MusikTexte 131 – November 2011, 89–92

Noises of Cologne

Komponieren mit Geräuschen – Aktuelle CDs aus der Kölner Szene

von Rainer Nonnenmann

Zur zeitweiligen „Welthauptstadt der neuen Musik“ wurde Köln seit den fünfziger Jahren durch zwei international ausstrahlende Entwicklungen: Zum einen durch die maßgeblich von Karlheinz Stockhausen und anderen am Studio für Elektronische Musik des Westdeutschen Rundfunks rasant vorangetriebene Elektronische Musik; zum anderen durch das in den sechziger Jahren von Mauricio Kagel mehr oder minder im Alleingang kreierte Konzept des Instrumentalen Theaters. Bei allen augen- und ohrenscheinlichen Unterschieden beider Ansätze verbindet sie die radikale Emanzipation des entweder elektronisch oder instrumental generierten Geräuschs als vollwertigem musikalischem Ereignis.

Inzwischen sind beide Ansätze ein halbes Jahrhundert alt, doch sind sie darum keineswegs veraltet – im Gegenteil. Eine an Zahl und Erfindung reiche Schüler- und Enkelgeneration baut längst auf den Errungenschaften der Alten auf. Der zwischenzeitlich verblassten Kölner Sze­ne der neuen Musik geben sie neues Profil – auf allen Feldern: in Musiktheater, Electronics, Klavierperformance, Schlag­zeug­improvisation, experimenteller Vokalmusik und Interpretation. Dass in der Medienstadt Köln Musik aus Geräuschen eine besonders prominente Rolle spielt, hat neben den lokalen historischen Ursachen auch ästhetische Gründe, die freilich auch andernorts Künstler an Geräuschen faszinieren. Durch die tatsächliche oder bloß assoziierte Herkunft aus Alltag, Verkehr, Natur, Körper, Energie, Bewegung et cetera erzählen diese komplexen akustischen Phänomene unweigerlich immer auch Geschichten. Das macht den auf aktuellen CDs dokumentierten Kölner Klangkosmos vielstimmig wie das Leben selbst.

Panakustikum: Carola Bauckholt

Aus Kagels Klasse für Experimentelles Musiktheater an der Kölner Musikhochschule ging Carola Bauckholt hervor. Ihr Stück „hellhörig“ war nach der Uraufführung bei der Münchner Biennale für neues Musiktheater 2008 auch in der Kölner Halle Kalk zu erleben. Jetzt ist es auf CD erschienen. Dieses musikalische Theater kommt ganz ohne Libretto und narrative Handlung aus. Gleichwohl wird auf der Bühne sicht- und hörbar agiert. Doch statt Sängern treten gänzlich andere Protagonisten in Erscheinung: Zinkwannen, Lampenschirme, Kisten, Dosen, Bälle, Metall, Schotter, Wasser, und vieles andere mehr. Zusammen mit drei Vokalisten und drei Cellisten entfalten die von vier Schlagzeugern traktierten Gerätschaften ein wahres Panakustikum zwischen leisem Gewisper und ohrenbetäubendem Dröhnen, wenn etwa Orgelpfeifen von ausrangierten Staubsaugern angetrieben werden.

Das Erstaunliche ist, dass sich diese Ereignisse nicht in dadaistischem Effekt oder bloß vordergründiger Akustik erschöpfen. Vielmehr gelingt der 1959 geborenen Komponistin mit diesem Parcours an Alltagsgegenständen wirklich komponierte Musik. Zugleich versteht sie die Utensilien auf eine eindrücklich sprach- und bildhafte Weise einzusetzen, so dass sich beim Hören ständig imaginäre Dialoge, Arien, Situationen und ganze Szenerien assoziieren lassen. Entscheidend dafür ist ein Kontinuum aus konkreten Geräuschen, elektronischen Zuspielungen, herkömmlichen Instrumentalklängen sowie Tier-, Sprech- und Singstimmen, die sich wechselseitig durchdringen, konterkarieren und sowohl klanglich als auch semantisch neu beleuchten.

Die Einspielung durch das Schlagquartett Köln, das Cellotrio blu, die Pianistin Helena Bugallo sowie die Vokalisten Sylvia Nopper, Truike van der Poel und Mat­thias Horn unter der Leitung von Erik Oña besticht durch rückhaltlosen Einsatz der Musiker und technische Brillanz. Den unterschiedlich erzeugten Klängen rückt die Mikrophonierung in einer Weise auf die Pelle, die beim Abhören der CD die Ohren direkt an die Kontaktstellen zu legen scheint, an denen Stahlkugeln auf Cellosaiten oder Schwämme auf Luftballons treffen. Auch dem stumpfesten Ohr bleibt da nichts anderes übrig, als „hellhörig“ zu werden.

Carola Bauckholt, „Hellhörig“, Darmstadt: Coviello Contemporary, 2010.

Documented Electronics: a-Musik

Fehlen bei der Einspielung von Bauckholts Musiktheater notgedrungen die sichtbaren Aktionen von Schlagen, Schleifen, Reiben, Schütteln et cetera, die beim bloßen Hören nur zu erahnen sind, so liefert die neue CD-Reihe „Noise of Cologne“ überwiegend rein radiophone Arbeiten von Kölner Komponisten, Elektronikern, Hörspielmachern, Klang- und Intermedia-Künstlern. Und doch wirkt auch hier das Geräusch wie ein Brückenkopf, der von der neuen Musik weg zu völlig anderen Stilen, Sparten, Medien und Kunstformen führt. Herausgeber der neuen Serie ist „Mark e. V.“, ein Zusammenschluss der Kölner Elektronik-Szene, der seit zwei Jahren auch die „reiheM“ für Gegenwartsmusik, Elektronik und neue Medien veranstaltet. Ziel der CD-Serie ist eine genreübergreifende Bestandsaufnahme der originellsten elektroni­schen Musik „made in Cologne“. Dabei meint „Noise“ nicht das populäre Sub­gen­re, wie es in Clubs oder auf Dance­floors wummert, selbst wenn sich vereinzelte Affinitäten dazu heraushören lassen.

Bereits die siebzehn Titel der ersten CD lassen die Bandbreite der Kölner Elektronikszene erahnen. Gleich zu Beginn verwandelt Harald Muenz das in Ravels berühmtem „Bolero“ auskomponierte Crescendo von Lautstärke und Klangfarben zu einem schillernden Obertonspektrum. Siegfried Koepf verschiebt leise Glissandi so langsam im Mikrobereich gegeneinander, dass Interferenzen entstehen, die zuweilen so schnell werden, dass sie in neue Tonhöhen umschlagen. Peter Behrendsen ist mit einem Auszug aus seiner Sprachkomposition „Atem des Windes“ vertreten. Aus hundertzwanzig gesprochenen Namen regionaler Winde aus aller Welt schafft der Begründer der seit 1995 jährlich stattfindenden Klangkunstreihe „Brückenmusik“ im Hohlkörper der Deutzer Brücke über dem Rhein ein unablässig stürmendes Sausen und Brausen. Teil der „Brückenmusik 3“ 1997 war die jetzt als Ausschnitt auf der CD enthaltene Installation „[X = op (X )]2“ von hans w. koch, welche mittels Rückkopplungen die Eigenschwingungen der Brückenkon­struk­tion hörbar machte.

Frank Schultes weiche Klangwolken bewegen sich am Rande von Ambiente-Sound, der in coolen Etablissements für Atmosphäre sorgen soll. Doch zuweilen fahren hochenergetische Akzente dazwischen, die bei Live-Aufführungen seiner Musik wie Echolote den Raum abtasten. Das Posaunen-Laptop-Duo „Männer mit Motoren“ lässt es regelrecht krachen. In „Blasenwerfer + Phrasendrescher“ fusionieren Sven Hahne und Matthias Muche instrumentale Klänge mit digital generierten und transformierten sowie mit Sprache und Computergraphiken. Das Duo Thomas Lehn und Markus Schmickler fabriziert in seinen „Überschreitungen des Pragmatismus“ mit Analog-Synthesizer und Laptop ein irres Klanggewitter aus Kurzschlüssen, Funkenschlag, Elektrosmog, Kabelbrand und zerschossener Festplatte. Ähnlich fulminant inszeniert Robert Vater in „Ügüg“ den Amoklauf eines durchgeknallten Flipperautomaten. Die Klangkünstler C-Schulz & E. X. Randomiz begeben sich im Soundscape „Das Ohr am Gleis“ per ICE und rasselnden Güterzügen auf eine Hörreise zwischen dem westdeutschen Eisenbahnknotenpunkt Köln und dem sibirischen Murmansk entlang von Schienen, Schwellen, Weichen, Bahnschranken, Reparatur- und Wartehallen.

„Noise of Cologne“, Köln: a-Musik, 2010.

Präpariertes Klavier: Joana Sá

Wichtiger Motor bei der Emanzipation des Geräuschs war ausgerechnet auch das Polyphonie- und Harmonie-Instrument Klavier. Schon Bartók und Strawinsky entdeckten im Pianoforte das Schlaginstrument, das es von seiner Hammermechanik tatsächlich ist. Henry Cowell forcierte den perkussiven Charakter durch die Verdichtung von Akkorden zu Clustern. Und John Cage schließlich entlockte dem Instrument die Klangvielfalt eines ganzen Schlagzeugsammelsu­riums, indem er auf und zwischen den Klaviersaiten Schrauben, Gummis, Holzkeile, Metallklammern, Kugeln, Ketten et cetera anbrachte, um die Ein- und Ausschwingzeiten der Saiten zu manipulieren und völlig andere Klänge zu erzeugen.

In der Tradition von Cages „prepared piano“ steht auch die Performance „through this looking glass“ der portugiesischen Pianistin Joana Sá. Der Titel ist eine Anspielung auf Lewis Carrolls „Alice’s Adventures in Wonderland“. Tatsächlich geht es skurril und phantastisch zu. Gleich zu Beginn erscheint das präparierte Klavier wie in einem Zauberspiegel gebrochen als metallisches Gong- oder balinesisches Gamelan-Orchester. Es folgen lang nachhallende Schläge wie auf einem leeren Stahltank, hämmernde Bässe und schelle Impulssalven, die wie Schüsse explodieren. Mal wird der Flügelkorpus mit Schlagzeug-Schlägeln traktiert, so dass harte Riffs wie in Heavy Metall und Industrial entstehen. Ein anderes Mal sirrt ein zartes Klingeln über weiche Flächen wie von sphärischen Streichern oder einer indischen Sitar.

Das Klangspektrum ist immens und lässt oft überhaupt nicht mehr an Klavier denken. Hinzu kommen elektronische Verstärkungen und Zuspielungen sowie eine sicht- und hörbare Installation aus kreisenden Mobiles, Uhren, Kinderspielzeugen und rasselnden Maschinchen mit Aufziehmechanik, die auf spinnenlangen Beinen klappernd durch den Raum wackeln. Zentrale Rolle spielt ein Spielzeugklavier als blecherne kleine Schwester des großen Konzertflügels. Dagegen bleiben Anspielungen auf Schumanns „Kinderszenen“, welche die Abschnittstitel suggerieren, im Verborgenen. Dem Hörer erschließt sich ein wie im Spiegelkabinett gebrochener fremder Kosmos des scheinbar vertrauten Klaviers.

Die CD ist die erste des neu gegründeten Labels „blinker – Marke für Rezentes“, das sich neben neuer Musik insbesondere hybriden Ansätzen und integrativen Kunstformen zwischen Musik, bildender Kunst, Me­dien­kunst und Literatur widmen möchte. So liegt der CD auch eine DVD mit einem Schwarzweißfilm bei, in dem Daniel Neves die Aktio­nen der Pianistin vor, hinter, im und unter dem Klavier festgehalten und seinerseits noch einmal verfremdet hat.

Joana Sá „through this looking glass“ Köln: blink, 2010.

Perkussion: Michael W. Ranta

Das komplette Spektrum vom distinkten Ton bis zum Geräusch bietet seit jeher das Schlagzeug. Traditionell nur als Rhythmusmaschine oder für Spezialeffekte im Opernorchester eingesetzt, übernahm es in der Musik des zwanzigsten Jahrhunderts wegen seiner Vielseitigkeit eine zentrale Rolle bei der Verselbständigung des Klangs als ästhetische Kategorie eigenen Rechts. Der Kölner Schlagzeuger Christoph Caskel – vielfacher Uraufführungs-Interpret von Werken Stockhausens und Kagels – bezeichnete den Schlagzeuger daher 1964 als den „modernen Instrumentalisten par excellence“. Zur selben Spezies gehört Michael W. Ranta. 1942 in Minnesota/USA geboren, war er während der sechziger und siebziger Jahre einer der wichtigsten Interpreten neuer Musik. 1967 kam er nach Deutschland. Nach fast zehnjährigem Aufenthalt in Taiwan lebt er seit 1980 in Köln.

Als Schlagzeuger, Komponist und Improvisator arbeitete Ranta mit verschiedenen Künstlern und Formationen zusammen, darunter Harry Partch und Stockhausens dreimonatiges Gastspiel auf der Weltausstellung in Osaka 1970. Zudem ist Ranta eine zentrale Figur der musikalischen „New Age“-Bewegung. Frühes Beispiel dieses durch fernöstliche Philosophie beeinflussten, evolutionären und nicht ego-zentrierten Ansatzes liefern die freien Improvisationen, die Ranta 1970 in Hamburg aufgenommen hat. Mit bei dieser „all-night session“ dabei waren der kanadische Schlagzeuger, Keyboarder und Posaunist Mike Lewis sowie der Elektroniker und Gitarrist Conny (Konrad) Plank. Beide waren auch in der Szene des Alternativ-Pop aktiv, auch gemeinsam mit Brian Eno und Gruppen wie Guru Guru, CAN und anderen. Zusammen mit Ranta traten beide unter dem Namen „Wired“ auf. Erst jetzt hat Ranta diese faszinierenden Aufnahmen auf einer Doppel-CD beim belgischen Label Metaphon herausgebracht.

Der Einfluss von repetitivem Minimalismus, Beat Music und Psychodelic Rock auf diese Improvisationen ist unverkennbar. Alle vier Tracks entfalten nahtlose Klangfolgen, deren verschiedene Energiezustände, Räume und Atmosphären gleichsam traumhaft ineinander übergehen. Sound- und Rhythmusschichten überlagern sich zu fluktuierenden Flüssen, deren Verdichtungs- und Steigerungsdramaturgien rauschhafte Qualitäten entfalten. Die Farbigkeit und pulsierenden An- und Entspannungen dieser Musik wirken ungemein suggestiv. Sie ziehen in Bann und vermögen auch ohne Einnahme bewusstseinserweiternder Stimulantien meditative Zustände herbeizuführen. Indem der Hörer an die Urgründe der Musik in Klang, Rhythmus und Tanz geführt wird, gewinnt er zugleich den Eindruck, ihm selbst würden archaische Tiefenschichten der eigenen Seele geöffnet.

Betitelt hat Ranta seine Improvisatio­nen mit dem Zentralbegriff des traditionellen japanischen Zen-Buddhismus „Mu“, der soviel wie gespannte Leere oder Stille zwischen kommenden und gehenden Ereignissen meint. Mal klingt die Musik wie Terry Rileys Wiegenstück der US-amerikanischen Minimal Music „In C“ von 1964. Mal schleudern hochgradig verzerrte E-Gitarren gellende Impulse in bodenlose Echoräume, in denen gekratzte Donnerbleche rauschen und analoge Synthesizer-Elektronik in allen Regenbogenfarben schillernde Blasen wirft. Dann wieder verbreiten sanft an- und abschwellende Bögen oder singulär vertröpfelnde Glockenschläge Momente großer Ruhe. Im dritten Track – bei dem Ranta die Originalaufnahme von 1970 nachträglich mit neuem Schlagzeugpart kombinierte – sorgt die spezielle Akustik des Aufnahmeorts – ein Luftschutzbunker – für einen besonderen Klangraum. Auch der Raumcharakter der drei Originalaufnahmen von 1970 ist von besonderer Plastizität und Tiefenschärfe. Und zuguterletzt ist auch die Aufmachung der CD mit Leinen-gebundenem Schmuckschuber sensationell schön.

Michael Ranta – Mike Lewis – Conny Plank: Mu, Heusden-Zolder: Metaphon, 2010.

Wandelbare Stimme: Bettina Wenzel

Stärker als jedes Geräusch vermitteln Laute der menschlichen Stimme bestimmte Expressionen und Situationen. In dem Maße, in dem Hecheln, Stöhnen, Jauchzen, Wimmern, Fauchen und Keuchen vom Normalmaß des Sprechens und Singens abweichen, suggerieren sie unwillkürlich entsprechende Körper- und Seelenzustände, Schmerz, Lust, Wut, Angst oder Freude. Zur täglichen Begleitmusik unserer Physis und Psyche gehören Knurren, Schnarchen, Räuspern, Flüstern, Zischen, Kreischen et cetera. Nähert sich die Stimme sprachlichen Artikulationsweisen, ohne sie wirklich zu erreichen, wird dies schnell als Deformation erlebt, als Stottern, Lallen, Glucksen. Schließlich werden Vokaltechniken jenseits des abendländischen Belcanto-Ideals, etwa nasale oder solche mit ständig fluktuierender Tonhöhe und Farbe, schnell mit charakteristischen Stimmen der Völker identifiziert.

Dieser Hintergrund macht ersichtlich, warum es so schwer ist, das Klangspektrum der menschlichen Stimme rein für sich als musikalisches Material hörbar zu machen, ohne automatisch situative oder theatralische Aspekte zu beschwören. Doch genau dieses Kunststück gelingt Bettina Wenzel. Wie in allen ihren Performances der letzten Jahre sind auch auf ihrer neuesten CD normale Gesangstöne nur rare Ausnahmen von der Regel verschiedenster Arten von Zischeln, Schnalzen, Pressen, Meckern. Die Stimmkünstlerin wechselt virtuos zwischen Brust- und Kopfstimme sowie völlig unterschiedlichen Artikulationsweisen und extremen Lagen. Auf höchstes Zwitschern und Quietschen folgt dumpfes Grunzen und Glucksen. Insbesondere im Schlussstück „Solo“ begibt sich ihre sagenhaft bewegliche Stimme auf höchst virtuose Schlingerkurse.

Wenzel verwendet das gesamte Vokalspektrum zwischen offenem und extrem gepresstem Singen sowie jede Form vorsprachlicher Lautäußerungen. Doch statt affektiert, exaltiert oder hysterisch wirken ihre Vokalkaskaden geradezu instrumental, neutral und distanziert. Wenzel emotionalisiert die Laute nicht künstlich, sondern führt sie vor wie andere Geräuschklänge. Dazu trägt auch bei, dass sie ihre Vokalperformances abwechselnd oder parallel mit „Field Recordings“ kombiniert, die sie zwischen April und September 2009 in der westindischen Metropole Mumbai (Bombay) anfertigte. Wie Biologen Botanisiertrommeln füllen, fing Wenzel mit dem Mikrophon Klänge der Dreizehn-Millionenstadt ein: Sprache, Verkehrs-, Tier-, Natur- und Wettergeräusche sowie indische Popmusik. Zur Begleitung dienen auch ein knurrender Waldteufel und knackende PET-Flaschen.

Idee des Albums ist es, alle Bilder, Düfte, Farben, Geräusche und Geschmäcker, die der Künstlerin auf Spaziergängen durch die Megacity begegneten, in ihr ureigenstes Ausdrucksmedium zu übersetzen. Mit ihrer wandelbaren Stimme hält sie alle Impressionen wie in einer Art vokalem Tagebuch fest. So wie sich in dieser Stadt jeder Schritt zwischen den Extremen von Reichtum und Elend, Luxus und Dreck bewegt, begibt sich auch Wenzel auf Gratwanderungen zwischen stimmlichen Extremen. In den Echos dieser Ausnahmestimme erlebt der Hörer die Polyphonie des urbanen Molochs: Noises of Mumbai.

Bettina Wenzel, „Mumbai Diary“, Hanau: Gruen­rekorder, 2010.

Ekstatisch: Giacinto Scelsi

Vom Wandel reiner Instrumental- und Vokalklänge zu mikrotonalen Schwebungen und geräuschhaften Komplexen lebt auch die Musik von Giacinto Scelsi. Die Lineamente, Figuren und Gesten seiner vier Werkzyklen für Solo-Bratsche entfalten ihren eigentlichen Lebensatem erst durch zahlreiche Varianten geräuschhafter Tongebung, vom knarzenden Anreißen der Saiten mit kraftvoll aufgedrücktem rauhem Bogenhaar bis zu hauchigem Klirren der Saiten bei lediglich flüchtiger Bogenberührung. Wie im zweiten Satz von Scelsis frühem Zyklus „Coelocanth“ sind auch in seinen späteren Werken „Manto“, „Xnoybis“ und „Three Studies“ immer wieder Doppelgriffe zu spielen, bei denen der Bratschist eine Saite ordinario streicht, während er gleichzeitig auf einer oder zwei anderen Saiten eine klangfarblich völlig verschiedene zweite oder gar dritte Stimme mit knisternden Perforationen, Vibrati, flüsternden Akzenten oder atemhaftem Rauschen gestaltet. So entstehen mehrstimmige Passagen, faszinierende Klangfarben-Polyphonien und Mixturen.

Die extremen spieltechnischen Schwierigkeiten und interpretatorischen Anforderungen dieser Solowerke meistert Vincent Royer mit fabelhafter Souveränität. Der Bratschist des Kölner Gürzenich-Orchesters tritt häufig auch mit Soloprogrammen und als Improvisator auf. Auf der neunten CD der „Giacinto Scelsi Edition“ – 2008 vom WDR Köln produziert – gelingt Royer beispielhaft eben das, was der Scelsi-Forscher und Scelsi-Schriftenherausgeber Friedrich Jaecker im instruktiven Beihefttext vom Interpreten der ekstatisch wilden Musik Scelsis fordert, „das Streichinstrument weit über die Grenze ,klassischen‘ Wohlklangs hinaus[zu]treiben“. Doch ist es bei Royer nicht äußerliche Emphase, die den Aufnahmen ihre Intensität verleiht. Vielmehr speist sich diese aus der perfekten Kontrolle des In­struments auch und gerade in den oft schwer beherrschbaren spieltechnischen Situationen jenseits der klassischen Tongebung.

In „Manto“ von 1957 hat der Bratschist im letzten Satz zusätzlich eine virtuose Vokalpartie zu bewältigen. Scelsi fordert für das Stück ausdrücklich „un esecutore“, also einen einzigen Ausführenden. Die nach einer orakelnden Sybille des antiken Griechenland benannte Komposition ist also kein Duo, obwohl die anspruchsvolle Instrumental- und Vokalpartie jeweils einen eigenen Musiker zu verlangen scheint, sondern ein Solo außer Rand und Band. Der Violaspieler muss sein Spiel wie in Trance zum archaischen Gesang der antiken Prophetin transzendieren, der nur aus Vokalen und Konsonanten besteht und damit letztlich inhaltlich ebenso unverständlich bleibt wie die instrumentale Musik. Wie sehr sich Scelsi von asiatischer, vor allem orientalischer Musik anregen ließ, zeigt besonders deutlich der letzte Satz der „Elegia per Ty“, die Scelsi bereits 1958 improvisiert haben soll, die jedoch erst 1966 von einem seiner Assistenten notiert wurde.

Einen Klangrausch anderer Art bietet „Xnoybis“ von 1964, das Scelsi selbst für sein radikalstes Werk hielt – „Ein Stück über einen einzigen Ton, für ein einziges Instrument“ –, das dennoch in keinem Moment eindimensional wirkt, im Gegenteil. Die große Varianz und Nuancierung der Klanggebung sowie die sprunghaften Wechsel zwischen den Oktavlagen erzeugen ein permanent fluktuierendes, sich auffächerndes und wieder zusammenziehendes Klangband. Simultane Überlagerungen von Streichen und Zupfen auf mehreren Saiten entfalten eine Opulenz an Farben, die erstaunen lässt, dass sie von einer einzigen Bratsche stammt. Doch Vincent Royer, der sie spielt, ist ein Meister und kongenialer Steuermann auf Scelsis „Reise ins Innere des Klangs“.

Giacinto Scelsi Volume 9: Works for Viola, New York: mode records, 2011.

„Stabat mater“: vier Komponistinnen

Instrumentale und vokale Geräuschklänge gehören längst zum Fundus der neuen Musik. Das beweist auch das von Irene Kurka initiierte und vom Landesmusikrat NRW geförderte Konzert- und CD-Projekt „stabat mater dolorosa“. Die Sopranistin begeisterte vier Komponistinnen für die Idee, über diese hochmittelalterliche Dichtung über die Schmerzensmutter Maria Stücke für ihr seit 2008 mit dem Cellisten Burkart Zeller bestehendes Duo „socell 21“ zu schreiben. Die kleinstmögliche Dialogform erwies sich dabei sowohl aus musikalischen als auch theologischen Gründen als glücklich, da sie Möglichkeiten zur Ausdeutung der Beziehungen zwischen Mutter und Sohn, Maria und Gott, sowie Heiland und erlösungsbedürftiger Mensch­heit bietet. Obwohl die vier Komponistinnen aus unterschiedlichen Generationen stammen und verschiedene Stilistiken verfolgen, macht die Abfolge ihrer vier Werke einen erstaunlich stimmigen Eindruck, als handele es sich um Stationen eines einstündigen Passionstableaus.

Die in Berlin lebende Japanerin Makiko Nishikaze komponierte mit „st-mt“ ein fein ziseliertes Klangband, von dem sich kaum ausmachen lässt, ob es aus einem monodischen Faden gesponnen ist oder aus zwei Garnen besteht, die sich zu einem Strang verfilzen. Der Cellist verzweigt Einzeltöne zu Doppelgriffen, Flageoletts, mikrotonalen Schwebungen und geräuschhaften Komplexen, die immer wieder in die Einstimmigkeit zurücksinken. Die Sopranistin komplettiert diese Aktionen zur Dreiheit in der Einheit mit klangverwandtem Flüstern, Hauchen, Zischen und Singen. Indem auch sie in nahtlosem Wechsel weiche Liegetöne und Atemgeräusche artikuliert, entsteht gleichsam eine einsame Zwiesprache der Muttergottes mit sich, Gott und dem toten Sohn.

Wie das Psychogramm einer Traumatisierten beginnt „crux“ der Kölner Komponistin Christina C. Messner mit fassungslosem Starren auf den schrecklichen Kreuzestod. Die verzweifelte Sprachlosigkeit des ersten Entsetzens „da, da, da, da, da …“ weicht endlich der stillen Trauer eines von Liebe getragenen Klagegesangs, der am Ende zu weichen Einzeltönen erstarrt. Mit eher atmosphärischem demnach Herkunft und Charakter identifizierbarem Rauschen beginnt das „stabat mater“ von Eva-Maria Houben. Von den extrem leisen Klängen lässt sich kaum ausmachen, ob sie von CD-Zuspielungen oder vom Cellisten stammen, der mit ruhiger Zärtlichkeit über Saiten, Steg, Saitenhalter, Stachel und Stimmkas­ten seines Instruments streicht, als salbe er die geschundenen Glieder des Heilands, über die sich zugleich der helle, klare Sopran mit lamentoartigen Tonfolgen beugt. Auf der CD verflacht indes der mediale Wechsel zwischen Sicht- und Hörbarem, Instrumentalem und Elektronischem.

Den Abschluss als schnelles Finale bildet Brigitta Muntendorfs „hin und weg“, das sich auf Flagellanten des vierzehnten Jahrhunderts bezieht, die zu ihren Selbstgeißelungen das „Stabat mater“ sangen, um das private Leid Marias zur öffentlichen Nachahmung der Leiden Christi zu machen. Zum stakkato gesprochenen Text knallen Pizzikati und Schläge wie Peitschenhiebe auf den Cellokorpus, wo sie auf den Saiten wie Striemen nachklingen und zu hellen Tremoloketten aufbrennen, bis sie in ächzenden Perforatio­nen auslaufen und der nächste Schlag erfolgt. Die spezifische Raumcharakteristik, teils auch szenische Qualität und die Aura der Kirchen in Köln, Düsseldorf, Hamburg und Dortmund, an denen die Werke aufgeführt wurden, vermag die CD freilich nicht abzubilden.

stabat mater dolorosa, Dortmund: Makro Musikverlag, 2011.

Stiefkind Blockflöte: Lucia Mense 

Der Initiative einer einzelnen Musikerin verdankt sich auch das CD-Album „Electronic Counterpoint“ des ebenfalls neuen Labels „satelita Musikverlag“ der beiden Kölner Laptop-Musiker Marion Wörle und Maciej Sledziecki, dessen Vertrieb von a-Musik übernommen wird. Die CD ist umso bemerkenswerter, als es sich um den Mitschnitt eines Blockflöten-Solo­rezitals handelt, das Lucia Mense 2009 als Teil der Kölner „reiheM“ im inzwischen nicht mehr existenten Praxis Projektatelier Staab gab. Trotz mancher Versuche ist die weithin schlecht beleumundete Blockflöte ein Stiefkind zeitgenössischer Komponisten geblieben. Dass sie dennoch in der neuen Musik verankert ist, verdankt sie maßgeblich der Kölner Blockflötistin. Die Universalistin gebietet über die kleine Großfamilie von der Sopran- bis zur Subbassflöte und spielt sowohl solistisch als auch in verschiedenen Ensembles Musik aus Mittelalter, Renaissance, Barock und Gegenwart. Die in den letzten Jahren von ihr angeregten und uraufgeführten Kompositionen sind allesamt an den Grenzen von Ton und Geräusch, Live- und Zuspiel, Solo und Polyphonie, Instrument und Computer angesiedelt.

In Marc Sabats sechsteiliger Suite „Erb­sen“ erhält ein Klangband aus vier zuvor eingespielten und zur live agierenden Solistin wiedergegebenen Blockflötenpartien eine Tiefenstaffelung, die das Aktions-Reaktionsverhältnis zwischen den Stimmen verdeutlicht und zugleich – vor allem im „Menuett“ – die polyphone Dichte eines zwitschernden Urwaldtableaus entfaltet. Auch Manfred Stahnkes „Impansion/Expansion“ fächert – wie der Titel schon andeutet – den bereits durch Dynamik, Mikroglissandi und Atemanteile differenzierten Einzelton zu volltönenden, wolkig schwebenden Schwärmen auf. Als ruhig pulsierender Energiefluss entfaltet sich „Black Smoker“ von Ulrich Krieger. Mit Nähe und Entfernung zwischen dem originalen Blockflötenklang und seinen digitalen Mutanten spielen auch „Re.re Record a: re“ von Sascha Lino Lemke und „Tsunami“ von Georg Hajdu, wo sich die Solopartie zu aufbrausenden Wellen multipliziert, die durch wechselnde Hallräume rasen. Die Qualität der Live-Mitschnitte ist leider minderwertig und wird durch hohen Rauschanteil, Saalgeräusche und Applaus beeinträchtigt.

Electronic Counterpoint, Köln: satelita, 2011.