MusikTexte 131 – November 2011, 86–87
Materie im Reich Gottes
Mary Bauermeister über ihr Leben mit Karlheinz Stockhausen
von Rainer Nonnenmann
„Zum Schreiben dieses Buches habe ich sogar unseren Ehering wieder angelegt“, bekennt Mary Bauermeister im Prolog ihrer Lebenserinnerungen. Die 1934 geborene Künstlerin lässt keinen Zweifel daran, wie nah ihr die Erlebnisse der elf gemeinsamen Lebensjahre mit Karlheinz Stockhausen sind, auch Jahrzehnte nach der Scheidung. Ihre jetzt in der Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann erschienene Autobiographie „Ich hänge im Triolengitter – Mein Leben mit Karlheinz Stockhausen“ ist gleichzeitig eine aus ganz persönlicher Warte geschriebene Biographie des genialen Komponisten, in dessen Bannkreis die Malerin 1958 geriet, den sie 1967 heiratete, mit dem sie zwei Kinder hat, von dem sie sich 1973 scheiden ließ und dem sie dennoch lebenslang bis über dessen Tod 2007 hinaus verbunden blieb.
Ihre ebenso romanhaft gelebte wie spannend zu lesende Einheit von Leben und Werk enthält höchst subjektive Bekenntnisse und wirft zugleich erhellende Schlaglichter auf die bewegte Sozial-, Kunst- und Musikgeschichte der fünfziger bis siebziger Jahre. Auch informative Berichte von Reisen mit Stockhausen in die USA, nach Japan, Finnland, Frankreich, Italien und Südafrika fließen ein. Die temperamentvolle Künstlerin und vierfache Mutter erzählt ihre Geschichte als international erfolgreiche Frau inmitten einer von Männern dominierten Kunstwelt. Zentrale Stationen sind ihr Atelier in der Lintgasse der Kölner Altstadt, das um 1960 interdisziplinärer Treffpunkt der Avantgarden war, und ihre großen Einzelausstellungen in der New Yorker Galeria Bonino. Bauermeister beschreibt Inspirationsquellen und Ideen ihrer Kunst, die Fluxus- und Hippiebewegung sowie Begegnungen mit berühmten Künstlern, darunter Duchamp, Magritte, Chagall, Max Ernst, Miró, Paik, und Musikern wie Cage, Tudor, Bernstein, Boulez und Schülern Stockhausens. Die insgesamt siebzig teils farbigen Abbildungen zeigen neben Photos von Personen auch einige ihrer Kunstwerke.
Im Zentrum des Buchs steht die mehrjährige „ménage à trois“, die Bauermeister mit Stockhausen und dessen erster Frau Doris samt deren vier Kindern führte, und für die man sich in Kürten vom befreundeten Architekten Erich Schneider-Wessling (vergleiche MusikTexte 118, 15–21) ein eigens für diese Konstellation konzipiertes Haus mit füreinander durchlässigen Waben entwerfen und bauen ließ. Nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs wollte man nicht nur künstlerische Avantgarde sein, sondern auch in Gesellschaft und Privatleben radikale Neuanfänge wagen. So hinterfragte man bürgerliche Konventionen und althergebrachte Lebensformen wie Ehe und Familie zugunsten alternativer Lebenskonzepte und offener Beziehungen. Neben Erfüllung, Glück und frei ausgelebter Erotik brachte dieses Experiment im „Triolengitter“ auch Leid und innere wie äußere Konflikte mit Umwelt und Moralvorstellungen, von denen man sich selbst nicht ganz frei wusste. Später sollten Bauermeister und Stockhausen mit und ohne einander in wechselnder Personnage weitere solcher „Ehen zu dritt“ führen, „hätte doch Stockhausen am liebsten alle seine Frauen unter einem Dach wie in einem Harem um sich versammelt“. Um die ebenso konfliktreichen wie produktiven Lebens- und Schaffensumstände zu deuten, bringt Bauermeister auch psychologisierende Deutungsmuster in Anschlag. So räsoniert sie wiederholt über das Verhältnis von sublimierter Sexualität und künstlerischer Kreativität oder spekuliert über die Hintergründe von Stockhausens „Kontrollsucht“ und Freiheitssehnsucht.
Sie berichtet von Stockhausens Kindheits- und Jugenderlebnissen, Weltkriegsschicksal, seinem tief verankerten Katholizismus und spirituellen Leben, und natürlich von seiner Musik, die ihr manchmal das Gefühl gab, „mit einem Instrument verheiratet zu sein“. Sie erhellt Entstehungshintergründe zentraler Kompositionen wie „Originale“, „Momente“, „Mikrophonie I“, „Stimmung“, „Aus den sieben Tagen“ und „Prozession“. Obwohl ihre Erinnerungen auch viele bekannte und hinlänglich aufgearbeitete Informationen enthalten, wirft ihr aus unmittelbarer Anschauung gespeister Blick dennoch ein eigenes Licht auf die Werke und Geschehnisse. Insbesondere zeigt sie Parallelen im Schaffen beider auf, etwa zwischen ihren „Pünktchenbildern“ und der „punktuellen Musik“ des frühen Serialismus sowie zwischen ihren über die Leinwandgrenzen hinaus auswuchernden Gemälden und der offenen Form in der Musik. Entsprechungen zur variablen beziehungsweise mobilen Form wie in „Klavierstück XI“ zeigen ihre Erweiterungen der zweidimensionalen Fläche in den dreidimensionalen Raum, bei denen Strohhalme, Schachteln, Kugeln oder Steine je nach Blickwinkel, Licht- und Schattenwurf dem Betrachter andere Ansichten bieten. Einen plausiblen Vergleich zieht die Künstlerin auch zwischen ihren „Linsenkästen“ und „Drehwalzen“, bei denen sich Gemaltes durch Linsen optisch abtasten lässt, und dem akustischen Abhören der Klangeigenschaften des großen Tamtams in Stockhausens „Mikrophonie“ mittels Mikrophonen.
Selbst wenn die Innenperspektive der Künstlerin manche Parallele womöglich überbewertet, wird doch der prägende Einfluss von Bauermeisters Persönlichkeit und Schaffen auf Stockhausen unmissverständlich deutlich. Zusammen mit ihr besuchte Stockhausen 1962 im österreichischen Alpbach ein interreligiöses Seminar, das dem regelmäßig beichtenden Katholiken und Kirchgänger den Sinn für andere Glaubenssysteme öffnete. Durch die Besuche bei Bauermeister in New York erlebte Stockhausen diese Stadt als das „Modell einer mondialen Gesellschaft“, was wenig später seine „Telemusik“ und „Hymnen“ bestimmte. Während der gemeinsamen Zeit in San Francisco nahm Stockhausen an der Hippie-Bewegung teil und hörte den dort aufkommenden Psychedelic Rock von „Greatful Dead“, „Pink Floyd“ oder „Jefferson Airplane“, den er jedoch als banal empfand und ablehnte. Durch Bauermeister lernte er auch die für seine intuitive Phase und den „Licht“-Zyklus wichtigen Schriften von Sri Aurobindo und das Buch „Urantia“ kennen. Und selbst wenn der Einfluss von Künstlern wie Cage und Tudor auf Stockhausen unstreitig ist und sich die Ablösung vom „integralen Serialismus“ Ende der fünfziger Jahre als allgemeine Tendenz auch im Schaffen von Boulez, Nono, Pousseur und anderen zeigt, wurde die Hinwendung zu mehr Offenheit, Freiheit, Spontaneität und Intuition speziell in Stockhausens Musik zweifellos maßgeblich durch Bauermeister beeinflusst: „Von dir lerne ich noch, nicht nur Geometer zu sein“. Schließlich war es auch Bauermeister, die Stockhausens Partituren Korrektur las und Bühnenbilder und Kostüme zu dessen „Sirius“, „Harlekin“ und den ersten Szenen von „Licht“ entwarf.
Neben der charakterlichen Eigen- und Verschiedenheit beider Persönlichkeiten werden auch grundlegende künstlerische Differenzen erörtert. Als Pantheistin zog Bauermeister ihre besten Anregungen aus der Natur, um Farben, Steine, Stoffe, Hölzer, Gläser lautstark hämmernd, sägend, klecksend zu verarbeiten. Stockhausen hingegen suchte beim Komponieren die Stille, verstand sich als Werkzeug Gottes und Musik als spirituelles Mittel auf dem Weg der Evolution des Menschen zum Engel: „... er möchte die ganze Menschheit musikalisch erlösen, seine Musik soll die Christustat wiederholen“. Als der Meister soeben einmal ein Konzert dirigiert hatte, musste sich Bauermeister von ihm sagen lassen: „Ich komme gerade aus dem Reich Gottes. Dort ist unsere wahre Heimat. Verlier dich nicht zu sehr mit der Verherrlichung der Materie, sie ist nur ein Gleichnis.“
Manches an Bauermeisters Schilderung ihrer Beziehung zu Stockhausen wirkt märchenhaft, ja unglaublich, vom ersten intensiven Blick bis zum gemeinsamen Leben zu dritt oder zweit unter einem Dach. Die Liebenden kommunizieren telepathisch über räumliche Trennungen hinweg und treffen sich ohne Verabredung in Situationen, die mit bloßem Zufall kaum zu erklären sind. Nicht erst im Rückblick ihrer Erinnerungen spricht Bauermeister manchen Begebenheiten einen höheren, geheimnisvollen Sinn zu. Schon damals scheint sie mit ihrem Hang zum magischen Denken ihre Umwelt nicht nur verstanden, sondern regelrecht geformt und beeinflusst zu haben. So konnte auch der in Staunen versetzte Stockhausen über sie nur feststellten: „Alles mit dir ist Magie“. Zuweilen verdichtet sich dieser Sinn fürs Metaphysische auch zu Bildern, die in einer fiktiven Erzählung schlicht als Kitsch oder aufgedonnerter Theatereffekt abgetan würden. Ohne Scheu vor solcher Kritik geben in einem autobiographischen Text jedoch selbst solche in jedem anderen Fall grenzwertigen Stellen authentische Einblicke in die Seele der Künstlerin und ihre spirituellen Erlebnisse, Gefühle, Sehnsüchte, Stimmungen. Als Stockhausen und Leonard Bernstein alles um sich herum vergessend am Klavier vierhändig über Musik von Mozart improvisieren, schildert Bauermeister diese Szenerie wie in einem sentimentalen Künstlerroman des neunzehnten Jahrhunderts als ergreifende „Sternstunde der Musik“: „Mir liefen die Tränen die Wangen herunter. Ja, es waren Bernstein und Stockhausen, die da improvisierten, aber es war vor allem Mozart. Auch die Kinder wurden mucksmäuschenstill. Die Sonne, die jetzt am Westfenster des Erkers sichtbar wurde, warf einen warmen Farbschleier über die Szene. Es war, als wollte der Himmel seinen Segen geben.“
Wiederholt erwähnt Bauermeister, sie und Stockhausen hätten sich während ihrer monatelangen Trennungen zwischen Europa und den USA täglich Briefe geschrieben. Doch zitiert sie aus diesen über tausend Briefen – die einer separaten Edition vorbehalten bleiben – nur ein einziges Mal, so dass der Leser leider auf Einblicke in dieses Quellenmaterial verzichten und sich bei allen sonst mündlich überlieferten Äußerungen Stockhausens auf Bauermeisters Wahrheits- und Erinnerungsvermögen verlassen muss. Dennoch erinnert ihr Buch vielleicht gerade deswegen auf so freimütige, ungeschminkte, persönliche und lebendige Weise an den Menschen und Ausnahmekünstler Stockhausen wie kein anderes.
Mary Bauermeister, Ich hänge im Triolengitter. Mein Leben mit Karlheinz Stockhausen, München: C. Bertelsmann, 2011.