MusikTexte 133 – Mai 2012, 79–80
Im Westen was Neues
Nachwuchs bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik
von Rainer Nonnenmann
Die Überschuldung deutscher Kommunen lässt vielerorts lokale Initiativen vertrocknen. Das führt längst zu flächendeckendem Kulturabbau, dessen schleichende Ausbreitung jedoch kaum überregionale Beachtung findet, weil sich eben nur schrittweise von Ort zu Ort und von Veranstaltung zu Veranstaltung kariöse Löcher in die Kulturlandschaft fressen. Dabei schlägt der Kulturverlust zu Buche wie die Rechnung beim Zahnarzt: Pflege und Vorsorge kommen weitaus billiger als spätere Reparatur oder – sofern überhaupt möglich – aufwendiger Ersatz. Im Fall der Stadt Witten schlug die lokale Finanzmisere nun prominent auf eines der international renommiertesten Musikfestivals durch. Obwohl längst durchgeplant und vertraglich unter Dach und Fach, waren die zum vierundvierzigsten Mal gemeinsam von Stadt Witten und Westdeutschem Rundfunk veranstalteten Wittener Tage für neue Kammermusik plötzlich akut gefährdet, weil die Bezirksregierung der schon seit Jahren zu Nothaushalten verordneten Kommune untersagte, ihren ohnehin überschaubaren Eigenanteil von 27 000 Euro zum Festival beizusteuern, was das Kulturforum Witten leicht und gerne getan hätte, wäre man nicht haushaltsrechtlich entmündigt worden. Nur dank zusätzlicher Mittel aus dem Etat der neuen Musik von WDR 3 konnte das Festival dieses Jahr – mit Betonung auf dieses – gleichsam in letzter Minute gerettet und wie geplant durchgeführt werden. Nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 13. Mai müssen die Verantwortlich von WDR, Stadt und Land nun schnellstmöglich wieder eine sichere Grundlage schaffen, um den Wittener Tagen diejenige langfristige Planungssicherheit zu garantieren, die für die Vergabe von Kompositionsaufträgen und das Engagement international bedeutender Ensembles unerlässlich ist.
Wegen seiner Pläne zu einer neuerlichen Wellenreform des Kulturradios WDR 3 steht der Sender gegenwärtig zu Recht in der Kritik (siehe den Kommentar in diesem Heft). Doch neben seinem zusätzlichen finanziellen Engagement waren bei den Wittener Tagen diesmal auch zwei Klangkörper des WDR herzlich willkommen, der Rundfunkchor und – zum ersten Mal – eine Bläserformation des Sinfonieorchesters. Unter der Leitung von Rupert Huber präsentierten beide eine sensationelle Entdeckung: Giacinto Scelsis „Quattro Incantesimi“. Nach längerer Schaffenskrise hatte der Comte 1953 ursprünglich „Fünf Zaubersprüche“ auf dem Klavier improvisiert und seinem Mitarbeiter Vieri Tosatti zur Notation aufgetragen. Schon diese Klavierstücke zeigen eine ungebärdig um sich schlagende Virtuosität, deren perkussive Natur Tamara Stefanovich mit knallendem Anschlag unterstrich, der indes jede farbliche Nuancierung schuldig blieb. Die etwa zwanzig Jahre später entstandene, erst 2009 im Nachlass des Komponisten wieder entdeckte Ausarbeitung zu einer Kantatenversion für Chor, Bläser und Schlagquartett demonstrierte jedoch erst wirklich die fulminante Orgiastik dieses obskuren, ekstatischen Rituals mit jauchzenden Frauen, stampfenden Männern, bizarrem Duett von Klavier und Pauken sowie unheimlich aus dem Off zugespielten Urwaldtrommeln: Scelsis „Sacre“! Dagegen entfaltete sich Klaus Langs „vier linien. zweifaches weiß“ als ruhig durchlaufendes, harmonisch-farblich changierendes Klangband, dessen schleierhaftes Kontinuum singuläre Akzente von Snare Drum und Klavier umso spürbarer machten. Pianist Paulo Álvarez setzte das gleichschwebend temperierte Klavier als besondere Farbe in sonst mikrotonal aufgefächerte Spektren und ließ am Ende naive Spieluhrenklänge in traumhafte Sphären vertröpfeln. Statisch und ohne zwingenden Verlauf blieb Klaus Ospalds jüngstes Stück „Sopra un basso rilievo antico sepolcrale …“ aus seiner umfangreichen Werkreihe auf Gedichte von Giacomo Leopardi. Fiel schon dessen Canto „Auf ein schlichtes altes Grabrelief“ dem Sujet entgegen zu üppig und umfangreich aus, so wirkte die pflichtschuldige Vertonung des langen Texts mit ständig denselben gläsern schwebenden Chorclustern samt Tuba, Buckelgongs, Steeldrums sowie gestrichenem Vibra- und Xylophon vollends künstlich in die Länge zerdehnt.
Im von Routine dominierten Abschlusskonzert des Collegium Novum Zürich unter Leitung von Titus Engel ließ „– caul –“ des ehemaligen Spahlinger-Schülers Mark Barden aufhorchen. Gegen feine Akkordgespinste der Streicher und Bläser setzte der junge US-Amerikaner seltsam insistierende Klopfzeichen auf mit Decken und Teppichen erstickten Schlaginstrumenten. Obwohl beide Ebenen völlig undurchlässig füreinander schienen, begann endlich auch der Kontrabassist zu klopfen, dann pulsierten die Bläser, und schließlich sprang der Puls auf das gesamte Ensemble über, bevor er sich ebenso plötzlich wieder ins Schlagzeug zurückzog. Gemäß dem englischen Stücktitel (Fruchtblase) bildeten die Kontraste an ihrer Schnittstelle eine Art semipermeable Membran, die steigendem osmotischen Druck momentweise nachgab, so dass ein neues Gleichgewicht entstand. Stücke von jungen, Anfang dreißigjährigen Witten-Debütanten bot auch das vereinte Asko/Schoenberg Ensemble unter Reinbert de Leeuw. Die Kölner Komponistin Brigitta Muntendorf ließ in „Sweetheart, Goodbye!“ die Schauspielerin Nicola Gründel kurze, teils ins Deutsche übersetzte Satzfragmente aus dem Nausikaa-Kapitel von James Joyces „Ulysses“ mit sprunghaft wechselnder erotischer Ausstrahlung sprechen, mal weich und verführerisch, dann anzüglich, ordinär, verrucht, rauh, wild oder aggressiv. Sprache erschien hier durchweg dramatisch, aber ohne epischen Zusammenhang und mit allenfalls dunkel zu erahnendem Inhalt. Zudem wurden einzelne Sprachlaute vom Ensemble nahtlos fortgeführt. Statt wie üblich durch Musik Emotionen zu vermitteln oder Identifikation zu stiften, löste sich so tatsächlich der Anspruch ein, aus distanzierter Beobachterperspektive „Emotionalität als musikalisches Material“ erlebbar zu machen. Marko Nikodijevic unterzog in „gesualdo dub“ einzelne Elemente aus Carlo Gesualdos Madrigal „Moro lasso“ sogenannten Dub-Verhallungen, die er anschließend für Ensemble transkribierte. In leise Klavier-Pendelbewegungen schleichen sich kaum merklich Celestaklänge, die das Pianoforte von innen heraus zu einem unnatürlichen Strahlen bringen. Dieselbe sequenzierte Tonwechselfigur kehrt immer wieder. Sie dient als simple Folie für umso feinere Umfärbungen durch Metallplatten, Trompete und schließlich einen Synthesizer, dessen Abwandlungen zu Glissandi dann die Violinen aufgreifen. Problematisch erschien Nikodijevics luzide Klangfarbenmelodie einzig wegen der Eigengesetzlichkeiten ihrer Madrigal-Vorlage, deren melancholische Aura das Stück wie matt leuchtender Firnis überzog.
Hans Abrahamsen wurde mit insgesamt acht Werken und zwei Bearbeitungen porträtiert. Mit seinem Klavierkonzert sowie dem Ensemblewerk „Wald“ und zwei überflüssigen, weil die Faktur der Originale mehr verdeckenden als erhellenden Instrumentationen von Klavierstücken seiner Lehrer Per Nørgård und György Ligeti zeigte sich der 1952 in Kopenhagen geborene Komponist im Eröffnungskonzert zunächst nicht von seiner originellsten Seite. Angemessener schien ihm und seiner unprätentiösen Art der weniger repräsentative Rahmen des Gesprächskonzerts mit Martina Seeber im Märkischen Museum, wo seine Musik in Solowerken und kleinen Formen erst wirklich zu sich selbst kam. Ähnlich den gleichaltrigen westdeutschen Komponisten Wolfgang Rihm, Detlev Müller-Siemens, Wolfgang von Schweinitz und Reinhard Febel ging es Abrahamsen von Anfang an um Einfachheit und gleichberechtigte Verfügbarkeit über unterschiedliche Stile. In seinem Fall waren dies die Romantik, Minimal Music und Ligetis Versuche zur Wiedergewinnung von Melodie. Seine empfindsame „Air“ für Akkordeon – eine spätere Eigenbearbeitung der frühen „Canzone“ von 1978 – bringt einfache Skalen, Intervalle und Akkorde sanft zu melodischem Rotieren, so dass sie sich wechselseitig selbst begleiten, bevor sie in Tonwechseln oder langen Ausklängen versiegen und damit rückwirkend ihre eigene Naivität etwas relativieren. Neoromantische Affinität zu Nacht, Traum und Irrationalität zeigt der sympathische Däne in seinen „Studies“ für Klavier (1984/1998) mit Satztiteln wie „Sturm“, „Arabeske“ und „Cascades“ samt Stilanleihen bei Schumann und mehr noch bei Liszts „Années de pèlerinage“. Die sanft ein- und ausschwingenden Intervall- und Motivschichtungen seines Holzbläserquintetts „Walden“ (1978/1995) erlaubten im Sinn des gleichnamigen Buchs von Henry David Thoreau eine aus der strengen Chronometrie unseres getakteten Alltagslebens gefallene Naturklangzeiterfahrung.
Weniger überzeugen konnte Abrahamsens vom WDR bereits vor fünfundzwanzig Jahren in Auftrag gegebenes, doch erst jetzt vollendetes viersätziges Viertes Streichquartett, was auch an der lieb- und ausstrahlungslosen Exekution durch das Arditti String Quartet gelegen haben dürfte. Die Musiker zeigten sich ohrenscheinlich hilf- und verständnislos gegenüber dieser scheinbar naiven, einfachen, tonalen Musik, deren intrikate Flageolettmelodien indes ebenso ihre richtigen Töne und Intonationen verdient hätten, um die offenbar intendierte Atmosphäre einer Zauberharfe oder Glasharmonika zu entfalten. Im zweiten Satz von Abrahamsens „Tre små nocturner“ für Streichquartett und den brillanten Akkordeonisten Frode Haltli – einem furiosen Teufelstanz – findet das Akkordeon zwischen wilden Tremoloabstürzen plötzlich zu seiner althergebrachten Bestimmung als Tango-Instrument. Ungleich besser präsentiert wurde – von Arditti und JACK Quartet zusammen – das Doppelquartett „2012-S“ des Engländers James Clarke, das gleich zu Beginn durch Rückführung eines vollen Tuttiklanges auf ein Minimum an Tongebung in Bann zog. Geringste Dynamik entfaltete so zugleich maximale Intensität und Konzentration in der Aula der Rudolf-Steiner-Schule. Am Ende schaukelte sich das Geschehen mit orgelnden Doppelgriffen zum voll klingenden, mikrotonal verformten Akkordsatz hoch, dessen klassisch-romantischer Duktus jedoch unwirklich blieb und nie richtig zu fassen war. Das vom JACK Quartet uraufgeführte „Chantbook of Modified Melodies“ von Walter Zimmermann signalisierte bereits durch die Besetzung „für zwei Streichduos“ einen Bruch mit dem kommunikativen Ideal des Streichquartetts als „Gespräch“. Wie die räumlich getrennten Duos spielte auch jeder einzelne Streicher geradezu autistisch für sich, so dass die parallel laufenden Melodien nur infolge gleicher allgemeiner Stilmerkmale (Triller, Linien, Wechselfiguren) lose ineinandergriffen.
Interessantere, wenn auch nicht zwangsläufig gelungene Quartette und Doppelquartette stammten von jüngeren Komponisten. Das Zweite Streichquartett des Dänen und ehemaligen Abrahamsen-Schülers Simon Steen-Andersen faszinierte durch die Idee, die Bögen mit Kontaktmikrophonen und Klebefolien so zu präparieren, dass sonst unhörbare Pizzikati auf dem Bogenhaar wie dumpfe Aufschläge hörbar wurden und mit jedem Bogenstrich über Saiten, Steg, Zargen und Schnecke automatisch rhythmisierte Klangfarbenwechsel resultierten, die sich ihrerseits mit verschiedenen Aktionen der Griffhand kombinieren ließen. Allerdings wurde die Klarheit dieses Ansatzes durch allzu viel Aktionismus verdeckt. Die Engländerin Naomi Pinnock stellte ihrem „String Quartet No. 2“ ein Solo des Bratschisten voran, der in stets leicht variierten großen Arpeggio-Gesten über alle vier Saiten fährt, um die vollgriffigen Attacken dann sanft auslaufen zu lassen. In stimmiger Identität von Material und Form gestaltete die ehemalige Schülerin von Michael Jarrell dann den weiteren Werkverlauf als spektralanalytische Ausfaltung eben dieses initialen Materials. Der Italiener Mauro Lanza ließ im Doppelquartett „Kampf zwischen Karneval und Fasten“ strahlende Akkorde sukzessive von lautstarken Perforationen verdrängen. Und dieses Press- und Schabkonzert wurde schließlich von Furzkissen ironisiert wie umgekehrt diese Fremdkörper zu klangverwandten Musikinstrumenten nobilitiert wurden Dass diese klare gegenläufige Entwicklung nach erstmaligem Hören keinerlei Fragen hinterließ, dürfte ein zweites Hören erübrigen.
In kontrastreiche Nachbarschaft traten im Nachtkonzert die Uraufführungen von Carola Bauckholts „Zugvögel“ und Mark Andres „S1“. Der für Andre typische Titel steht nicht etwa profan für „Schnellbahn Linie 1“, sondern für das nahezu alle Werke des Elsässers biographisch und christologisch bestimmende Phänomen von „Schwelle“ und Übergang. Kurze Anschlagsketten, Ton- und Akkordimpulse – vom Klavierduo Yukiko Sugawara und Tomoko Hemmi perfekt synchronisiert – bildeten in beiden Flügeln lange Nachklänge, Resonanz- und Echoeffekte. Indem auf den Basssaiten auch Flageoletts abgegriffen wurden, gelangen sogar mikrotonale Schwebungen auf den herkömmlich temperierten Instrumenten. Die Kölner Komponistin ließ das Calefax Reed Quintet mit verblüffender Ähnlichkeit schnatternde Wildgänse imitieren und mittels wechselnder Dynamik und Dichte im Schwarm über die Köpfe der Hörer hinweg fliegen. Doch führte Bauckholt diesen ebenso frappanten wie äußerlichen Naturalismus im weiteren Verlauf auf die innermusikalische Logik polytemporaler Schichtungen zurück, an deren Ende tonlose Luftgeräusche plötzlich wieder das poetische Bild des Windhauchs weckten, den die nach Süden entschwundenen Vögel im Festsaal des Wittener Saalbaus hinterließen. Bleibt die Hoffnung, die Wittener Tage mögen an dieser Stelle auch in Zukunft alle Jahre wieder durchziehen und für frischen Wind sorgen.
„Wär’ ich ein Ton. Jean Paul 2013“
Der „Jean Paul 2013 e.V.“, Bayreuth, Wahnfriedstraße 1, schreibt für Komponistinnen und Komponisten aller Länder und Altersgruppen einen Kompositionswettbewerb in drei Kategorien aus: Ensemble; eine Stimme (aller Lagen) und ein Instrument ohne oder mit Elektronik/Medien; radiophone Klangkunst, einzusenden bis 30. September 2012. Näheres: www.jean-paul-2013.de