MusikTexte 133 – Mai 2012, 75–76

„unn allwedder stiernen firmn am end“

Ein Nachruf auf Hans G Helms

von Rainer Nonnenmann

Er war der Dichter-Bohemien und dandyhafte Ideologiekritiker der Kölner Avantgardeszene der späten fünfziger und sechziger Jahre. Am 8. Juni 1932 im mecklenburgischen Teterow geboren, überlebte Helms den Holocaust dank gefälschter Papiere. Nach dem Krieg verschlug es ihn in verschiedene Auffanglager für „displaced persons“, wo er die Sprachen und Redeweisen anderer Insassen aufschnappte, die er später in sein Buch „Fa:m’ Ahniesgwow“ einfließen ließ. Nach Stationen in Stockholm und den USA als Industriehilfsarbeiter, laienhafter Saxophonist und Student der Vergleichenden Sprachwissenschaft in Cambridge (Massachusetts) – bei keinem Geringeren als Roman Jacobson – ließ sich Helms 1957 in Köln nieder, wo er erstmals 1955 das Studio für Elektronische Musik des WDR besucht hatte, um dar­über eine Reportage für die Zeitschrift „Der Spiegel“ zu schreiben, die dort jedoch nie erschien. Bald gehörte er zum Inner Circle des Studios. Mit den vereinten Sprachkenntnissen der dort aus aller Welt versammelten Komponisten, Mauri­cio Kagel, György Ligeti, Gottfried Michael König, Franco Evangelisti und dem Musik­theoretiker Heinz-Klaus Metzger, unternahm er monatelang eine Kollektiv-Exegese von James Joyces multilingualem Roman „Finnegans Wake“, der zum wichtigsten Vorbild seines eigenen, 1959 vollendeten Buchs „Fa:m’ Ahniesgwow“ wurde. Dank dieses experimentellen Sprachkunstwerks genoss Helms in der Szene schnell Kultstatus als der „deutsche James Joyce“. Trotz weiterer Veröffentlichungen und völlig anderer Tätigkeiten als Publizist, Sprach-, Sozial- und Wirtschaftstheoretiker bleibt Helms’ Name bis heute vor allem mit dieser einen Buchlegende verbunden. Sein Image als „Ein-Werk-Autor“ verstärkte er selbst durch zahlreiche Lesungen aus diesem Buch während der sechziger Jahre und verstärkt wieder seit den neunziger Jahren.

„Fa:m’ Ahniesgwow“ ist zugleich Lese-, Sprech- und Hörtext im Grenzbereich von Literatur und Komposition. Kreuzworträtselartig verschachtelte Text­achsen sowie die babylonische Vielstimmigkeit aus Englisch, Deutsch, Latein, Jiddisch, skandinavischen und slawischen Sprachen – nach Helms’ Angaben insgesamt etwa dreißig verschiedene – machen das Buch zu einem vieldeutig offenen Kunstwerk mit allenfalls vagem Inhalt. Indem das Textmaterial mehrere Aussprachevarianten gestattet, ergeben sich auch entsprechend unterschiedliche semantische Lesarten. Zunächst jedoch hatte Helms an einem Roman mit dem Titel „Ein kleines bisschen Liebe nur, ein Stückchen warmer Haut“ gearbeitet, in dem er anhand der Liebesgeschichte zwischen dem deutschen Juden Michael und Hélène, der Tochter eines finnischen Nazi-Generals, die jüngste Vergangenheit von Diktatur, Weltkrieg und Holocaust verarbeiten wollte. Um aufzuzeigen, wie sehr sich diese Katastrophen samt der bunten Waren- und Werbewelt des westdeutschen Wirtschaftswunders der fünfziger Jahre in die Sprache eingebrannt hatten, entwickelte sich der Roman jedoch schließlich zu einem multilingualen Sprachkunstwerk ohne klare Erzählstrukturen, bei dem die ursprüngliche Liebesgeschichte nur noch in vereinzelten epischen Fragmenten durchscheint. Auf völlig unkonventionelle Weise erzählt „Fa:m’ Ahniesgwow“ die „Fama“ (Geschichte) von den „Ahnen“ (der Nazi-Vätergeneration) im „Amigau“ (der amerikanischen Besatzungszone) mit Adenauers Restaurationspolitik und Wiederbewaffnung, der weiterhin allgegenwärtigen Nazi- und Kriegsvergangenheit und den kollektiven Verdrängungsmechanismen mittels Konsum, Vergnügungslokalen und amerikanischer Unterhaltungsmusik. Zentraler Schauplatz ist das Café und Jazzlokal „Campi“ auf der Kölner Hohe Straße, damals Treffpunkt der jungen Kölner Avantgardeszene aus dem Umkreis des Elektronischen Studios des WDR.

Helms dekomponiert das Sprachmaterial, um es neu zu montieren. Mittels kleiner Buchstabenänderungen kreiert er unheimliche Kontradiktionen wie „Nazigeuner“ oder lapidare Sinnballungen wie „Stalimgrab“. Durch Kompilationen von zwei oder mehreren Wörtern suggeriert er komplexe Bedeutungen. So fasst die Neubildung „katipularisiert“ prägnant zusammen, wie nach der deutschen „Kapitulation“ die westlichen Besatzungszonen bedingungslos in den Kapitalismus katapultiert wurden. Hinzu kommen rein intonatorische Sprechweisen, die selbst bei völlig zerstückeltem Silbengewitter bestimmte Alltagssituationen erahnen lassen. Mal tönt in militärpolizeilichem Schergenschneid „Sardofaksisto“ und fanatisiertem Einpeitscherton „Euch wird ein Fühler erscheinen“, während ein anderes Mal defätistisch dagegen gehalten wird „Hiel Hiel hielt er nur, was er verspricht“. Auf eine litaneiartige „Bet-Arie“ folgt durch minimale Verkürzung des Vokals „e“ zur „Arie de Bett“ eine maximale inhaltliche Wendung zur verbal-lautmalerischen Schilderung einer Kopulation. .

Als Rezitator realisierte Helms zusammen mit Gottfried Michael Koenig im Elektronischen Studio des WDR eine Aufnahme einiger synchroner Textschichten, vor allem der „Struktur I/1“, die aus acht simultanen Textpartien besteht. 1960 erschien das Buch schließlich mit einer Mono-Schallplatte im Kölner Kunstbuchverlag DuMont. Zur Gesamturaufführung gelangte „Fa:m’ Ahniesgwow“ erst 2010 durch das Kölner Sprachkunsttrio „sprechbohrer“, das sich 2004 eigens für dieses Vorhaben gegründet hatte und 2011 bei Wergo eine von Helms autorisierte neunzigminütige Gesamteinspielung auf CD herausbrachte. Zuvor hatte Helms selbst immer wieder Ausschnitte aus seinem Buch öffentlich gelesen: unter anderem 1960 beim „Contre-Festival“ im Atelier der Kölner Malerin Mary Bauermeister, 1961 im Rahmen von Karlheinz Stockhausens Happening „Originale“ sowie 1964 bei den Darmstädter Ferienkursen. Noch im August 2008 rezitierte Helms bei einem langen Konzert- und Gedenkabend zum achtzigsten Geburtstag von Karlheinz Stockhausen. Während dessen langjährige Weggefährten Mary Bauermeister und Michael von Biel ebenso erheiternde wie erhellende Anekdoten über den im Vorjahr verstorbenen Meister zum Besten gaben, wirkte Helms Vortrag prätentiös wie die eitle Selbstdarstellung eines in Vergessenheit Geratenen, der sein Avantgarde-Milieu zwar verloren, sich dafür aber seine Allüren umso sorgsamer bewahrt hatte und jetzt die Gelegenheit nutzte, sich erneut in Positur zu bringen.

Von 1957 bis 1970 besuchte Helms die Darmstädter Ferienkurse, zuerst als Teilnehmer, dann mehrmals als Vortragender. 1964 referierte er über „Komposition und Sprache“, um anschließend mit Gisela Saur-Kontarsky Passagen aus „Fa:m’ Ahniesgwow“ zu lesen. Typisch für die damalige Zeit übte er Kritik an der technoiden Durchrationalisierung des seriellen Konstruktivismus, um an dessen Stelle für das Konzept des offenen Kunstwerks und eine Besinnung auf die geschichtlichen Vorprägungen jeglichen mu­sikalischen und sprachlichen Mate­rials zu plädieren, woraus sich die gesellschaftskritische Funktion der Musik ergebe. Maßgeblich geprägt wurde Helms durch Theodor W. Adorno, dessen Darmstädter Vorträge er erlebte und als dessen Privatschüler er sich zeitweilig verstand. Im Sinn der Frankfurter Kritischen Theorie sah Helms die Aufgabe von Kunst nicht mehr länger in der Materialerweiterung und Erfindung von Neuem, sondern vor allem darin, auf „gesellschaftliche Emanzipation hinzuwirken, Aufklärung in jenen Bezirken menschlichen Verkehrs zu betreiben, die der Vernunft unmittelbar nicht zugänglich sind“. Einen Hebel für derartige Befreiungsversuche erkannte er – ähnlich Dieter Schnebel – in der Sprache, die als zentrales Bewusstseins- und Verständigungsmedium eminent gesellschaftliche Funktionen erfüllt, so dass ihre kompositorische Verarbeitung auch als bewusstseinsveränderndes Korrektiv gesellschaftlich zu wirken vermag. Wie in „Fa:m’ Ahniesgwow“ verfolgte Helms diesen Ansatz auch in „Golem – Polemik“ für neun Vokalsolisten (1962), uraufgeführt bei den Darmstädter Ferienkurse 1964 zusammen mit György Ligetis „Aventures“ und Dieter Schnebels „Glossolalie 61“. Helms entlehnte dazu Sprachmaterial aus Schriften von Martin Heidegger, um zentrale Begrifflichkeiten von dessen Fundamentalontologie als Ideologeme zu entlarven und Heideggers Verstrickung mit der nationalsozialistischen Weltanschauung offenzulegen, was zur gleichen Zeit auch Adornos „Jargon der Eigentlichkeit“ (1962–1964) kritisierte.

Neben dem Frankfurter Philosophen und Musikästhetiker war es vor allem John Cage, der Helms beeinflusste. Helms hatte Cage bereits bei dessen erstem europäischen Gastspiel nach dem Zweiten Weltkrieg in Donaueschingen 1954 erlebt und zusammen mit Heinz-Klaus Metzger und Wolf Rosenberg bei den Darmstädter Ferienkursen 1958 dessen Lectures übersetzt. Helms veröffentlichte mehrere Texte über Cage, produzierte Rundfunksendungen über ihn und drehte 1972 den Film „Birdcage“ über die Entstehung von dessen gleichnamiger Tonbandkomposition. Entscheidend für Helms war 1960 auch Cages Schlüsselrolle beim Kölner „Contre-Festival“ – bei dem auch Nam June Paik, Sylvano Bussotti und David Tudor auftraten –, das sich nicht zuletzt mit Hilfe des US-amerikanischen Komponisten und dessen revolutionären Gedanken über Zufall und Indetermination als bewusste Opposition zur damals längst etablierten seriellen Avantgarde von Boulez, Stockhausen, Ligeti und Kagel verstand, die gleichzeitig im WDR beim Weltmusikfest der IGNM unter Anwesenheit von Oberbürgermeister, Ministerpräsident und Bundesminister gefeiert wurde. Während Helms mit alternativen Produktions- und Präsenta­tionsformen jenseits der institutionalisierten Kulturpflege sympathisierte, nahm er den zunehmend saturierten bundesrepublikanischen Musik- und Kulturbetrieb immer kritischer unter die Lupe. Dabei verschob sich sein Interesse weg von der Musik hin zu den Rahmenbedingungen von deren Herstellung, Vertrieb und Rezeption. Sein eigenes Komponieren gab er schließlich ganz auf, um sich fortan ausschließlich wissenschaftlich und publizistisch zu betätigen. Neben „Daidalos“ für vier Solosänger und Dirigenten (1961) blieben die „Konstruktionen über das Kommunistische Manifest“ für sechzehn Chorstimmen von 1968 – mit denen er auf die Studentenrevolution reagierte – seine vierte und letzte Komposition. Helms’ Verzicht auf weitere künstlerische Arbeit gleicht einem stillen Eingeständnis seines Versagens gegenüber dem von ihm selbst erhobenen avantgardistischen Anspruch, über die engen Avantgardezirkel von Köln und Darmstadt hinaus gesellschaftlich zu wirken und materialkritische Kunst in eine bessere, weil emanzipierte Lebenspraxis zu überführen.

Unter sozioökonomischen Fragestellungen publizierte Helms über Hochtechnologie, Digitalisierung, Telekommunikation, Städtebau, Verkehrswesen sowie über Auswirkungen der fortschreitenden Automation in Industrie, Handel und Verwaltung. Auf der methodologischen Grundlage des marxistischen historischen Materialismus betrachtete er Musik, Belletristik und bildende Kunst als kulturelle Überbauphänomene, mithin also als Spiegel allgemeiner gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und technologischer Entwicklungen der materiellen Basis. Wiederholt setzte er sich mit der Produktion, Distribution und Rezeption neuer Musik, mit Musikfestivals und der Verwertungsgesellschaft GEMA auseinander. Eine Auswahl seiner während der siebziger Jahre verfassten Aufsätze zur Musik – darunter der Darmstädter Vortrag „Über die ökonomischen Bedingungen der Neuen Musik“ von 1970 – erschien 2001 in leicht revidierter Fassung in Heft 111 der Reihe „Musik-Konzepte“ unter dem Obertitel „Musik zwischen Geschäft und Unwahrheit“. 1974 wurde Helms an der Universität Bremen mit der Dissertationsschrift „Die ideologische Lage in der Bundesrepublik Deutschland“ promoviert. Ausgangspunkt seines Denkens blieb die Frankfurter Kritische Theorie von Max Horkheimer, Siegfried Krakauer und vor allem Adorno. In dessen Gedankenschatten kritisierte er 1966 in seiner umfassenden Studie „Die Ideologie der anonymen Gesellschaft“ die Auswirkungen des bürgerlichen Egoismus von Max Stirners anti­-idealistischem Entwurf „Der Einzige und sein Eigentum“. 1969 wandte er sich in „Fetisch Revolution“ gegen die ideologische Indifferenz des antiautoritären Protests der „Außerparlamentarischen Opposition“ der Zeit um und nach 1968.

Dass Helms den Begrifflichkeiten, Denk- und Argumentationsmodellen – sowie dem zuweilen manieriert wirkenden adornitischen Sprech- und Schreibstil – seiner früheren ideologiekritischen Vorträge und Essays zeitlebens treu blieb, ließ ihn in späteren Jahren zuweilen selbst als verbohrten Ideologen oder Dogmatiker erscheinen, der nicht willens oder in der Lage war, seine eingefahrene Waren-, Kapitalismus- und Systemkritik den veränderten welthistorischen Bedingungen entsprechend zu reformulieren oder gänzlich neu zu bestimmen. Andere dagegen sahen in ihm den großen Unzeitgemäßen, dessen deprimierende Analysen sich als prophetisch erwiesen hatten und von der Wirklichkeit längst übertroffen worden waren.

Von 1976 bis 1978 wirkte Helms als Gastprofessor an der University of Illinois in Champaign/Urbana. Bis 1989 arbeitete er in New York als Wirtschaftstheo­retiker und freischaffender Publizist. 1989 kehrte er nach Köln zurück. Auf die Entwicklungen des wiedervereinigten Deutschland und die globale „Diktatur des großen transnationalen Kapitals“ sowie seine eigene intellektuelle Isolation reagierte er zunehmend verbittert. Frustriert wandte er sich auch von der neuen Musik ab, die seiner Meinung nach in Stillstand, Klischeehaftigkeit, Massenfabrikation und Marktgängigkeit erstarrt sei. Zum Jahreswechsel 1999/2000 veröffentlichte er in der marxistischen Tageszeitung „junge Welt“ – einst die auflagenstärkste der DDR – die elfteilige Artikelserie „Von der Lochkarte in den Cyberspace“ über globale Auswirkungen von Computertechnologie und Internet. 2003 übersiedelte er nach Berlin, wo er sich zuletzt mit osteuropäischem Judentum und der Shoah befasste.

Drei Monate vor seinem achtzigsten Geburtstag ist Hans G Helms nun am 11. März nach kurzer, schwerer Krankheit in seiner Berliner Wohnung gestorben.