MusikTexte 132 – Februar 2012, 81–82

Pochen gegen Potemkinsche Watte

Der Ausklang des bundesweiten „Netzwerks Neue Musik“ in Köln

von Rainer Nonnenmann

Zwiespältig wie runde Todestage berühmter Komponisten, die im Grunde mehr zu beklagen denn zu feiern wären, ist auch das Ende des auf vier Jahre befristeten „Netzwerks Neue Musik“ der Kulturstiftung des Bundes. Deren Fördermittel haben von Anfang 2008 bis Ende 2011 in fünfzehn lokalen und regionalen Netzwerken vieles bewirkt, und an den meisten Stellen wird es auch in Zukunft weitergehen. Die Initiativen in Augsburg, Kiel, Köln, Freiburg, Niedersachsen, Oldenburg und Rheinland-Pfalz werden mit kommunaler beziehungsweise Landesförderung fortgesetzt. Hier steht die neue Musik finanziell besser da als vor vier Jahren. In Moers, Essen und dem Ruhrgebiet, Dresden, Stuttgart und dem Saarland wird man aus eigener Kraft zumindest einen Teil der Projekte fortzusetzen versuchen. Nur für die Zusammenschlüsse in Berlin, Hamburg und Passau bedeuten die wegfallenden Bundesmittel das Ende. Das ist bedauerlich. Doch insgesamt fällt die Bilanz positiv aus. Sie zeigt, dass das von der Kulturstiftung des Bundes initiierte Netzwerk Neue Musik nicht nur schnelllebige Strohfeuer entfacht, sondern in den meisten Fällen bleibende Strukturen angestoßen hat.

Die Zahlen sind beeindruckend: Mit über dreitausend Veranstaltungen erreichte das Netzwerk während der vier Jahre mehr als dreihunderttausend Besucher. Die dafür insgesamt aufgewendeten vierundzwanzig Millionen Euro kamen zu gleichen Teilen vom Bund wie aus den fünfzehn örtlichen Netzwerken. Der da­­raus resultierende Förderschnitt von achtzig Euro pro Besucher liegt unter der durchschnittlichen Subvention eines Opernbesuchs, zielte aber auf ungleich Ambitionierteres, weil es hier nicht um die Pflege eines mehr oder minder alteingespielten Repertoires ging, sondern um die Förderung neuer Kooperationen zur Vermittlung neuer Musik. Die insgesamt zweihundertfünfundfünfzig Partner in den fünfzehn Städten und Regionen bildeten große städtische und Landesinstitu­tionen, Ausbildungseinrichtungen, Rund­­funkanstalten, Orchester, Konzert- und Opernhäuser sowie freie Ensembles, Verbände, Vereine, Veranstalter, Spielstätten, Initiativen und verschiedene sonstige Einrichtungen. Mit Workshops, Tagungen, Symposien, Gesprächsrunden, Vorträgen, unterschiedlichsten Schulprojekten, Vermittlungs- und Fortbildungsprogrammen für Kinder, Jugendliche, Erwachsene und bestimmte Berufs- und Bevölkerungsgruppen – darunter auch Musiklehrer und professionelle Musiker als wichtige Multiplikatoren – haben sie alle dafür gesorgt, das Negativimage der zumeist als spröde, hermetisch und schwer zugänglich beleumundeten neuen Musik zu verbessern und diesem spannenden Welt- und Selbsterfahrungsmedium breitere Publikumskreise zu erschließen. Dabei wurde vier Jahre lang „Vermittlung“ allerorten so groß geschrieben, dass der Begriff inzwischen bei manchen allergische Reaktionen hervorruft und auf dem besten Wege ist, zum Unwort der Szene zu verkommen. Indes gab es auch jede Menge Konzerte und Performances verschiedenster neuer Musik in unterschiedlichsten Formaten und Präsentationsformen, teils an ungewöhnlichen Orten oder im öffentlichen Raum sowie in Kontextualisierungen mit Theater, Film, Tanz, Rockmusik, Licht, Farben, Internet, Industrie, Arbeitswelt und Landschaft, in denen sich Musik auch ohne weitere musikpädagogische Zutaten selbst vermittelte. Allein sechshundert Uraufführungen widerlegen den oft vorwurfsvoll geäußerten Eindruck, das Netzwerk habe über all dieser Vermittlungsarbeit die aktuelle Produktion neuer Musik vernachlässigt.

Insofern gab es beim bundesweiten „Netzwerkausklang“ gute Gründe zum Feiern. Die zweitägige Abschlussveranstaltung fand Mitte Dezember 2011 nicht umsonst in Köln statt. Immerhin war und bleibt das Netzwerk „ON – Neue Musik Köln“ mit fünfunddreißig beteiligten Partnern deutschlandweit eines der größten und aktivsten Netzwerke, das jährlich mehr als achtzig Konzerte veranstaltete und dank weiter gesicherter Förderung durch die Stadt in Höhe von jährlich hundertfünfzigtausend Euro beste Aussichten auf erfolgreiche Weiterarbeit hat. Für Köln als Schauplatz des zentralen Zapfenstreichs sprach auch der Deutschlandfunk. Zusammen mit Deutschlandradio Kultur sowie der Neuen Zeitschrift für Musik und nmz-Media sorgte der in Köln ansässige DLF vier Jahre lang als Medienpartner für bundesweite Abbildung und Berichterstattung. Im Kammermusiksaal des Senders waren mehrere Konzerte zu erleben, etwa vom LandesJugendEnsemble Neue Musik Schleswig-Holstein sowie das Projekt eines Zwölfer-Musikkurses einer Schule in Reinbek aus dem Hamburger Projekt „Klangradar 3000“. Höhepunkt bildete eine fulminante Aufführung von Iannis Xenakis’ „Pléïades“ durch das Schlagquartett Köln mit zwei weiteren Schlagzeugern als Teil der über Köln hinaus kontrovers diskutierten Konzertreihe „Schlüsselwerke der Neuen Musik“. Als Referenzen an die lokalen Säulenheiligen der neuen Musik gab es zudem Aufführungen von Karlheinz Stockhausens zwölf Tierkreismelodien vom Glockenspiel des Rathausturms sowie von Mauricio Kagels „Zwei-Mann-Orchester“ in der Kunst-Station Sankt Peter. Hauptsache waren jedoch im DLF-Foyer verschiedene Informationsstände, Filmdokumentationen und Gesprächsrunden, bei denen die zahlreich angereisten Netzwerker eine Auswahl ihrer Unternehmungen präsentierten.

Versäumt wurde leider eine profunde Evaluation und Dokumentation der in den einzelnen Projekten geleisteten Vermittlungsarbeit. Parallel zur Laufzeit des Netzwerks hätte die Kulturstiftung aus der Masse an Veranstaltungen die erfolgreichsten Ansätze und Modelle herausfiltern und so aufbereiten müssen, dass sie auch nach dem Ende des Netzwerks weiteren Anwendungen allgemein zugänglich gewesen wären. Dazu hätte es neben dem künstlerischen Leiter Bojan Budisavljevic´ und dem Geschäftsführer Florian Bolenius einer eigenen hauptverantwortlichen Kompetenz wie der Musikwissenschaftlerin Barbara Barthelmes bedurft, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin indes anderweitig in Beschlag genommen wurde. Die einzelnen Akteure vor Ort verfügten weder über den nötigen Überblick noch über die erforderliche Zeit, um dies leisten zu können, da sie viel zu sehr mit der Planung, Durchführung und Verwaltung ihrer Projekte ausgelastet waren. Besonders gelungene Vermittlungskonzepte in Anleitungen, Arbeitsmaterialien, Büchern, Ton- und Filmaufnahmen festzuhalten und zu weiterer Nutzung zur Verfügung zu stellen, wäre umso wichtiger gewesen, als professionelle Musikvermittlung vielfach immer noch Pionierarbeit auf experimentellem Terrain ist, da die Verbindung verschiedenster Arten von neuer Musik mit unterschiedlichsten Publikumskreisen aller Altersgruppen, Gesellschafts- und Bildungsschichten ein denkbar komplexes Gefüge bildet, in dem sich Funktionen und Reaktionen zwar ausprobieren, kaum aber erfolgversprechend prognostizieren lassen. Doch statt einer qualifizierten Bilanz lieferte die siebte und letzte Ausgabe des jeweils in einer Auflage von sechsundzwanzigtausend Stück erschienenen Netz­werk-Magazins neben rekapitulierenden Essays vor allem Statistiken über die fünfzehn Netzwerke. Das trockene Zahlenwerk über Besucher, Veranstaltungen, Orte, Reihen, Publikationen, Presseresonanz, Finanzierungen sowie Partner, Träger und Leiter diente mehr der abschließenden Selbstrechtfertigung: Ein Extrakt an Informationen ohne wirklichen Inhalt. Auch zwei Podiumsgesprächsrunden konnten selbstredend kein erschöpfendes Resümee des dafür viel zu großen Gesamtunterfangens leisten.

In einem von Holger Noltze moderierten Gespräch „Zu Stelle und Wert der Neuen Musik in Deutschland“ erinnerte Hortensia Völkers, künstlerische Direktorin der 2002 gegründeten Kulturstiftung des Bundes, daran, wie die Stiftung nach dem „Tanzplan“ auch ein Förderprojekt für die neue Musik auflegen wollte, da hierzulande kein flächendeckender Schul­musikunterricht mehr gegeben werde, so dass der Musik, zumal der neuen, das Nachwuchspublikum verloren gehe und dies zunehmend Legitimationsprobleme aufwerfe. Bestätigt wurde diese Diagnose von der Musikwissenschaftlerin Helga de la Motte-Haber, die eine aktuelle Untersuchung des Allensbacher-Instituts anführte, wonach auf der Prioritätenliste von Jugendlichen in Deutschland die Kultur insgesamt während der letzten Jahre dramatisch abgerutscht sei. Angesichts dieses Umstands könne man – so Völkers weiter – mit den verfügbaren Stiftungsmitteln, die etwa dem Etat eines mittleren Opernhauses entsprächen, nur punktuell „homöopathische Interventionen“ starten. So hätte man eben auch für das Netzwerk aus zweiundachtzig Bewerbungen eine Auswahl von fünfzehn Projekten treffen müssen. Doch handle es sich letztlich nicht um ein finanzielles Problem, sondern um eines der Prioritätensetzung. Sofern diese Einschätzung richtig ist, stellt sich die Frage, ob das Netzwerk Neue Musik die richtige Antwort auf dieses Problem war? Dieselbe Frage wirft das nachfolgende Stiftungsprojekt „Kulturagenten“ auf, bei dem Schulen mit außerschulischen Trägern kultureller Bildung vernetzt werden sollen. Denn wenn der Verfall kultureller Bildung vor allem eine Folge sich nachteilig auswirkender Entscheidungen kunstferner Funktionärsträger in Politik, Bildung, Medien und Industrie ist, dann bedarf es in erster Linie der politischen Einflussnahme auf diese Kräfte statt konkreter Vermittlungsprojekte, die im verwalteten Mangelsystem zwangsläufig nur Lückenbüßerfunktion erfüllen, während die herrschenden Prioritäten beziehungsweise Prioritäten der Herrschenden und daraus resultierenden Verteilungsstrukturen unangetastet bleiben. Ist erstmal der Kopf vom Rumpf getrennt, helfen auch keine „homöopathischen Interventio­nen“ mehr.

Einer der Hunderte von Akteuren des Netzwerks war Robin Hoffmann, der während der vergangenen vier Jahre Dinge getan zu haben gestand, die er sonst nicht gemacht hätte, weil er sich als Komponist für sie nicht primär zuständig sieht. Er war mit Vermittlungsprojekten bewusst nicht in den – zumeist ohnehin ausfallenden – schulischen Musikunterricht gegangen, weil dort nur Schüler erreicht würden, die von sich Interesse an Musik hätten, sondern in den Mathematik-, Sport- oder Deutschunterricht. Neben solcher Guerillataktik plädierte Hoffmann auch für das Widerständige neuer Musik im Gegensatz zu „staatstragender Saturiertheit“. Dagegen betonte Christian Scheib, Leiter des Musikprotokolls im Steirischen Herbst und Kuratoriumsmitglied des Netzwerks, dass es ein großer Erfolg sei, wenn inzwischen Peter Ablinger im Wiener Musikverein und Lachenmann von den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle aufgeführt werden. Tatsächlich geht es weniger um das ästhetische Problem einer möglicherweise „staatstragenden“ neuen Musik, als vielmehr um das politische Skandalon, dass kulturelle Bildung heute immer weniger vom Staat getragen wird.

Im zweiten Gespräch, moderiert vom Musikreferenten der Stadt Köln, Hermann-Christoph Müller, stellte der Komponist Manos Tsangaris fest, dass die Situation der neuen Musik besser sei als oft gesagt werde, auch und gerade in Köln. Allerdings gäbe es eine „Potemkinsche Watte“, die verschluckt, was sich sehr vital an vielen Stellen entwickelt, doch in den Feuilletons und großen Institutionen nicht wahrgenommen werde. Auch der Musikkritiker Gerhard R. Koch vermisste bei allen Institutionen so etwas wie „kulturpolitische Aggression“. Veranstalter und Hochschulen agierten zu konservativ und zu sehr am Markt orientiert, statt „anarchisch-utopische Potentiale“ zu aktivieren. Reiner Schuhenn, Rektor der Hoch­schule für Musik und Tanz Köln, hielt dem entgegen, dass alle Ausbildungsbereiche der Hochschulen auf neue Berufsfelder reagierten und in Köln die neue Musik aus der Nische des Instituts für Neue Musik auch in andere Studiengänge implementiert werde, so etwa in den 2010/­ 2011 neu geschaffenen Stu­diengang für neue Klaviermusik bei Pierre-Laurent Aimard. Vor dem Hintergrund der Pläne zu einem Kölner „Zentrum Neuer Musik“ warnte Koch vor Neubauten. Die Hamburger Elbphilharmonie sei schon jetzt als „Totgeburt“ absehbar. Lieber sollten bestehende Säle experimentell genutzt werden, da es sich primär um eine Frage der „ästhetischen Distinktion“ handle, weniger um eine der Architektur. Indes schilderte Julia Cloot, Leiterin des Instituts für zeitgenössische Musik an der Hochschule für Musik und Bildende Kunst Frankfurt und neue Präsidentin der Gesellschaft für Neue Musik, dass eine Kooperative aus Hochschule, Ensemble Modern Akademie, Forsythe-Company, Hindemith-In­stitut und Naturhistorischem Museum auf dem Kultur­campus in Frankfurt-Buchenheim einen neuen Saal für Experimente, Produktionen und Präsentationen errichten wird. Einer ähnlichen Kooperation verdankt sich die im November gestartete neue Bi­en­nale für moderne Musik „cresc…“ in Frankfurt und der Rhein-Main-Region. Offenbar bewegt sich auch hier etwas, ganz unabhängig vom Netzwerk Neue Musik, das jetzt zu Ende ist und dem Frankfurt ohnehin nicht angehörte.