MusikTexte 127 – Dezember 2010, 84–86

Impfstoff mit Risiken und Nebenwirkungen

Johannes Kreidlers „Musiktheater der Medien“ in Gelsenkirchen

von Rainer Nonnenmann

Er will viel, sehr viel … zu viel. „FEEDS. Hören TV“ nimmt sich nichts Geringeres vor als das „Hören in der Gesellschaft von Heute“, inmitten digitaler Generierungs-, Speicher- und Wiedergabetechnologien und den von Sampling, iPod, mp3-Player, Internet, Google, Open Source, Wikipedia, YouTube, Facebook et cetera geöffneten neuen telegenen Lebenswelten. Ziel der Talkshow in fünf Folgen ist: „Wir füttern das Publikum mit Informationen über das Hören“.

Die Bühne des Kleinen Hauses am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen dient als Fernsehstudio, mit Glittervorhang, Diskokugel, Sitzgruppe und Jazzcombo in weißen Smokings. Und hier kommt auch schon der Showmaster schwungvoll ins Rampenlicht gestürmt: „Mein Name ist Johannes Kreidler, ich bin kein Schauspieler, sondern Hörarbeiter, genau wie Sie, verehrte Damen und Herren, denn Hören ist Arbeit.“ Es ist niemand anderes als der Komponist selbst, in Bauarbeiter-Leuchtweste und mit zum sozialistischen Brudergruß empor gereckter Faust. Kreidler versteht sich als Konzept- und Aktionskünstler. Durchaus im Sinn avant­gardistischer Materialreflexion schreibt er nicht einfach Musik, sondern macht – wie er es selbst nennt – „Musik mit Musik“. Sein am 18. September im Rahmen des Fonds Experimentelles Musiktheater NRW mit Unterstützung der Kunsthochschule für Medien Köln uraufgeführtes „Musiktheater der Medien“ ist eine Mixtur aus Musiktheater, Fernsehdoku und Aufklärungssendung. Gegenstand des „Umerziehungslagers“ – so Kreidlers eigene Bezeichnung – sind die Bedingungen der Produktion, Distribution und Rezeption von Musik im Digital-Zeitalter. Manch damit angeschnittenes Thema wurde zwar schon früher diskutiert – immerhin gibt es seit hundertdreißig Jahren moderne technische Musikreproduktionsverfahren –, doch haben Computer und Internet die Musik und das Musikhören während der vergangenen zwanzig Jahre derart gravierend verändert, dass dies auch eine künstlerische Auseinandersetzung fordert. Eben dies ist Kreidlers Absicht.

Mit „FEEDS. Hören TV“ hat er sich eine One-Man-Personality-Show auf den Leib geschnitten. Von Kreidler stammen Idee, Musik und Inszenierung. Er selbst hat auch – zusammen mit Ulla Theissen – Regie geführt und seiner Autorin und Freundin Leowee Polyester weite Teile des Textbuchs diktiert. Dazu übernimmt er die Rolle des Showmasters, mit der er sich zugleich als Komponist und Person Johannes Kreidler zum Objekt des Geschehens macht. Sein Bekenntnis „Ich bin kein Schauspieler“ zielt auf Realität und entschuldigt zugleich die Unzulänglichkeit der von ihm angenommenen Moderatorenrolle, die eigentlich keine sein soll. Kreidler will er selbst sein, um modellhaft an sich die Chancen und Schwierigkeiten des Komponierens im Zeitalter des Web 2.0 zu demonstrieren. Der Selbst­versuch kollidiert aber mit dem gespielten Talk. Das Gesprochene klingt auswendig gelernt und an die Stelle von Authentizität, Spontaneität und ehrlicher Empörung treten abgespulte Textmassen, schlecht gemimte Aufgebrachtheit und stilisiertes Showbusiness des dilettierenden Entertainers.

„Abhören“

Doch verblasst der Eindruck des Unausgegorenen schnell angesichts der beeindruckenden Masse an Informationen, Wor­ten, Bildern, Klängen, die Kreidler auf das Publikum einprasseln lässt. Den Anfang macht eine Kamerafahrt in den Gehörgang eines Probanden und das Zer­schlagen einer großen Papierfolie mit einem Spielzeugschwert: Die Folie soll ein Trommelfell – damit gleichbedeutend auch Hören und Musik – symbolisieren, auf das eben jener Anschlag verübt wird, den einst Buñuel und Dalí zu Beginn ihres Films „Un chien andalou“ mit dem Zerschneiden eines Augapfels gegen das Kino und das Sehen gerichtet hatten. In der sich anschließenden ersten Folge der Show „Abhören“ lässt Kreidler einen Stimmpsychologen als Studiogast auftreten, der die physiologischen und idiomatischen Eigenheiten einer Rede des früheren Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble analysiert, die Showmaster Kreidler als Symptome für politische Untauglichkeit deutet.

„Klang und das Unbewusste“

Zwischen Klamauk und politischem Kabarett changiert auch Folge 2 „Klang und das Unbewusste“, in der eine Hörpsychologin und Kanzlerberaterin Tricks verrät, mit denen sich eine Ansprache von Angela Merkel akustisch so manipulieren lässt, dass sie Vertrauen erweckt und ein Millionenpublikum erreicht. Die gestylte Sprachmelodie überträgt Satiriker Kreidler dann auf das Ensemble zu einer „perfekt zusammengesetzten Propagandamusik“, denn: „Das Ziel muss sein, dass Sie heute Abend alle CDU wählen“.

„Liebe, Sex und Technik“

Folge 3 „Liebe, Sex und Technik“ wirft einen theatralischen Scheinwerferspot auf einen winzigen USB-Stick für 6,90 Euro, dessen Speicherkapazität von fünfunddreißigtausend Stunden Musik sämtliche Liebeslieder der Welt aufzunehmen vermag. Später wird das Vorspiel zu Wagners „Tristan und Isolde“ nach dem Grundriss des Dortmunder Bordells „Lady­like“ rekomponiert und hat sich die Sopranistin wie beim Karaoke schnell wechselnden Musikstilen anzupassen, gemäß dem Motto „Isolde muss mit jedem ins Bett“. Anschließend wird sie in Dieter-Bohlen-Manier mit schäbigsten Fäkal-Kommentaren niedergemacht und muss Tristan zu Heldentod-Musik aus Computer­spielen Dutzend Male sterben. Was folgt sind Slapsticks: Einer in schwarzes Latex gehüllten Pornoproduzentin raunt Kreidler verschwörerisch kalauernd ein „Danke für die nackten Tatsachen“ zu. Dann versucht er sich als Rap-Sänger an einer geifernden Hipp-Hopp-Hasspredigt, und nun dringt aus Lautsprechern Swingmusik der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts, zu der die engagiert aufspielenden Musiker der Neuen Philharmonie Westfalen unter Leitung von Askan Geisler versprengte Töne beisteuern.

Viele Themen werden nicht systematisch entfaltet, sondern folgen diskontinuierlich in schnell wechselnden Szenen, deren Zusammenhang sich gelegentlich – wenn überhaupt – erst später herstellt. Manche Episoden lassen keinen sinnvollen Argumentationsstrang erkennen. Sie bleiben rein unterhaltsam, teils subversiv, teils vordergründig ulkig. Hier wird die Partitur des Dritten Streichquartetts „Im Innersten“ von Wolfgang Rihm zerrissen und dazu ein Photo des Komponisten mit verzweiflungsvoll gerauften Haaren gezeigt. Dort singt die Sopranistin „Isoldes Liebestod“ und läuft ein Striptease im Fernseher, der ihren Unterleib gleichsam als Nacktscanner verdeckt. Ein anderes Mal führt Kreidler mit Operationshandschuhen ein Mikrophon rektal in einen Posaunentrichter, um avantgardistische Klangsondierung zu kolportieren. An unappetitlicher Schwelle von Hape Kerkelings neue Musik-Verhohnepipelung „Hurz“ zu Furz verliest Kreidler den Wikipedia-Artikel über einen Pariser Kunstfurzer der Belle Epoche und lässt eine Vio­linsonate von Beethoven – „die alte Sau“ – auf Billig-Import-Instrumenten spielen. Dazu rasiert er mit einer übergroßen Heckenschere Topfpflanzen, die zuvor als Geißelhärchen in der Schnecke des Innenohrs vorgestellt wurden, um an ihnen mit einem Föhn zu verdeutlichen, „was wir Komponisten eigentlich machen“: heiße Luft bewegen.

Das von Kreidler vielerorts und nun auch im gemeinsam mit Harry Lehmann und Claus-Steffen Mahnkopf geschriebenen Buch „Musik, Ästhetik, Digitalisierung“ (Hofheim 2010) wiederholte Credo lautet: „Es erscheint mir weitaus kreativer, mit Bestehendem zu arbeiten, sprich: sich mit der Welt auseinanderzusetzen, als sich etwas vermeintlich Ureigenes aus den Fingern zu saugen“. Solch Vergleich degradiert handstreichartig alle andere Musik zu nutzloser Schnullerei in wattierten Sondersphären. Und in freier Anverwandlung von Karl Marx tönt der lustig austeilende Springinsfeld munter weiter: „Die Musik wird immer nur verschieden interpretiert, es käme aber darauf an, sie zu verändern!“ Kreidlers Ablehnung des Etablierten und sein lustvoll-hektischer Eifer wollen und sollen ungerecht und provokant sein. Mit selbstberauschter Zukunftsgewissheit nimmt er sich das Jugendrecht auf anarchische Unbedarftheit, das die alternde neue Musik gerne auch einem Dreißigjährigen noch zugesteht. Zugleich arbeitet Kreidler sehr kalkuliert. Mit scharfem Intellekt legt er seine kulturpolitisch-künstlerischen Hebelinstrumente an eingefahrene Denkarten, um verfestigte Diskurslinien aufzusprengen. Auf diese Weise hat er die Debatte über die musikalischen Auswirkungen der Digital- und Internettechnologie in einer Weise belebt, wie kaum sonst jemand in jüngster Zeit. (Vergleiche dazu die Beiträge zur „Digitalen Revolution“ in MusikTexte 124, 125 und 126). Allein das ist schon ein Verdienst. Kreidler universalisiert die alten Ideen von Rekomposition, Remix und wendet die interpretatorischen Freiheiten des Regietheaters konsequent auf Musik an. Indem er dabei auch eigenen früheren Projekten und Aktionen verwandelte Neuauflagen bereitet, zieht er in seinem Musiktheater – ungewöhnlich für seine jungen Jahre – bereits eine Art Bilanz seines bisherigen Schaffens.

Das Textbuch – das „verbale Design“ – ist proklamativ, manifestatiös, polemisch und überspitzt parteiisch. Dennoch bleibt vieles unentschieden und beliebig, vor allem wenn mit Ironie und Paradoxa hantiert oder rhetorisch mit nichtssagenden Vieldeutigkeiten jongliert wird. Symptomatisch dafür ist die Schlusslosung „Hiermit ist die Postmoderne beendet. Zurück zu den Griechen!“ Revolutionärer Rück- und restaurativer Vorblick heben sich hier gegenseitig auf. Was denn nun? An anderer Stelle wird Adornos Auffassung von Musik als begriffslose Erkenntnis im Vorbeigehen abgewatscht, wenn Kreidler das Hegel-Motto von dessen „Philosophie der neuen Musik“ zitiert, um dann aber nicht auf dessen Kernthese von Kunst als „Entfaltung der Wahrheit“ einzugehen, sondern in ganz anderer Richtung über hörpsychologische Manipulationsstrategien zu sprechen, als wäre kein weiterer Gedanke mehr auf Adorno zu verschwenden. Solche und andere perfide Clownerien sind gewollt ignorant und hintersinnig, bleiben aber pseudoradikal, weil sie Probleme nur anschneiden und Fragen offen lassen, statt ihnen an die Wurzel zu gehen.

„Musikentwertung“

In Folge 4 „Musikentwertung“ lässt Kreidler einen Vertreter des Frauenhofer-Instituts auftreten, das über fünfzehn Jahre ein Datenreduktionsverfahren entwickelte, mit dem heute der MP3-Player funktioniert. Der Fachmann schwärmt von neuen Geschäftsmodellen, leistungsfähigeren Komprimierungs- und Kombinationsverfahren von Musik, um sich schließlich mit der rhetorischen Frage zu verabschieden „Ob man euch Komponisten dann noch braucht?“ Per Video erscheinen dazu mit Klingeltönen versehene Statistiken und Aktienkurse über sinkende CD-Verkäufe, Umsatzeinbrüche der Deutschen Grammophon sowie rapide Anstiege von Rohling-Verkäufen und Downloads. Abgespielt werden auch die Cover-Version des Pink Floyd-Songs „The Wall“ durch eine mexikanische Zupfgruppe, die Rezitation des von Schönberg im „Pierrot Lunaire“ vertonten Gedichts „Kranker Mond“ durch die Navigationsgerätestimme „Steffi“ sowie Kostproben einer Software, die Musik von Bach und Haydn per Knopfdruck Stilmutationen unterzieht. Ja, ja, all das gibt es und noch viel mehr.

„Neues Musiktheater“

In der letzten Folge 5 „Neues Musiktheater“ soll sich das Geschehen selbstreflexiv beleuchten, kommt aber über eine Auflistung der für diese Produktion verwendeten Kosten von hundertzwanzigtausend Euro nicht hinaus. Stattdessen werden nach der Gleichung ein Euro gleich ein Ton die durchschnittlichen Monatseinkommen eines Inders und des Deutsche Bank-Chefs Josef Ackermann verrechnet. Vier kurzen Akkorden folgt erwartungsgemäß ein Endlosgeklingel, dessen stupides Akkord-Gestotter und Tremolieren endlich mit dem Hinweis abbricht, für 1,1 Millionen Töne bräuchte ein siebenköpfiges Ensemble bei schnellem Spieltempo etwa zweiundzwanzig Stunden. Trägt eine solch primitive Gleichsetzung etwas zum Verständnis, gar zur Veränderung der herrschenden ökonomischen Missverhältnisse bei? Erhellender dagegen geriet Kreidlers Spendenaktion für das Deutsche Rote Kreuz mittels Abspielen des Kriegs- und Hetzliedes „Bomben auf Engeland“ des 2002 verstorbenen Schlager- und „Lili Marleen“-Komponisten Nor­bert Schulze, der die GEMA-Tantiemen seiner Werke der Jahre 1933 bis 1945 dem DRK vererbt hat. Weniges in Kreidlers bunter Materialsammlung erschütterte so, wie der terzenselig süße Männerchorschmelz zu den nationalsozialistischen Großmachts-Brachialworten „Bomben, Bomben“. Brillant geriet auch die Parodie auf die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft mittels Aufzählung sämtlicher „Metal“-Untersparten von Black Metal und Dark Metal über Death und Melodic Death Metal zu Florida Death, Doom, Epic Doom, Funeral Doom, Symphonic Electric, Japanese Power, Extreme, Gothic, Stoner, Industrial …. Nacheinander klingen alle Stile kurz an, um sich zu brüllendem Einheitsbrei zu vermengen, während ein Tänzer die hörend kaum zu unterscheidenden Etiketten wenigstens sichtbar zu machen sucht.

Kreidler präsentiert fast zwei Stunden lang seine Ergebnisse fleißiger Internetrecherchen. Dennoch bleiben es nur Nadelstichproben, die zu sehr in die Breite gehen, als dass die Akupunktur heilsam wirken könnte. Ursprünglich sollte es noch mehr Szenen geben, darunter Anverwandlungen von Ansätzen Cages und Luciers sowie einen Vortrag des Philosophen Harry Lehmann, der dem Publikum das Erlebte rückwirkend im Komplex der Digitalen Revolution exegetisiert hätte. Aber auch die Uraufführung riss noch zu viele Aspekte an. Sie wirkte überfrachtet und blieb auf genau der „Oberfläche“, die sich Kreidler für sein Musiktheater mit dem nicht weiter in Frage gestellten Showformat gegeben hat. Das Projekt erliegt der Eigendynamik des Internet. Surfen ist schließlich eine Kunstfertigkeit auf bewegter Oberfläche und kein Eintauchen in eine zu vertiefende Materie. Das Geschehen kapituliert vor dem Download-Overkill an grob gefiltertem Informa­tionswust, die Form versagt vor der Fülle des Stoffs. The rest is talk, talk, talk. So entsteht zwar ein adäquates Abbild der Online-Verfügbarkeit jedweder Information aus dem Cyberspace, nicht aber ästhetische Konzentration und kritische Distanz zu all den zerstreuenden Links und Hyperlinks.

Der von Kreidler thematisierte Gärungsprozess der Bits und Bytes erlaubt kein voreiliges Fazit und darf auch keine schnelle Reife künstlerischer Auseinandersetzungen damit erwarten lassen. Die von ihm in Essays, Konzeptstücken und nun auch in einem Musiktheaterwerk thematisierten Möglichkeiten und Nöte der Musik zu Zeiten des Internets sind richtig und wichtig. Computer und Internet haben längst das Ausmaß breitenwirksamer Massenphänomene angenommen, auf die auch kompositorisch zu reagieren ist. Doch ist „FEEDS“ dafür der richtige Schauplatz und die geeignete Form? Zwei Stunden Trash und Geklingel machen noch kein Musiktheater. Und der Ausgang aus medialer Unmündigkeit ist kein Privileg für Besucher von Avantgardeveranstaltungen. Vielmehr gehört Medienkritik dort hin, wo Bohlen, Schmidt, Pocher, Kerkeling und talkende Konsorten täglich ihre Spielchen vor Abertausenden treiben. Tatsächlich ist Kreidler in diese Richtung bereits unterwegs. Die drei Gelsenkirchener Aufführungen seines „Musiktheaters der Medien“ wurden von Fernsehkameras aufgezeichnet und zeitgleich auf vier Portalen live ins Internet „gestreamt“ (www.internetoper.de, www.khm.de, www.nrw-kultur.de und www.mypott.de). So schließt sich der Kreis. Was Kreidler dem Ozean der unbegrenzten Möglichkeiten extrahierte, schickt er als systemkritisch verdichteten Impfstoff wieder in diesen zurück. Das allmächtige Netz hat’s gegeben … und wieder genommen. Zu Risiken und Nebenwirkungen befragen Sie Ihren Computer oder den Komponisten.