MusikTexte 131 – November 2011, 78–80

Seismograph ohne Erschütterungen

Seit neunzig Jahren Donaueschinger Musiktage

von Rainer Nonnenmann

Seit 1921 wird in der kleinen Residenzstadt zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb Weltmusikgeschichte geschrieben. Viele der hier uraufgeführten Werke erwiesen sich spontan oder im Rückblick als Etappensiege auf einem lange Zeit als unablässiger Fortschritt verstandenen Weg in die Zukunft. Doch die Entwicklungsstränge verzweigten sich mit den Jahren immer mehr, nahmen unverhoffte Wendungen oder kehrten sich gar um und wurden rückläufig. Heute geht die Reise längst in allen Richtungen gleichzeitig, so dass zunehmend unklarer und auch unerheblicher wird, wo sich Start und Ziel befinden. Im Zuge von Globalisierung und allgemein gesellschaftlicher Ausdifferenzierung verloren die Donaueschinger Musiktage wie alle „Avantgardefestivals“ nach und nach ihre Funktion als Seismographen aktueller Tendenzen. Und in dem Maß, in dem sich die vor allem medial geschürte Gier nach ständig neuen Trends als absurd erwies, wuchs den immer weniger mitein­ander korrespondierenden Einzelwerken immer größerer Eigenwert zu.

Soweit die soziohistorisch untermauerte Theorie. Praktisch jedoch verzeichnete das Festival dieses Jahr keine nennenswerten Ausschläge nach vorne oder zurück, oben oder unten, rechts oder links. Herausragende Projekte fehlten ebenso wie Kontroversen und polarisierende Extrempositionen, die sonst meinungsschärfende Orientierungsmarken boten. Stattdessen herrschte professionelle Routine auf hohem Niveau. Den Ton bestimmte ein allzu enges, wenig plurales Spektrum normaler neuer Musik, deren weitgehende Konsensfähigkeit bei Hörern und Fachleuten weder empörte Ablehnung noch echte Begeisterung aufkommen ließ. Gleichwohl war der Publikumsandrang wie in den letzten Jahren groß und gab es neben einzelnen bemerkenswerten Arbeiten auch herausragende interpretatorische Leistungen.

Als Ensemble-in-Residence hatte die Kölner musikFabrik ein höchst anspruchsvolles Pensum zu absolvieren. In drei Konzerten und zwei Konzertwiederholungen stellte das Ensemble bravourös unter Beweis, dass es gegenwärtig zu den weltweit besten Formationen neuer Musik gehört. Im Eröffnungskonzert brachte man zusammen mit dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg unter Leitung von Emilio Pomàrico mit der „Séraphin-Symphonie“ die jüngste Werkkompilation des seit 1993 von Wolfgang Rihm bislang in über zwanzig Einzelstücken fortgeschriebenen „Séraphin“-Komplexes zur Uraufführung. Das große Orchester und Solistenensemble, das dem Hauptpodium auf einer Extrabühne vorgelagert war, ließ dem Publikum in der Baar-Sporthalle weniger Platz denn je. Doch das Resultat blieb enttäuschend hinter den immensen Mitteln zurück. Bei nivellierender Gleichbeschäftigung des Riesenapparats wucherte diese Musik eine Stunde lang nach allen Seiten, so dass man jeden Richtungssinn verlor. Das Geschehen verweigerte sich jedem formal konstitutiven Zurück- und Voraushören und erschöpfte sich weitgehend in kraftlosen Andeutungen. Nur stellenweise trieb das trockene Gestrüpp prägnantere Klangblüten wie Choral­idiome, expressive Violinkantilenen und ein phantastisch zwischen extremen Höhen und Tiefen changierendes Hornduo. Vorausgegangen war mit Pierluigi Billones „Phonogliphi“ eine hinsichtlich Material und Verlauf klar konturierte Komposition, die sich indes allzu schnell auf das geräuschhafte Klangspektrum von vier Schlagzeugern und ebenso vielen permanent überblasenen und mit Dämpfern teilweise geknebelten Fagotten verengte.

Konzeptuellen Zugriff zeigte auch „Arbeitsfläche“ von Sergej Newski. Mit Reiben, Schleifen, Blasen, Schlagen, Greifen und fremden Adaptern wie Fagottmundstück auf Horn betonten die Ensemblemusiker die Ansatzpunkte mechanischer Energie und die daraus resultierende konkrete Hervorbringung von Klang, dessen Verläufe sie zugleich zu gestischen, sprachähnlichen Intonationskurven form­ten. Zu elektrisierender Fulminanz verhalf die musikFabrik unter Leitung von Enno Poppe Wolfgang Mitterers virtuosem „Little Smile“. Dank nahtlos eingewobener Live-Elektronik verdichtete sich hier banales Floskelwerk zu einem mal breiten, mal schmalen, wilden oder ruhigen Klangfluss, der durch verschiedene Aggregatzustände mäandrierte, um sich stellenweise zu hochenergetischen Strudeln und schnell dahinjagenden Ritten à la caccia zu steigern.

Mit deutlich reduzierterem Material arbeitete dagegen Hans Thomalla zu Videos von William Lamson, in denen leere Eimer und Bierflaschen als sichtbar handelnde Subjekte dienten, die sich wie Lone­some Cowboys durch das Death Valley schleppten. Während sich deren Schleifgeräusche über Sanddünen und zerfurchten Wüstenboden samt Windgeräuschen um das Publikum herum im Instrumentalensemble fortsetzten, behauptete sich der klare Sopran von Sarah Maria Sun inmitten der toten Natur als einsam verlorene Menschenstimme.

Eindrückliche Filmsequenzen verwendete im Konzert der Neuen Vocalsolisten auch Jennifer Walshe in „Watched over Lovingly by Silent Machines“. Die vielschichtige Mixtur aus Kino, Pantomime, Hörspiel und Vokalquintett thematisierte aspektreich verschiedene Ausprägungen von Wiederholungszwang in Psyche, Körper, Natur, Freizeit und Musik. Obwohl Video und Musik nicht direkt parallel geführt wurden, stellten Vor- und Rückbezüge dennoch erhellende Beziehungen zwischen den Medien her, welche die Erkenntnis nahelegten, alles Leben sei Wiederholung: Pulsschlag, Atem, An- und Entspannung, Wachen und Schlafen … Auch die drei weiteren uraufgeführten Vokalwerke stammten von Komponistinnen.

Ausschließlich Musikerinnen vorbehalten war dieses Mal auch die „SWR2 NOW­Jazz Session“, bei der die siebzigjährigen Damen des Trios „Les diaboliques“ mit viel Spaß an Experiment, Exzentrik, Slapstick und Selbstironie für rauschende Ovationen sorgten und die jüngeren Frauenformationen SPUNK aus Norwegen und Phantom Orchard aus New York verblassen ließen.

Noch nie waren Frauen auf diesem internationalen Musikforum so zahlreich vertreten. Das ist schön, und befremdete zugleich. Wieso wurden sie alle in zwei reine Frauenkonzerte gepackt, als gälte es die weibliche Kreativität zu gettoisieren und von den männlichen Kollegen abzusetzen? Zu allem Überfluss betonten zwei der Komponistinnen eigens das Geschlecht der Sänger. Sarah Nemtsov überlud ihre „Hoqueti“ durch zusätzlich von den Vocalsolisten zu traktierende Instrumente, indem sie den Frauen hell klingendes Schlagzeug und den Männern dumpf grummelnde Kontrabässe verschrieb. Clara Maïda thematisierte schon im Titel „X/Y“ die beiden Chromosomen, die das Geschlecht des Menschen bestimmen. Außerdem kleidete sie die Sängerinnen ganz in Schwarz, die Sänger ganz in Weiß und den Countertenor mit schwar­zem Hemd und weißer Hose, als handle es sich bei Daniel Gloger um einen Zwitter. Dieser längst überwunden geglaubte Manichäismus wirkte umso anachronistischer, als er musikalisch unkommentiert blieb. Stattdessen gaben alle Vokalisten nur nervtötendes Einheitsgewimmer von sich und schlugen gemeinschaftlich auf schwarze, weiße oder schwarz-weiße Kaffeetassen. Solch banale Schwarzweiß-Malerei wird den komplexen Geschlechterverhältnissen nicht gerecht. Schließlich ließ auch Iris ter Schiphorst in ihren „Studien zu Figuren“ affektiv Sprechen, Zischen, Hecheln, Schimpfen, Flüstern, Stöhnen, Seufzen und dies durch situative Gestik und Mimik unterstreichen, als handele es sich bei diesen „Figuren“ allesamt um Hys­teriker(innen). Doch die grimassierende Dauerexaltiertheit verkehrte sich schnell zu nichtssagender Eintönigkeit.

Ein eigenes Konzert war „Stasis“ von Rebecca Saunders vorbehalten, eine Art Ableger ihres vielteiligen „Chroma“-Zy­klus. Die fünfzigminütige „Raumcollage“ verteilte die Mitglieder der musikFabrik als klingende Solitäre im 2010 eingeweihten, flexibel bestuhlbaren Strawinsky-Saal der Donauhalle auf verschiedenen Podesten im Publikum und dem erhöhten Wandumlauf. Zudem wechselten die Mu­siker mehrmals ihre Positionen, um zu verschiedenen Kleinstformationen zusammenzutreten, zu Bläserquartett, Duo von Violine und Viola, oder um Schlagzeug­impulse quer durch den Raum springen zu lassen. Abgesehen von diesen direkten Interaktionen liefen die Einzelpartien jedoch weitgehend beziehungslos nebenein­ander her und ließ ihre lose Gleichverteilung keine charakteristischen Klangbewegungen im Raum entstehen. Kaum zur Geltung kam auch ein von Christine Chapman erstmals vorgeführtes Doppeltrichter-Horn, das schnelle Farbwechsel zwischen gedämpftem und offenem Trichter ermöglichen sollte. Erst gegen Schluss fokussierte Saunders das dissoziierte Geschehen auf Liegetöne, die sich wechselseitig zu den für ihre Musik so typischen auf- und abbauenden Klangwellen überlagerten, bevor die Flöte mit demselben Solo endete, mit dem sie zuvor begonnen hatte.

Wurde in der Vergangenheit bereits mehrmals das leere Gebäude der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek bespielt, etwa von Stephan Froleyks und Manos Tsangaris, so durfte dieses Jahr François Sarhan die mit Ausstellungsstücken angefüllten Säle der Fürstenberg- Sammlungen mit seiner „Enzyklopädie des Professor Glaçon“ bestücken. Doch seine Bebilderungs- und Musikalisierungsversuche blieben sowohl hinter dem enzyklopädischen Anspruch als auch hinter dem Zauber dieses angestaubten Kuriositätenkabinetts zurück. Die kleinen Theater- und Konzertbeiträge wurden von Mitgliedern des ensemble recherche in Glyptothek sowie zwischen ausgestopften Tieren und Versteinerungen dargeboten. Dennoch entfalteten sie keine Ausstrahlung und Zwiesprache mit den Exponaten, als verhielten sie sich dem Ort gegenüber blind und taub. Als äußerliche Fremdkörper erwiesen sich auch Gongschläge und mit schneidiger Bahnhofsstimme erfolgende Durchsagen, welche die Ein- und Ausgänge des Publikums sowie Anfänge und Schlüsse der Beiträge steuern sollten. Statt diese unerlässlichen Regelungen selbst als Bestandteile des Gesamtereignisses zu inszenieren, wurden sie dem historischen Haus und seinen Beständen bloß als starres, ihnen fremdes Abfolgeschema übergestülpt.

Im Abschlusskonzert des SWR Sinfonieorchesters unter Leitung seines neuen Chefdirigenten François-Xavier Roth bot Saed Haddad mit „Kontra-Gewalt“ ein virtuoses Solokonzert, dessen erweiterte und ins Expressionistische gesteigerte Klangsprache sich letztlich dem Geist des neunzehnten Jahrhunderts verdankte. Gemäß romantisch-psychologisierender Rollenverteilung wird die Soloklarinette (ausgezeichnet Nina Janßen vom Ensemble Modern) von gewaltsamen Orchesterschlägen, kreischenden Becken und Donnerblechen förmlich zu Tode gehetzt. Mit bizarren Läufen sucht sie sich verzweifelt zu behaupten und muss am Ende trotzdem mit einem leisen Trauergesang unterliegen, der endlich von einem finalen Frustaschlag förmlich geköpft wird. Nos­talgische Rückblicke wagte auch Lars Petter Hagen in seinem Konzert „To Zeitblom“ für Hardangerfiedel und Orchester. Fluchtpunkt seiner Sehnsüchte ist die Volksmusiktradition seines Heimatlandes Norwegen und die Musik des dortigen musikalischen Übervater der Nation Edvard Grieg. Doch als sich das Orchester zu zarten Arpeggien des Fiedel-Spielers Giermund Larsen wohlig in weiche Dur-Akkorde einzuwiegen beginnt, wirft Hagen aus einem Ghettoblaster billige elektronische Klingeltöne als spitze Widerhaken dazwischen. Schließlich unterbricht er die Musik und gibt eine englische Einführung zum Soloinstrument und zu seinem Werk, die ein Dolmetscher stückweise ins Deutsche übersetzt. Doch der betont subjektive, fast empfindsame Komponistenkommentar wird vom Übersetzer plötzlich ersetzt durch ein völlig zuwider laufendes Referat über Theodor W. Adornos Theorien zur Entkuns­tung der Kunst und zum Wahrheitsgehalt von Musik angesichts einer von globalem Unheil bedrohten Welt. So werden die vorgeblichen Konfessionen des Künst­lers – persönliche Musik von lokaler Eigenart schreiben zu wollen –, gleichzeitig schroff konterkariert und wird unmissverständlich klargestellt, dass die Sehnsucht nach Schönheit, Heimat, lokaler Verankerung und Einzigartigkeit zwar alle Berechtigung hat, aber nicht durch ein simples Zurück in falsche Idyllen zu befriedigen ist.

Andreas Dohmen schließlich übertrug in „zirckel/richtscheyt/felscher“, das den Orchesterpreis des SWR Sinfonieorchesters 2011 erhielt, von Albrecht Dürer beschriebene perspektivische Ableitungsverfahren mittels formalisierter Prozesse auf Gestalten, Strukturen, Materialfelder, Dauern, Geschwindigkeiten und Harmonik, die sich eigendynamisch entwickeln und zu äußerst dichten Gesamttexturen überlagern, deren innere Kausalitäten bei erstmaligem Hören jedoch nicht zu durchdringen waren.