MusikTexte 129 – Mai 2011, 81

Freigänge aus selbst gelegten Fesseln

Die Wittener Tage für neue Kammermusik 2011

von Rainer Nonnenmann

Statt auf harten Stühlen in stickigen Sälen zu schwitzen, gleitet das Konzertpublikum an einem leuchtenden Vorsommerabend auf dem Freideck des kleinen Ausflugschiffs „Schwalbe“ die Ruhr hin­­ab zum Kemnader-Stausee. Eine weiche Frauenstimme verweist auf Details am Ufer, Jogger, Spaziergängerin, Hund und ein Geräuschemacher, die sich zwischen die vielen Freizeitler und das bunte Wasservogelvieh mischen. Manos Tsangaris ist ein Meister des poetischen Spiels an den Grenzen von Kunst und Wirklichkeit. Der Kölner Komponist macht mit „Beiläufige Stücke: Schwalbe“ die Flusslandschaft zur Kulisse einer Kriminalgeschichte, die zwangsläufig auch alle Unbeteiligten integriert, Leute beim Hundeausführen, Spazieren, Knutschen, Angeln, Picknicken, Biertrinken. Ebenso durchdringt er das natürliche Soundscape der Industrie-, Verkehrs- und Freizeitwelt mit Lautsprecherzuspielungen und einem Hornisten an Bord, dessen Töne unter der Autobahnbrücke vielstimmig widerhallen. So wird auch das Schiff ein Teil des Theaters und die sich umblickende Bootsgesellschaft für die am Ufer Beobachteten selbst zu einem Objekt der Aufmerksamkeit. Tsangaris flexibilisiert die Betrachtungsstandpunkte und mobilisiert die Selbstreflexion der Wahrnehmenden. Zugleich realisiert er damit jenseits geschlossener Räume ein Zentralprinzip von Kammermusik.

Solch erfrischender Freigang tat den Wittener Tagen für neue Kammermusik gut. Denn das Festival bot ansonsten ein allzu enges Spektrum neuer Musik zwischen Solo- und größerer Ensemblebesetzung. Nach Schwerpunkten mit Werken der Altmeister Hugues Dufourt und Friedrich Cerha in den letzten beiden Jahren lag der Fokus diesmal auf einem Komponisten der mittleren Generation. Doch der in Witten bereits hinlänglich bekannte Stefano Gervasoni, Jahrgang 1962, blieb auch diesmal enttäuschend blass. Seine differenzierten Klang- und Geräuschwelten sind sublim, distinguiert, fein, vornehm. In Serie hintereinander wirken sie jedoch monochrom, zahm, verzagt, ja verzärtelt, ohne erkennbaren Willen, alt eingefahrene Bahnen normaler neuer Musik zu durchbrechen, um irgendwoandershin vorzudringen. Seine „Aster Lieder“ frönen einem schamlos behaglichen Zugriff auf längst zu Tode komponierte Jahreszeiten-Gedichte von Hölderlin und Celan. Bei einem Nachtkonzert in der Johanniskirche erklang sein „Dir – In Dir“ für Streich- und Vokalsextett auf Texte von Angelus Silesius mit dem Pariser Ensemble „L’instant donné“ und dem englischen Solistenchor EXAUDI unter Leitung von James Weeks, die beide 2002 gegründet wurden und ihre Witten-Debüts gaben. Die Unbedingtheit von Silesius’ existen­tiellen Fragen, Anrufungen und Medita­tionen wusste Gervasoni indes nur in das nichtssagende Gleichmaß sedierter Mottentenkunst zu lenken. Auch ein Gesprächskonzert mit ihm blieb belanglos. Der Kompositionsprofessor am Pariser Conservatoire will Ausdruck, Lyrik, Schönheit, Zitate verstecken. Um etwas verschweigen zu können, muss man aber etwas zu sagen haben; gekonnt kaschierte Banalität macht noch keine Originalität.

Anstelle von Streichquartetten gab es dank der Mitwirkung von Heinz Holliger und seinen ausgezeichneten Swiss Chamber Soloists diesmal Quartette für Oboe und Streichtrio. Während sich Altmeister Harrison Birtwistle in aktionistischem Virtuosenleerlauf verlor, bereitete das Oboenquartett des achtzigjährigen Schweizers Rudolf Kelterborn einen der stärksten Eindrücke. Schienen die vier Stimmen zunächst dialogisch verbunden, so zerfallen sie am Ende in sprachlose Einzelteile: energisch wiederholte Spitzentöne, zarte Flageoletts, aggressive Pressklänge und weiches Kantabile. Indem das Quartett zu unvermittelten Ex­tremen auseinandertritt, lässt es Material, Formverlauf und Aussage zugleich zum gelungenen Kunstwerk zusammenschießen, das den Hörer vom Schluss aus noch einmal den zuvor gehörten Diskurs unter anderem Blickwinkel nachhören lässt. Wenige Stücke verdichteten damit die für die Gattung Kammermusik so zentrale Frage nach dem kommunikativen Miteinander auf eine derart stringente Weise, dass man angesichts des desolaten Zerfalls von Kommunikation kaum anders konnte, als selber neu über das Gelingen oder Scheitern sprachlicher Verständigung im Alltag oder bei Wittener Fachgesprächen nachzudenken.

Bemerkenswert war auch Holligers fulminantes Horn-Solo „Cynddaredd“, mit dem der exzellente Saar Berger – Schüler Marie Luise Neuneckers und seit 2007 Mitglied des Ensemble Modern – das Komponieren für dieses in der neuen Musik sonst stiefmütterlich behandelte Instrument in neue Regionen katapultierte. Den in Chikage Imais „Morphing“ immer neu ansetzenden Figuren schien in der Interpretation durch dieses Ensemble unter Leitung von Johannes Kalitzke die jedoch nötige Impulsivität und gestische Prägnanz zu fehlen. Vassos Nico­laous „Index“ gab mit demonstrativ ordinär schreiendem und hupendem Blech einen kantigen, schroffen und aggressiv zupackenden Kontrapunkt zum übrigen Moderato-Konsens. Luxurierende Farbenpracht entfaltete dagegen Peter Eötvös’ Schiller-Vertonung „Energische Schönheit“. Gemäß Schillers Utopie eines demokratischen Staates der Freiheit agierten die zwanzig Musiker im Kreis stehend ohne Dirigent. Den Instrumentalisten des Ensemble Modern gelangt zusammen mit den hervorragenden Sängern der Schola Heidelberg – die als zweite Gesangsformation dem Programm vokallastige Schlagseite gaben – eine perfekte Aufführung des Stücks, dessen weitgehend akkordische Faktur und formale Statik ansonsten nichts vom revolutionären Drang des Idealisten wissen wollten.

Eigenwillig anders zeigten sich Michael Maierhofs stumme Hommage an die erste Isolde-Interpretin, Frédéric Pattars zu Glissandolinien verformte „Frage“ für Synthesizer und Ensemble, sowie Arnulf Herrmanns „Seestück (Traum) und Tanz“ mit irritierenden Verschmelzungen von technisch reproduzierter und live gespielter Musik. Der Rest wirkte konservativ, richtungslos und ängstlich, als schrecke man vor Suchbewegungen und Randphänomenen zurück, die sonst willkommene Impulse zu ästhetischer Posi­tionsbestimmung bieten. Im Gegensatz zu vergangenen Jahren gab es keine Performances und Grenzüberschreitungen zu Szene, Raum, Bewegung, Bild, Video. Auch Elektronik und Schlagzeug fehlten fast völlig. Statt mit medialen Wechseln die Sensorien der Wahrnehmung neu zu justieren, wurden die Besucher drei Tage auf Ohrenwesen reduziert. Umso erfrischender wirkten da Tsangaris’ Freiluftaktionen sowie die Installationen von Daniel Ott, Stephan Froleyks, Peter Ablin­ger und Kirsten Reese, welche im idylli­schen Ruhrtal Geschichte, Funktion und Aura von Stauwehr, Auenwiese, Insel und Burgruine Hardenstein beschworen.