MusikTexte 128 – Februar 2011, 82–83

Kommunikatives Rauschen

„Der singende Mensch“ beim Festival Eclat in Stuttgart

von Rainer Nonnenmann

Musiktheaterprojekte sind ein Markenzeichen des Stuttgarter Festivals für neue Musik Eclat. Kaum sonstwo widmet man sich so beharrlich unkonventionellen Konzepten zur Verbindung von Instrumenten, Sängern, Schauspielern, Text, Szene und Video. Zu danken ist dies der Theateraffinität des langjährigen künstlerischen Leiters Hans-Peter Jahn und seiner neugierigen Suche nach einer über ver­schiedene Kanäle und Sinne sich als umfassendes Wahrnehmungs-, Gefühls- und Reflexionserlebnis mitteilenden neu­­en Musik. Belohnt wird dieses mal mehr oder minder experimentelle und unterschiedlich erfolgreiche Bemühen mit regem Publikumsinteresse. So durfte sich das Festival an drei von vier Tagen über ausverkaufte Veranstaltungen im Stuttgarter Theaterhaus freuen.

Für den diesjährigen Fokus „Der singende Mensch“ konfrontierte Jahn die beauftragten Komponisten gleich im ersten Projekt mit einer besonders heterogenen Besetzungsvorgabe. Die Musikthea­ter-Collage „geblendet“ sah eine Versuchsanordnung aus Countertenor, Knabenstimme, Schauspieler und Streichquartett vor. Fünf Komponisten sollten unabhängig voneinander ein „Bild“ für diese Bestandsstücke aus Oper, Theater, Kirchen- und Kammermusik komponieren. Ausgangspunkt dieses Reigens bildete Countertenor Daniel Gloger. Zu Beginn befragte Michael Beil die beteiligten Darstellungsebenen Quartett, Elektronik, Gesang, Sprechtext, Licht und Szene durch Ein-, Aus- und Überblendungen bezie­hungs­weise Auf- und Abtritte auf ihre mediale Eigenart. Zugleich verband er sie durch Analogiebildungen, indem er beispielsweise an Stelle der wie Schachfiguren bewegten Personen auch Lautsprechertürme treten ließ, denen die Stimme von James Joyce sowie Wellness-Sounds und Klangschnipsel der Operntradition entströmten, kenntlich gemacht durch Knister- und Knacklaute als reproduziertem Material. Im zweiten Bild degradierte Mischa Käser das Dio­tima-Quartett zur bloß kommentierenden Begleitung des im Vordergrund brillierenden Solisten, der als virtuoser Stimmenimitator in rasend schnellen Charakterwechseln gleich ein halbes Dutzend Comicfiguren in imaginäre Gespräche verstrickte. Manuel Hidalgo ließ dagegen weitgehend getrennt singen, spielen, sprechen, was die Bestandteile für sich genommen gut zur Geltung kommen ließ, mit Musikthea­ter jedoch ebenso wenig zu tun hatte wie die zuvor eingeschobene Aufführung von Anton Weberns Sechs Bagatellen für Streichquartett. Schließlich verebbte das Geschehen in einem geräuschhaften Epilog von Filippo Perocco. Auf den angekündigten Beitrag von Hans Jürgen Gerung wurde kurzfristig verzichtet, obwohl dieser von Gloger eigens gewünscht und bereits vor dem Gesamtkonzept fertig vorlag. Regisseur Thierry Bruehl sah sich offenbar außer Stande, das Stück in den Ablauf der übrigen Bilder zu integrieren. Sein Versuch, die Einzelbilder durch einen ihnen fremden roten Faden zu verbinden, kollidierte zudem mit dem Montagekonzept des Gesamtprojekts. Bruehl ließ Christian Brückner viele kleine Erzählungen und Anekdoten von Thomas Bernhard rezitieren, deren stupide Reihung ermüdete und noch die letzten musiktheatralischen Funken des bunten Obstkuchens unter epischer Glasur erstickte.

Mehr dramatische Qualität entfalteten einige primär konzertante Werke. So schickte Flo Menezes das zweiunddreißigstimmige SWR Vokalensemble in wechselnden Verhältnissen von Soli und Tutti, Individuum und Kollektiv, Live-Klang und elektronischen Zuspielungen über Podium und Zuschauertribüne. Die mit Soli hervortretenden Choristen stellten dabei einmal mehr das immense sängerische Potential unter Beweis, das in jedem einzelnen Mitglied dieser Ausnahmeformation steckt. Vokales Theater bot auch „Still“ von Markus Hechtle, das die Neuen Vocalsolisten nach der Wittener Uraufführung 2003 erneut auflegten. Zur Rezitation von Giacomo Leopardis Gedicht „Das Unendliche“ singt ein am Tisch sitzendes Männerquartett samt Akkordeonist eine bedrückend auf der Stelle tretende Hausmusik aus wenigen wiederholten Motiven und Akkorden. Zusätzlich verzerrt wurde diese gespenstische Biedermeierszene leider durch den nach den Anstrengungen des Vortags völlig indisponierten Daniel Gloger. Als Publikumsliebling erwies sich „The Neue Vocalsolisten Stuttgart Notebook“ von Lars Petter Hagen. Statt für das Ensemble ein fertiges Stück zu komponieren, betätigte sich der Norweger im Vorfeld mehr als Gesprächspartner, Gruppentherapeut oder Supervisor der Sänger. Im Konzert ließ er sie dann in einem engen Kreis die Arme umeinander legen, um leise Peter Gabriels Popsong „Don’t give up“ aus einem Ghettoblaster mitzusummen. Nacheinander traten die Sänger dann aus dem Mannschaftskreis heraus, um sich und dem Publikum Rechenschaft über ihre stimmlichen Problemzonen abzulegen und wieder in den verständnisvoll tröstenden Zirkel zurückzukehren. Zu guter Letzt intonierte man gemeinsam ein argentinisches Volkslied auf den als Kind gelernten und nur noch dilettantisch beherrschten Instrumenten: die Profis einmal ganz menschlich imperfekt.

Der Pflege selten gespielten Repertoires diente die konzertante Aufführung von Schönbergs „Die glückliche Hand“ durch Dietrich Henschel und das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR unter Leitung von Peter Rundel. Als Vorspann dazu zeigte Daniel Kötter sein Videoprojekt „Arbeit und Freizeit 3“. Unter demselben Reihentitel hatte der Videokünstler bereits bei Eclat 2009 „Realtime-Ausschnitte“ aus dem Leben von acht Stipendiaten der Akademie Schloss Solitude in einer Achtkanal-Videoinstallation präsentiert. Im letzten Projekt seiner Trilogie versammelte er nun nach demselben Prinzip Stellungnahmen von zwölf Kulturschaffenden zur heutigen Stellung der Kunst in der Gesellschaft, die er auf zwölf Videoschirmen über der fertig bestuhlten Orchesterbühne wiedergab. Interviewt wurden an ihren jeweiligen Arbeitsplätzen Intendanten, Kuratoren, Kunsttheoretiker und Wissenschaftler, darunter der Direktor des Saarländischen Staatstheaters Berthold Schneider, die Musikwissenschaftlerin Helga de la Motte, der Direktor der Akademie Schloss Solitude Jean-Baptiste Joly und der Philosoph Harry Lehmann. Nach einer suggestiven Klangcollage aus dem Vorspiel und Hämmern der Nibelungen von Wagners „Rheingold“ lieferten die Befragten sowohl pointierte Feststellungen über die gegenwärtigen künstlerischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen als auch – so der gleichfalls involvierte Theaterkritiker Peter Laudenbach – reichlich „kommunikatives Rauschen“. Kötter ließ seine Gesprächspartner auch in Telefone sprechen und hören, um zwischen den Videos Kommunikationslinien zu inszenieren, obwohl sich die Personen tatsächlich nie gesprochen haben. Entlarvt so das artifiziell aufbereitete Dokumentarmaterial den Kunstdialog als Pseudodiskurs? Da sich die Interviewten auch zu Schönberg äußerten, entstand zugleich eine bruchstückhafte Einführung in dessen Künstler-Monodram von 1913. Dessen anschließende Aufführung wurde von Videoprojektionen derselben bereits zuvor gezeigten zwölf Gesichter begleitet, die jetzt im Publikum sitzend der Schönberg-Aufführung beiwohnten und dabei live gefilmt wurden. So sinnvoll es ist, die kritische Selbstbefragung von Kunst und Kulturbetrieb in der Kunst selbst zu verankern, so wenig Sinn machte es, auf den Videos anderen Menschen beim Zuhören zusehen zu sollen, statt selber zu hören.

Im Eclat-Eröffnungskonzert wurden die Träger des Kompositionspreises der Landeshauptstadt Stuttgart 2010 vorgestellt. Aus hundertfünfundsechzig eingesandten Partituren von fünfundsechzig Komponisten hatte die Jury aus Eleonore Büning, Rebecca Saunders, Andreas Doh­men, Winrich Hopp, Hans-Peter Jahn, Caspar Johannes Walter und Jörg Widmann zwei Werke ausgewählt: „Rituel Bizarre“ von Ansgar Beste und „Erratischer Block“ von Leopold Hurt. Der 1981 in Malmö geborene Beste – Fran­cesconi-, Hölszky-, Rihm- und Lachenmann-Schüler – präparierte ein Streichorchester mit Stäbchen, Büroklammern, Kämmen, Strick- und Haarnadeln, deren Vibrationen sich beim Anzupfen als polyphones Ticken und metallisches Rasseln auf die Saiten übertrugen. In diese repetitive Grundstruktur mischten sich zarte Flageoletts und Quietschtöne, die im Verbund mit dem bildhaften Werktitel das Klangbild einer fernen Techno-Party suggerierten, die wild gewordene Heinzelmännchen irgendwo in dunklen Lüftungsschächten zelebrieren. Der 1979 in Regensburg geborene Hurt – Stahnke-Schüler und studierter Zitherspieler – gestaltete hör- und sichtbare Gleichzeitigkeiten des Ungleichzeitigen. Mit mikrotonal gestimmter Zither, alpenländischer Fiedel-Musik und vollem Almglocken-Satz beschwor er eine auratische Gegenwelt zur neuen Musik. Zugleich nutzte er die besondere Besetzung als Brücke zu CD-Zuspielungen von Ländlern und Jodlern, deren starkes Rauschen das Material eindeutig als medial vermittelt auswies. So führten die verblassten Erinnerungsstücke nicht einfach in längst vergangene Tage seligen Landlebens zurück, sondern blieben zugleich der Gegenwart verhaftet, wo sie auf die fremden Welten von Saxophon, japanischem Reibegong und Elek­tronik prallten. Wie im vergangenen Jahr das Mercedes-Benz-Museum bot auch der lange, niedrige Vortragssaal des Kunstmuseums Stuttgart nur unzulängliche akustische Bedingungen. Dass das Konzert komplett verstärkt werden musste, führte zu Diffusitäten zwischen Ensemble und Lautsprechern.

Für den Festivalabschluss mit dem RSO Stuttgart wollte Mike Svoboda ein „effektvolles und zugleich gutes“ Posaunenkonzert schreiben. Heraus kam indes ein plattes Show-Piece, das Svobodas Stärken als Solist in dem Maße glänzen ließ wie es sei­ne Schwächen als Komponist schonungslos bloßlegte. Der Jazz-gewürzte So­lopart wurde dominiert von wilden Atta­cken, fläzenden Pedaltönen sowie Atem-, Schmatz- und Spucklauten als billi­gen Gags. Die Tutti-Posaunen und übrigen Bläser durften daran rege Anteil nehmen. Die Streicher indes verkamen zur primitiven Impuls- und Akkordfüllmasse ohne eigene Substanz. Damit der betriebsame Leerlauf wenigstens Energetik vorgaukelte, wurde reichlich Flexaton- und Trian­gel-Gebimmel zugestreut. Selten wurde ein Orchester so einfalls- und farblos durch denselben Trichter gedreht.

Einem einzigen Gestaltungsprinzip folgt Jörg Widmanns Orchesterstück „Chor“ von 2004. Das halbstündige Opus beginnt hinter der Bühne mit einer weit geschwungenen Melodie der Solotrompete, die ebenfalls in der Ferne von der Oboe übernommen wird und schließlich bei der Sologeige im Orchester landet. Als nahtlose Klangfarbenmelodie agieren anschließend auch alle anderen fünfundsiebzig Musiker in wechselnden Stimmgruppen konsequent einstimmig, etwa alle Trompeten, sämtliche Bässe oder das volle Tutti: chorisch bis zum Abwinken. Belebt wurden die sich ins Dämonische steigernden, heiklen Unisonolinien unfreiwillig durch Intonationsschwächen und Patzer.

Hans-Peter Jahn wäre nicht der provokative und leicht monomane Festivalmacher, folgten seine Ideen und Programmplanungen gängigen Strickmustern. Selbst die Einführungsgespräche und das Programmbuch macht er zum Experimentierfeld, auch wenn dies mitunter auf Kosten der Vielstimmigkeit geht. Üblicherweise äußern sich bei Einführungen Komponisten und Interpreten. Doch in den drei Gesprächen bei Eclat antwortete einzig und allein immer nur Jahn auf Fragen seines SWR-Kollegen Reinhard Ermen. Im Programmbuch formulierte sich Jahn kurzerhand gleich selbst die Fragen zu seinen Antworten. Unkonventionell ist auch sein Verzicht auf Kurzbiographien der beteiligten Künstler. Statt Angaben zu Geburt, Herkunft, Lehrern, Meisterkursen, Auftritten, CD-Veröffentlichungen und Preisen fanden sich am Ende der Broschüre lediglich Verweise auf die Homepages der Künstler oder deren Artikel bei Wikipedia. Der so eingesparte Platz senkte die Druckkosten und entlastete den gekürzten Finanzrahmen des Festivals. Doch ist dies nur ein Nebeneffekt. Vielmehr wollte Jahn auf diese Weise seine Skepsis äußern gegenüber dem Aussagewert und der Relevanz derart standardisierter Personeninformationen für das Musikhören sowie gegenüber der grassierenden virtuellen Identitätssetzung im Internet als dem besten Schauplatz ungehemmten Selbstdarstellungsdrangs: Google mich, also bin ich. Dank dem Festival, das solche Fragen und Probleme aufwirft!