine fruchtbare Einbildungskraft hervorrufen kann, manchmal so entzückend, dass man sich kaum noch des Heimwehs, das das „Nichtsein“ der Seele auslöst, bewusst bleibt.

Wir erleben jetzt eine völlig undramatische Zeit, so undramatisch, dass es fast ungeziemend vorkommt, gerührt zu sein. „Wir warten auf Godot“ und sagen dabei: „Bonjour Tristesse“ und verschließen unsere schändliche Erregung hinter automatischen Stahltüren, wo ihre Explosivität nicht mehr zu fürchten ist. Wäre es nicht verlockend, das „Glasperlenspiel“ zu spielen? Freilich haben wir endlich gelernt, es zu spielen, weil unsere rauhen Erlebnisse keine Gefahr mehr bedeuten, die Perlen zu zerbrechen. Zu viele Perlen wurden in den vorigen Jahrzehnten zerbrochen; haben Berg und der junge Strawinsky, Kokoschka und Stefan George uns nicht gelehrt, auf das Chaos der Stücke zu achten? Es ist auch ganz einnehmend – versuchen Sie es doch bitte gleich mit uns –, das Spiel mitzuspielen und danach wieder befreit nach Hause zu gehen. Es ist doch eines der am meisten beruhigenden Experimente, die man heutzutage erleben kann.

Schon am Anfang habe ich gesagt, dass man nicht geringschätzen soll, was wesentlich zu seiner Zeit gehört. Übrigens – wie es Rilke in seinen „Duineser Elegien“ sagte – „entwöhnt man sich des Irdischen sanft, wie man den Brüsten milde der Mutter entwächst“. Keinem Menschen hat es wehgetan, in diesen Zustand des „Nicht-Erlebens“ zu geraten. Im Gegenteil, das Weh des Erlebens hat den Menschen dahin getrieben, so unmerkbar sanft, dass er sich gar nicht mehr fragt, ob das Erleben immer so schmerzhaft sei ... Die menschliche Seele hat wundersame Möglichkeiten: Sie weiß immer, wohin sie entweichen kann und macht auch das Schlimmste noch erträglich. Aber wenn die Sicherheit allzu verlässlich wird, spürt sie wieder Heimweh nach der Gefahr. Ein zu gut gebautes, komfortables Schiff lässt uns danach sehnen, dass wir schwimmen wollten, fern von allen Küsten, im großen blauen Meer ...

Schon hat man darauf verzichtet, die serielle Musik dem gewöhnlichen Menschen und seiner Spielfreude anzupreisen. Sie ist ihrem Wesen nach exklusiv und mit ihren Aufführungsproblemen ausschließlich dem Berufsmusiker vorbehalten. Meistens wird man es auch für notwendig halten, sie zu erklären – darum bin ich übrigens hier. In diesem Sinne wurden manche Vorwürfe gemacht – als ob dieses Bedürfnis einen Mangel dieser Musik selber verriete.

Beseitigen wir jedes Missverständnis dabei und sagen wir offen, dass eine Musik, die sich rastlos dem menschlichen An-sich-selbst-ausgeliefert-Sein entzogen hat und eine schöne „Klangwelt an sich“ geworden ist, sich nicht mehr auf unmittelbare Kommunikation beruft. Auch hier ist sie ein treues Abbild unserer Zeit, somit authentisch und deshalb entscheidend. Wäre es nicht das allzu starke Erkennen ihres eigenen Bilds, das jede Zeit von ihren eigenen stärksten Erzeugnissen abgenabelt hat? Aber wenn diese Ähnlichkeit erkannt wird, hat dann nicht schon eine neuere Zeit angefangen?

Wenn plötzlich das Bauen reizvollster Klanggebäude nur noch eine Sache logischer Konsequenz und der Einbildungskraft geworden ist, ohne dass man dabei die Aufgabe mitreißender Seelenkraft bewältigen muss, hat es dann noch Sinn, das erstere zutun? Man kann sich leicht vorstellen, dass die Einladung zum Verlassen des schönen, beschützenden Gebäudes, um sich ins Leere, ins Erfasst-Sein zu stürzen, wenig Beifall finden wird. Es ist ein wenig schauderhaft, seine Unzugänglichkeit preiszugeben, das schö­ne Geheimnis, das den Eingeweihten mit sich isoliert, durchdringen zu lassen. Es ist fast ebenso mühsam, wie vom Kind zum Erwachsenen heranzuwachsen.

Es kommt aber immer eine Zeit, in der die Sage entflieht, und wie es dann weiter geht, das merken wir nur, wenn wir mit offenen Augen zuschauen.

Dieses ist kaum ein Vortrag über serielle Musik geworden. Es kommt mir jetzt wieder in den Sinn, dass es laut Programm heißen soll: „Was ist serielle Musik?“ Eine gefährliche Frage fürwahr ... Man versucht, zu definieren, und landet dann plötzlich beim „Finis“, da, wo die Sache begrenzt ist. Trotzdem glaube ich fest, dass die serielle Musik nicht allein der wahrste musikalische Ausdruck unserer Zeit ist, sondern auch, dass sie als ein schönes Zeugnis in der Zukunft klingen wird. Das werden die hier aufgeführten Werke bestimmt zeigen. Wenn Sie aber schwimmen können, werfen Sie sich lieber gleich ins Wasser: Das Schiff führt auch zum Tode ...

Einführungsreferat zum Festival/Kongress über serielle Musik, München, 22. September 1958. Bisher unveröffentlichtes Manuskript.