MusikTexte 134 – August 2012, 41–52

Sich in Musik finden

Ein Porträt des Komponisten Markus Hechtle

von Rainer Nonnenmann

Um jemand zu verstehn, der sich selbst nur halb versteht, muß man ihn erst ganz und besser als er selbst, dann aber auch nur halb und grade so gut wie er selbst verstehn.

August Wilhelm und Friedrich Schlegel1

Bereits ein flüchtiger Blick auf die fünfundzwanzig Titel seines übersichtlichen Werkverzeichnisses macht neugierig auf diesen ebenso überlegt wie intuitiv vorgehen­den Komponisten und seine sowohl provokant einfache und vordergründig-konkrete als auch anspielungsreich dunkle und doppelbödige Musik. Während Titel wie „Bongonom“ (1991), „Und Ritardandi“ (1991), „sfumato“ (1999) oder „Umgang mit zwei Klavieren“ (2003) kompositorische Auseinandersetzungen mit bestimmten musikalischen Phänomen erwarten lassen, deren ausdrückliche Nennung sie aus ihrem selbstverständlichen Gebrauch reißt und kritischer Reflexion zugänglich macht, spielen dagegen andere Titel mit der Öffnung des Musikhörens für eine Überfülle mehr oder minder spontan und ungehemmt sich einstellender Expressionen, Assoziationen, Bilder, Ideen, Ausblicke: „Sinn-Flut“ (1992), „Fresco. Eine Sehnsucht“ (1993), „screen“ (2001) und „Fenster zur See“ (2011). Kaum weniger vielversprechend auf Außermusikalisches zielen Titel wie „N. N., kleine Welten“ (1992), „Fragen Sie nicht“ (2003), „Blinder Fleck“ (2005) und „Szene mit Dunkel“ (2010), die mehr ins Geheimnisvolle spielen oder auf Numinoses verweisen, das sich allenfalls vage umkreisen lässt. Unverkennbar romantische Topoi wie Innerlichkeit, Schmerz, Fremdheit, Traum und verlorene Vergangenheit beschwören schließlich Titel wie „von Herzen innig“ (1997), „Klage“ (1999) oder „Portrait – Erinnerung an einen fremden Traum“ (2004).

Doch die poetischen Titeleien treiben mit dem Leser-Hörer ein nicht weniger romantisch ironisches Versteckspiel. Daher ist Vorsicht gegen voreilige Versicherungen auf vermeintlich klare Gehalte geboten, denn manche Titel verbergen unter scheinbar Bekanntem völlig Unerwartetes. Eine veritable Camouflage ist zum Beispiel „von Herzen innig“. Der Titel beschwört die Wackenroder-Tiecksche Auffassung von Musik als Sprache des Herzens und der Seele, die ohne Worte auszusprechen vermag, was einen im Innersten bewegt. Doch wer deswegen ein in der romantischen Tradition wurstelndes Klavierstück oder Lied erwartet, sieht sich allein schon durch die Besetzung mit drei Schlagzeugern getrogen, die gemeinhin nicht mit gemütvollen „Herzergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ in Verbindung gebracht werden. Doch es kommt noch profaner: Direkt über den Herzen der drei Spieler werden mit Mikrophonen deren Herzschläge abgenommen und sowohl über Lautsprecher als dumpfes Wummern in den Saal projiziert als auch wahlweise den Schlagzeugern über Kopfhörer zugespielt, so dass diese ihren eigenen Puls oder den der anderen Spieler als Tempo für ihre Einsätze abnehmen können. Diese Musik kommt also in der Tat „von Herzen“, doch nicht als sentimental überfließender Gefühlsausdruck, sondern ganz handgreiflich im Sinne dreier ebenso physiologisch wie musikalisch lebensnotwendiger Herzschrittmacher. Umgekehrt erweist sich ein Stück mit dem scheinbar griffigen innermusikalischen Thema „Sätze mit Pausen“ in Wirklichkeit als ungleich „romantischer“ durch seine obligaten Arpeggio-Gesten, tonalen Anklänge, unheilvollen chromatischen Gänge, vergeblichen Sprechversuche, fragenden Fermaten und in Generalpausen lange stockenden Stillen.

Qual der Wahl

In seinen Vorträgen und Werkkommentaren zeigt sich Markus Hechtle weniger als Sagender, Antwortender, Wissender, sondern vorrangig als Fragender, Suchender, Tastender, Spürender, Ahnender. Da ist von „Zeichen“, „Spuren“, „Lähmung“, „Unsicherheit“, „Starre“, „Zittern“ und „Hoffen“ ebenso die Rede wie vom „Dunkeln“ und „Kryptischen“, von „Verborgenem“, „dem mir Verlorenen“ oder – wie im Fall von „Still“ (2003) für Sprecher und vier Männerstimmen mit Akkordeon – vom „lähmenden Sehnsuchtszustand des ,Nicht-anfangen-können-zu-tun‘“. Mancher mag solches Suchen, Raunen, Zaudern und Zweifeln vielleicht als romantische Phrasen abtun, mit denen sich ein Künstler als jemand stilisiert, der hienieden in dieser Welt nicht recht zu Hause ist, weil er aus einem Gefühl existentiellen Ungenügens heraus noch eine andere Art von Heimat, Schönheit, Wahrheit, Liebe und Freiheit ersehnt, erspürt, erträumt …

Konkretes Ungenügen äußert Hechtle gegenüber der gegenwärtigen neuen Musik, die ihm zu eng und unfrei vorkommt und aus deren Kritik er für sein eigenes Schaffen gleichwohl wichtige Anstöße erhält. Für Hechtle gibt es kein tabuisiertes Material und keinen „Kanon des Verbotenen“, wie ihn Theodor W. Adorno in seiner „Philosophie der neuen Musik“ (1948) mit der Theorie einer historisch objektiv notwendigen Tendenz des Materials postuliert und der Serialismus in Anlehnung daran während der fünfziger Jahre vertreten hatte. Stattdessen betont Hechtle: „Nichts spricht von selbst und nichts ist von selbst ungeeignet zu sprechen.“2 Nichts ist per se zu verwerfen und jedwedes Material kann komponiert werden, namentlich auch Terzen, Dreiklänge, traditionelle Spielgesten und symphonische Topoi. Es kommt nur darauf an, mit solchem Material einen eigenen kompositorischen Umgang zu finden, der selbst Altbekanntes wieder individualisiert und – das ist die entscheidende Kategorie – neu zum „Sprechen“ bringt. Ein Kernsatz von Hechtle lautet denn auch: „Alles kann, nichts muss.“3 Indes wurden die von ihm kritisierten sakrosankten Grenzen und Tabuzonen von anderen schon früher überschritten und für null und nichtig erklärt, etwa während des „Postserialismus“ der sechziger Jahre sowie während der siebziger Jahre durch die als „Neue Einfachheit“ etikettierte junge westdeutsche Komponistengeneration. Zu dieser gehörten auch Hechtles Lehrer Wolfgang Rihm und Walter Zimmermann, wobei ersterer mit seiner Idee des „inklusiven Komponierens“ sämtliche Errungenschaften, Techniken und Ausdruckscharaktere der bisherigen Musik als dem gegenwärtigen Komponieren verfügbar proklamierte, und letzterer besonders den Nahbereich der eigenen Herkunft, Biographie und „lokalen Musik“ als kompositorisches Thema entdeckte. Insofern herrscht schon seit den achtziger Jahren totaler Pluralismus und Egalitarismus aller Materialien, Stile, Techniken und ästhetischer Richtungen. Angesichts dessen erweckt jede neuerliche Auflehnung gegen die alten Puristen und Materialdogmatiker der Nachkriegsavantgarde mehr den Eindruck, als handle es sich um reflexhaftes Schattenboxen gegen lieb gewonnene Feindbilder, wohingegen sich das aktuell drängendere Problem vielmehr auf den postmodernen Nenner bringen lässt: „Alles ist möglich, nichts ist nötig.“ Indes sind Gegnerschaften in der Kunst seit jeher ebenso probate wie legitime Mittel der Jüngeren, sich gegen die Generation der Vorgänger ästhetisch abzugrenzen und selbst zu positionieren.

Im Gegensatz zu manch anderen Komponisten seines Alters nutzt der 1967 in Karlsruhe geborene Markus Hechtle seine Abrechnung mit jedem apodiktischen „Das darf man nicht, das kann man nicht!“ jedoch nicht als Freibrief zu umso ungehemmterem Gratiszugiff auf den bunten Selbstbedienungsladen der Tradition. Im Gegenteil. Das Bewusstsein seiner totalen Freiheit macht ihn gerade nicht zu einem wild drauflos wütenden Vielschreiber, sondern zu einem besonders skrupulösen Komponisten und peniblen Arbeiter am Material. Seine Musik ist frei von jedem Verdacht auf Polystilismus, Beliebigkeit, materialer Libertinage und promiskutivem Crossover. Stattdessen wählt er sein Material mit großem Bedacht. Und er wählt aus der Fülle des Möglichen – das geräuschhafte Spektrum erweiterter Spieltechniken fast gänzlich aussparend – zumeist nur ganz wenige elementare Gesten, Wendungen, Pulsationen oder Rhythmen, die er dann kompositorisch umso gründlicher auf ihre Eigenschaften befragt. Indem er diese Eigenschaften im Akt des Komponierens musikalisch in die Zeit hinein entfaltet, macht er sie auch sensibilisierter Wahrnehmung zugänglich. Dabei erweist sich die scheinbare Einfachheit des oft armselig Wenigen, aus dem Hechtles Stücke bestehen, letztlich als überraschend komplex. Insofern ist Hechtle nicht nur ein Schüler des erklärten Pathetikers Wolfgang Rihm, der instinktiv aus dem Bauch heraus gegen jeden verstockten Avantgardismus revoltiert und alles zu Musik macht, was er anfasst. Als kritisch reflektierender und durchaus auch konzeptionell vorgehender Arbeiter am musikalischen Material wurde Hechtle auch durch das Schaffen und Denken von Mathias Spahlinger beeinflusst, dessen erklärter „Bewunderer“ er ist und dessen Orchesterwerk „passage/paysage“ er in seiner Examensarbeit mit spürbarer Faszination analysierte, um sich zugleich von dessen als anmaßend empfundenen theoretischen Definitionsversuchen, was neue Musik ist und vor allem nicht ist, kann, darf, soll, zu distanzieren.4

Schläft ein Lied in allen Dingen

Wie bewusst Hechtle auratisches Material aufgreift, um darin verändernd einzugreifen, zeigt sich besonders deutlich in seinem Quintett „Sätze mit Pausen“ (2005) für Klarinette, Bassgitarre, Viola, Violoncello und Kontrabass. Bestimmendes Element ist der instrumentale Topos des Arpeggios, der sich von Anfang bis Ende durch das gesamte Stück zieht. Doch die typische Spielweise der Gitarre erfährt zugleich dezente und auch gravierendere Abwandlungen. Ausgangspunkt ist die absteigende Tonfolge e-h-g-d-a-e, die den sechs leeren Gitarrensaiten entspricht. Statt wie üblicherweise aufwärts erfolgen sämtliche Arpeggien abwärts. Und als Instrument ist keine normale Gitarre vorgesehen, sondern eine Bassgitarre, auf deren eine Oktave tieferer Mensur die Arpeggien von der sonoren Mittellage in die tiefste Basslage abstürzen. Der traditionelle Serenaden-Charakter des gitarristischen Spielgestus verkehrt sich dadurch zu „tragischer“ Dunkelheit, die der auf den leeren Saiten enthaltene e-Moll-Septakkord harmonikal verstärkt. Für weitere Abweichungen sorgen die klanglich verschärfte Spielweise direkt am Steg sowie die Akzente auf dem ersten und dritten Sechzehntel und dem Zielton. Auf eine zweihebige Tongruppe folgt also eine dreihebige, die sich gegen den Wechsel des e-Moll-Sextakkords e-h-g der ersten drei Töne zu den dissonierenden Töne d-a vier und fünf verschiebt. Damit sind sämtliche Elemente des Stücks exponiert. Auf den ersten Blick gleichen sie einem x-beliebigen Allerweltsmaterial, das sich in Wirklichkeit jedoch als äußerst differenziert und durchgestaltet erweist, in­strumentat­o­risch, klanglich, spieltechnisch, harmonisch und rhythmisch, und dadurch einen ganz eigenen Nimbus erhält. Hechtle leistet damit eben das, was Adorno meinte, als er dem Komponisten die idealistische Freiheit im Großen absprach, um dessen Arbeit am Material stattdessen „im unendlich Kleinen“5 der Details und Nuancen zu verorten.

Ich habe zunächst die Leer-Saiten als Ausgangspunkt, als Humus, als Noch-Nicht, wie eine Fläche, auf die Schnee gefallen ist und in der noch keine Spuren zu sehen sind. Das ist die Situation: tika-takata-komm. Und jetzt kann ich darin eingreifen, jetzt kann ich da etwas einschreiben, indem ich beispielsweise eine Saite erhöhe und wieder hinuntergleiten lasse. So kann ich Musik entstehen lassen und den Hörer auch daran partizipieren lassen, wie Musik entsteht. Das ist der Sinn der Leer-Saiten, das ist die Geburtsstunde, die Stunde Null, von der aus dann Musik entwickelt wird. Und dabei wird deutlich, was es bewirken kann, wenn man nur einen Ton verändert. In „Sätze mit Pausen“ gibt es Momente, wo das fast schon zelebriert wird. Der gleiche Akkord wird wiederholt, wiederholt sich wieder, wiederholt sich wieder – und dann wird ein Ton verändert. Und diese eine Veränderung rückt das Ganze in ein anderes Licht. Das ist etwas, was ich in Musik sensationell finde, grundsätzlich. Du kannst mit kleinen Entscheidungen Ungeheures bewirken. Und das ist immer eine Herausforderung beim Komponieren. Man muss spüren, was die kleinen Eingriffe bewirken können.6

Aus der Binnendifferenzierung des Anfangsgestus heraus entfaltet Hechtle im Folgenden variative Abwandlungen, die sich als fortlaufende Arabeske durch das gesamte Stück ziehen. In Takt 3 greift der Spitzenton des Arpeggios vom e zum fis aus und verändern sich Dauer, Rhythmik, Dynamik und Spielweise („ordinario“). Zudem wird aus der typischen Auftaktfigur ein volltaktiges Gebilde. Von der hier realisierten Idee, ein und dieselbe Geste verschiedenen Rhythmisierungen zu unterziehen, spricht Hechtle auch in seinem gleichzeitig entstandenen Vortrag „… wie der Tag vergeht …“.7 Indem er die Gitarre immer wieder mit derselben, leicht abgewandelten Vokabel anheben und zugleich ständig in Fermaten und Pausen zum Stillstand kommen lässt, gelingt ihm zweierlei: Zum einen wird das Verfließen von Zeit unmittelbar erlebbar, als höre man in den ständig herabperlenden Arpeggien das Tropfen der dahinschmelzenden Uhren auf Gemälden von Salvadore Dalí; zum anderen wird die spannungsvolle Erwartung geweckt, die Musik wolle anheben zu sprechen und sei sich doch zugleich der Vergeblichkeit dieses Versuchs bewusst, was sie verzagen und immer wieder abbrechen lässt. Tatsächlich formuliert die wiederholt stockende Gitarrenlinie über dem zunächst komplett pausierenden Kammerensemble damit so etwas wie „Sätze mit Pausen“. Doch sind es Sätze aus Worten, denen unter dem Blick des Komponisten eben das widerfährt, was Karl Kraus in einem seiner berühmten Aphorismen beschrieben hat: „Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.“8 Vertrautes Material wird wieder zu etwas Fremdem. Als extrem beschleunigte Variante des Arpeggios kommt in Takt 11 ein Rasgueado hinzu, dessen sffz-Akzent ein verdeckt eingeführter pp-Liegeton der Klarinette als Quasi-Nachklang fortsetzt. Auch die übrigen Instrumente treten schließlich derart unterschwellig oder nahtlos einfließend hinzu, indem sie die Arpeggien der Gitarre mitmachen oder einzelne Töne daraus aufgreifen und zu Akkorden verdichten.

Mit Takt 49 beginnt ein zweiter Formteil in doppeltem Tempo. Die Gitarre beschränkt sich hier auf Rasgueados, während ihre Arpeggien als schnell aufsteigende Intervallketten in die Klarinette wandern und die Streicher die Töne der leeren Gitarrensaiten als Akkord-Repetitionen aufgreifen und harmonisch abwandeln. Der dritte Formteil ab Takt 75 kombiniert Arpeggio, Intervallkette und Akkordik mit einer neuen Klarinettenmelodie, die einen aufsteigenden verminderten Dreiklang chromatisch umspielt (Takt 82 und 83, siehe Notenbeispiel auf der näch­sten Seite) und rhythmisch abgewandelt dem sogenannten „Frohnmotiv“ oder „Klageruf“ der Nibelungen aus Richard Wagners „Das Rheingold“ (Anfang dritte Szene) entspricht: Nein, das ist eine Erfindung von mir, kein Zitat. Ich kannte das von Wagner gar nicht. Und der Phrase geht ja auch eine erste voraus, die anders ist. Aber natürlich hat diese Melodie etwas Klagendes, Dunkles, und in sich Kreisendes.

Ab Takt 110 werden diese vier Zentralelemente des Stücks (Arpeggio, Intervallkette, Akkordik und chromatische Melodie, jetzt in der Bratsche) nach und nach wieder aufgegriffen, so dass es zu einer Art abgewandelter Reprise kommt, bevor das Stück endlich in „schicksalhaftem“ c-Moll schließt. In seinem Werkkommentar schreibt Hechtle: „Musik hat mit Sprache wenig gemein. Vor allem fehlt ihr die Bedeutung. Und doch ist sie Formulierungsversuch, Äußerung, Verlautbarung. Aus dem Dunkel, aus der Stille bahnt sie sich Wege und Kanäle. […] Linien zu ziehen, Zeichen zu setzen, Spuren zu legen. Mit zitternder Hand zeichne ich Musik in die Stille.“ So reduziert das Material seiner „Sätze mit Pausen“ auch ist, so differenziert wird es doch in den eng gesetzten Grenzen behandelt. Und wichtiger noch: Eben das verleiht dem scheinbar Abgegriffenen einen profilierten sprechenden Ausdruck, von dem gleichwohl nicht anzugeben ist, was er sagt. Damit ist ein Dilemma jeder analytischen Beschreibung von Hechtles Musik benannt, die schnell auf den Weg bloßer Deskription gerät und das „Eigentliche“ dieser Musik verfehlt, das konkret zu benennen ihr zugleich unmöglich ist.

Fortschreibungen umhüllt

Ein Schwesterwerk von „Sätze mit Pausen“ ist das anschließend entstandene „Linie mit Schraffur“ (2006), dessen Titelbegriff „Linie“ bereits in Hechtles Werkkommentar zu „Sätze mit Pausen“ vorkam. Auch dieses Stück ist für eine Quintettbesetzung komponiert. Doch scheinen die Rollen jetzt vertauscht. Während im ersten Stück die Bassgitarre gegenüber der Klarinette und dem übrigen Ensemble als Soloinstrument agiert, tritt jetzt die Gitarre gleich im Kollektiv als Gitarrenquartett auf, zu dem sich eine einzelne Klarinette als Soloinstrument gesellt. Und ausgerechnet diese Klarinette eröffnet nun auch das Stück mit demselben Gitarrenarpeggio aus „Sätze mit Pausen“, während das Gitarrenquartett diesen typischen Gitarrengestus gerade nicht spielt. Durch diese Uminstru­mentierung entsteht etwas völlig anderes, auch spieltechnisch. Das Zupfen über die leeren Saiten der Gitarre verkehrt sich auf dem Blasinstrument zur komplizierten Grifffolge und das Arpeggio zur bloßen Intervallfolge. Dieselbe Arpeggiolinie begegnet noch in weiteren Werken von Hechtle. In „Blinder Fleck“ (2005) für Ensemble wird sie von Klarinette und Trompete gespielt (ab Takt 33 und Takt 75), während das Klavier als Bordunbegleitung die Töne der leeren Gitarrensaiten als Akkorde anschlägt und eine chromatische Seufzersekunde als Klangfarbenmelodie zwischen Trompete, Klarinette und den Streichern hin und her läuft. Ebenso ist „Szene mit Dunkel“ (2009) für Orchester eine umhüllende Fortschreibung auf der Grundlage desselben Arpeggiogestus. Mehr oder minder offene oder verschleierte Selbstzitate gibt es auch in anderen Stücken Hechtles.

In dem Moment, da die Klarinette den tiefsten Arpeggioton e erreicht, setzen die vier Gitarristen im Unisono-Tremolo ein. Während der gesamten Dauer des elfminütigen Stücks werden sie fortan nicht mehr zu Tremolieren aufhören. Modifiziert wird dieses unentwegte Zittern durch akkordische Verzweigungen, die nicht selten zu Dur- und Molldreiklängen führen, sowie durch die Spieltechnik, bei der die Spieler ihren Mittelfinger wahlweise im rechten Winkel gegen die Saiten schlagen lassen oder nahezu parallel dazu, so dass neben den gegriffenen Tonhöhen auch leicht quietschende Wischbewegungen resultieren. Wie beim Schraffieren mit Bleistift zittern die Griffhände ständig schnell hin und her. Für weitere klangfarbliche Varianz sorgen Wechsel zwischen Fingerkuppen und Fingernägeln sowie dynamische Abstufungen und gelegentliche Rasgueado-Tremoli.

Danach wiederholt die Klarinette mehrmals dieselbe Arpeggiokette, deren Abschlusstöne sie ins Fortissimo crescendiert und immer mehr dehnt, bis sie die ini­tialen Arpeggien schließlich ganz weglässt, um nur noch Liegetöne zu spielen, die sie nach und nach zu einer weit gestreckten melodischen „Linie“ verbindet. Die Gitarren verhalten sich dazu mit teils harmonisch passenden, teils querständigen Tremolo-Flächen wie eine klangliche „Schraffur“. Normalerweise verdunkelt eine Schraffur bestimmte Stellen eines gezeichneten Körpers, um dafür dessen helle Stellen umso plastischer als erhöht hervortreten zu lassen. Diese bildnerische Technik bezeichnet auch das Verhältnis zwischen der Klarinette und den vier Gitarren, die sich wie die Ringe des Saturns als dunkle Melancholie um die Klarinettenlinie legen. So wie die Gitarristen ihr obligates Tremolo punktuell zum Rasgueado abwandeln, wechselt in der Mitte des Stücks (ab Takt 173) die Klarinette plötzlich zu bizarren Stakkato-Sechzehntelketten, die wild zwischen Oktavlagen springen und ebenso unvermutet wieder aussetzen wie sie später erneut einfallen. Die schroffen Einbrüche wirken denkbar fremd, leiten sich aber aus den chromatischen Alterationen und Querständen zwischen Gitarrenakkorden und Klarinettentönen ab. Zudem zeigen sie letztlich einen veränderten Aggregatzustand desselben harmonischen Materials, dessen flächige Gesamtanlage sie plötzlich in hektische Bewegungen umschlagen lassen. Die Chromatik der Einwürfe springt zwar furios zwischen den Oktaven, dreht sich aber letztlich ebenso melancholisch im Kreis wie das permanente Tremolieren der vier Gitarren, das immer nur zu weiterem Tremolieren und nirgendwohin sonst führt.

Statt wie in der klassisch-romantischen Tradition das Tremolo als ein dynamisches Element sich aufbauender und zum Durchbruch drängender Energie zu verwenden, neutralisiert Hechtle diesen Topos von Anfang an durch seine Wiederholung in Permanenz, ohne der Spielweise zugleich etwas von ihrer Spannung zu nehmen. Diese erschöpft sich erst, wenn das Gitarrenquartett gegen Ende des Stücks wieder auf das unisono E des Beginns einschwenkt und dieses im letzten Takt zum ersten und einzigen Mal „non tremolo“ einfach nur zupft und verklingen lässt. Was dann folgt, gehört zum Schön­sten des Stücks und lässt förmlich aufhorchen. Auch wenn sich dieser zauberhafte Moment bereits jenseits des finalen Doppelstrichs ereignet, wurde er doch von Anfang an mitkomponiert: die Stille danach.

Wie es ebenfalls hätte sein können

Eine weitere Fortschreibung von „Sätze mit Pausen“ sowie des darauf aufbauenden Folgewerks „Linie mit Schraffur“ ist „Szene mit Dunkel“ (2009) für Orchester. Wie der Begriff „Linie“ begegnet auch der Begriff „Dunkel“ schon in Hechtles Werkkommentar zu „Sätze mit Pausen“, als habe er von vorneherein im Sinn gehabt, eine Gruppe substantiell verwandter Werke zu schreiben. Nach Hechtles Auskunft war dies jedoch nicht der Fall, obgleich er nicht ausschließen möchte, dass noch weitere Werke entstehen, die mit diesem Material arbeiten. Wie im Ursprungswerk beginnt „Szene mit Dunkel“ mit demselben solistischen Arpeggio der Bassgitarre, mit exakt den gleichen Akzentuierungen der am Steg gezupften leeren Gitarrensaiten. Auch alle weiteren tonalen, rhythmischen und spieltechnischen Abwandlungen dieses Spielgestus sind nahezu identisch mit dem Gitarrenpart von „Sätze mit Pausen“. Den entscheidenden Unterschied macht einzig die neue Kontextualisierung im Orchester, die das Werk in die Nähe von György Kurtágs Totenklage „Grabstein für Stephan“ opus 15c (1978/79, revidiert 1989) für Gitarre und im Raum verteilte Instrumentalgruppen rückt. Die Andersartigkeit von „Szene mit Dunkel“ gegenüber „Sätze mit Pausen“ fasste Hechtle in dem einzigen lapidaren Satz zusammen, aus dem sein gesamter Kommentar zu diesem Orchesterwerk besteht, der da lautet: „Wie es ebenfalls hätte sein können.“

Indem das Gitarrenarpeggio in Takt 2 seinen Abschluss auf E1 erreicht, setzen Harfe und Kontrabässe mit demselben Ton ein, um auch im Folgenden immer wieder colla parte mit der Gitarre zu agieren (die Kontrabässe häufig mit Pizzikati). So bildet diese „Zupfgruppe“ (vor allem in Abschnitt B) eine im Ambitus stark erweiterte „Riesenbassgitarre“. Ebenfalls in Takt 2 setzen auf derselben Tonhöhe die Bläser ein, um aus dem pp-Unisono samt Wirbeln von Großer Trommel und Tamtam schnell ins Fortissimo zu crescendieren. Bei maximaler Stärke bricht diese Klangwelle jedoch schlagartig ab, so dass die zunächst verdeckten ppp-Liegetöne der Kontrabässe und Pauke als imaginärer Nachhall des Arpeggio-Abschlusstons der Gitarre hörbar werden. In völlig unregelmäßiger Folge schließen sich derartige Tutti-Crescendi auch an spätere Gitarrenarpeggien an. Die symphonische Wucht steht dabei in einem seltsamen Missverhältnis zu den zarten Gitarrentönen, die gleichwohl ursächlich Auslöser für die aufbrandenden Klangwellen zu sein scheinen. Das Ganze wirkt, als werfe man ein Steinchen ins Meer, woraufhin dieses entweder vollkommen still bleibe oder willkürlich mit einer Tsunami-Welle antworte.

Allerdings gibt es auch den umgekehrten Effekt, dass die Bläser wie in Takt 4 im Fortissimo beginnen und den von ihnen verdeckten Gitarreneinsatz erst durch anschließendes Pausieren freigeben. In jedem Fall greifen Gitarren- und Orchesterpart – zumeist auf der Grundlage derselben Tonhöhen – eng ineinander und camouflieren sich gegenseitig. Ihre eigenartig symbiotische Beziehung umschreibt auch der leicht befremdliche Werktitel „Szene mit Dunkel“. Naheliegender wäre die Formulierung „Szene im Dunkeln“ gewesen, um entweder eine geheimnisvoll lockende, vielleicht amourös verheißungsvolle Situation zu beschreiben oder eine unheimliche, gespenstische, furchteinflößende, oder all das zugleich. Statt lediglich als defizitärer Beleuchtungszustand, der sich mit verschiedenen Affekten verbinden lässt, wird „das Dunkel“ durch die seltsame Präposition „mit“ zu einer Art autonom handelndem Subjekt – vielleicht einem Orakel? –, dessen Bedeutung und Gestalt zwar dunkel bleiben, das aber „mit“ der „Szene“ irgendwie in Dialog tritt. Es scheint, als würden die „Sätze“ der Gitarre aus „Sätze mit Pausen“ dank des Orchesters zur „Szene“ und die „Pausen“ zum „Dunkel“. Tatsächlich wirkt das Orchester als geheimnisvolle Größe, die, einmal angerührt, entweder ruhig bleibt oder plötzlich aufbrandet und ebenso schnell wieder verstummt. Schließlich ähnelt der Titel „Szene mit Dunkel“ auch den Titeln der beiden anderen Werke dieses „Arpeggio-Triptychons“. Alle drei Titel gebrauchen dieselbe Präposition „mit“ im Zusammenhang mit den ähnlich dunklen, vieldeutigen Wörtern „Pausen“, „Schraffur“ und „Dunkel“. „Szene mit Dunkel“ könnte auch der Titel eines Gemäldes sein, auf dem sich Dunkles in oder über eine Szene schiebt, so wie „Linie mit Schraffur“ auf die Idee der musikalischen Übermalung verweist, wie sie sich Hechtles Lehrer Rihm in Anlehnung an den Maler Arnulf Rainer zu eigen gemacht hat.

Dunkel ist auch die Besetzung des Werks, das auf Violinen gänzlich verzichtet und in den Bläsern tiefe Instrumente und dunkle Klangfarben bevorzugt. Selbst A-Klarinetten und Oboen werden überwiegend in tiefer Lage geführt. Wie die Pikkoloflöte, die überhaupt nur zwölfmal zum Einsatz gelangt, erscheinen die Bläser in höheren La­gen vor allem als Färbungen oder imaginäre Resonanzen der Gitarre. Die Uraufführung durch das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR beim Eclat-Festival 2010 eröffnete schließlich noch eine weitere, vom Komponisten jedoch nicht beabsichtigte Deutung des Werktitels. Nach Philippe Manourys groß besetztem Violinkonzert „Synapse“ wurden lediglich die Stühle und Pulte der für Hechtles Stück nicht benötigten Violinen entfernt. Um die Umbauzeit möglichst zu verknappen, beließ man alle anderen Instrumente an ihren Plätzen, statt die Holzbläser zusammen mit Gitarre und Harfe – wie es die Aufstellungsskizze vorsieht – auf der linke Bühnenhälfte an die Stelle der fehlenden Violinen zu verfrachten. Stattdessen herrschten dort nun gähnende Leere und schummriges Dunkel, aus dem lediglich das solistische Duo von Gitarre und Harfe mit Scheinwerfern herausgehoben wurde. So entstand mit dem halbseitig weggeräumten Orchester eine unmittelbar sinnfällige, geradezu theatralische Umsetzung des Werktitels, eine „Szene mit Dunkel“. Diese hatte der Komponist zwar überhaupt nicht beabsichtigt, ließ sie nach der Uraufführung aber als eine Möglichkeit der Aufführung seines Stücks gelten.

Von besonderer Dunkelheit ist endlich auch die chromatische Umspielung des aufsteigenden verminderten Dominantseptakkords, der schon in „Sätze mit Pausen“ an das „Klagemotiv“ aus Wagners „Rheingold“ erinnerte. In bester Manier entwickelnder Variation führt Hechtle das Motiv sukzessive ein, indem er zunächst nur vereinzelte chromatische Seufzersekunden auftreten lässt (Takt 16 und 26), die sich in Abschnitt B (ab Takt 75) zu melodischen Linien in Fagott und Englisch Horn verdichten. Nachdem das Motiv zwischenzeitlich verschwindet und liegenden Farbklängen weicht, kehrt es im Schlussabschnitt E (ab Takt 171) plötzlich umso massiver im vieloktavigen Tutti-Unisono wieder. Im Verbund mit permanent durchlaufenden Paukenwirbeln und Rasgueado-Tremoli der Zupfin­strumente schraubt sich der düstere Gedanke in vier zunehmend länger werdenden Anläufen immer höher, bis er endlich im Fortefortissimo „Mit größter Kraft, nicht nachlassen!“ (ab Takt 195) abbricht. Die unmittelbar affektive Wirkung, die dieser apokalyptische Orchestertopos entfaltet, kollidiert zugleich mit dem Wissen um dessen Historizität. Den Hörer führt dies auf eine Gratwanderung zwischen ungebrochen sprechendem Ausdruck und geschichtsbewusster uneigentlicher Musik über Musik. Denn im Gegensatz zu vergleichbaren Stellen bei Wagner, Anton Bruckner, Wolfgang Rihm oder der „Hommage à Bruckner“ im ersten Satz von Kurtágs „Stele“ opus 33 (1993) für großes Orchester löst Hechtle die bedrohlich anrollenden Orchester-Unisoni nicht zu wahlweise siegreichen Dur- oder tragischen Moll-Dreiklängen auf, sondern lässt anschließend nur noch versprengte Seufzersekunden nachzittern und Gitarrenarpeggien auströpfeln. Erst im letzten Takt beschließt er das Stück – auch hierin „Sätze mit Pausen“ gleich – dann doch als dunkles c-Moll-Endzeitszenario.

Schwindel und Fall

Ähnlich dem Arpeggio von „Sätze mit Pausen“ oder dem Tremolo von „Linie mit Schraffur“ arbeitet Hechtle auch in seiner Ensemblekomposition „Vertigo – vor dem Fall“ (2007) mit einem einzigen bestimmenden Grundelement. Obligat durchlaufende Tonwechsel werden durch Legatobögen zu rhythmischen Einheiten von zweimal drei und einmal zwei Achteln zusammengefasst. Entgegen sonst eindeutiger Metrumsangaben notiert Hechtle dazu lediglich am oberen Partiturrand vier Viertel im Tempo = 80, weil die metrische Binnengestaltung nichts mit dem Viervierteltakt zu tun hat. Stattdessen folgt das gesamte Ensemble der obligaten Phrasierung Dreiachtel plus Dreiachtel plus Zweiachtel. Dem zuwider laufen lediglich die durchgehenden Woodblock-Sechzehntel in Schlagzeug 1, die sich zuweilen zu Sextolen, Quartolen und Quintolen verschieben und mit den obligaten Glockenspiel-Sechzehnteltriolen von Schlagzeug 2 kollidieren, sowie die Überbindungen von zweimal zwei punktierten Achteln in der linken Hand des Klaviers. Die ständig wiederkehrenden Dreier- und Zweiertakte wechseln also nicht nur nacheinander, sondern überlagern sich auch gleichzeitig zu einer polymetrischen Gesamttextur. Ähnliche Wechsel von drei- und zweizeitigen Me­tren finden sich auch in „furioso“ (1992) für Ensemble von Mathias Spahlinger, der dies auf die Sechsachtel- und Dreiviertel-Ambivalenzen des im Werktitel anklingenden böhmischen Tanzes „Furiant“ (auch „Furie“ genannt) bezog.

Durch fortwährende Wiederholung des pulsierenden Modells resultiert eine in sich bewegte Klangfläche sich gegeneinander verschiebender Wechselnoten. Zudem kommt es zu einem linearen Umbauprozess, bei dem Takt für Takt je ein Instrument anstelle des obligaten Dreier-Zweier-Wechsels die punktierte Zweierbewegung des Klaviers aufgreift, bis dieser Substitutionsvorgang in Takt 14 abgeschlossen ist und alle vierzehn Musiker im Unisono Duolen spielen. Indem diese schließlich in einen Tutti-Unisono-Liegeklang münden, der durch aufbrausenden Paukenwirbel verstärkt zum Fortissimo anschwillt, baut sich plötzlich ein kraftvoller Aufbruchsgestus auf. Nachdem die Wechselnotenkette zuvor nur von Ton zu Ton auf der Stelle trat, weckt diese Eruption plötzlich die Erwartung auf symphonischen Durchbruch zu etwas Neuem. Dessen Erfüllung durchkreuzt jedoch ein noch in den Klang hinein erfolgender Befehl „Zäh-len!“, den ein „Agitator“ unsichtbar aus dem Off durch ein Megaphon „aggressiv und bevormundend“ brüllt. Und tatsächlich beginnen die Musiker auf dieses Kommando hin schlagartig zu zählen: „eins zwei drei / eins zwei drei / eins zwei / eins zwei / eins zwei drei“ … Im doppelten Tempo ( = 160) flüstern sie „wie gehetzt“ eben jene obligaten Dreier-Zweier-Wechsel, die sie zuvor gespielt haben. Der Hörer mag dabei insofern von Schwindel erfasst werden, als er vom gerufenen Befehl und daran anschließenden Takte-Durchzählen – wie durch einen Verfremdungseffekt in Bertolt Brechts epischem Theater – aus dem musikalischen Zusammenhang und seiner darauf eingestellten Rezeptionshaltung herausgerissen wird, um die Musik und die gesamte Sphäre der Kunst sowohl zu dekonstruieren als auch die von außen störenden Einwürfe als neue Bestandteile der Musik in den Kunstrahmen zu integrieren. Erst ab Takt 46 setzen die Musiker nacheinander wieder ein, um eben die Metren zu spielen, welche die anderen noch unverdrossen weiter zählen, bis in Takt 54 wieder alle spielen.

Zählen gehört auch sehr zur Musik, weil Zählen etwas ist, was Musiker verinnerlicht und im Blut haben, und was im Fall von Vertigo“ veröffentlicht oder vorgeführt wird. Aber man könnte das Zählen auch noch anders verstehen. Ich habe da eher eine andere Konnotation, denn für mich hat es etwas Neu­rotisches. Das ist eine gefangene, in sich geschlossene Situa­tion, aus der die Musiker nicht herauskommen, sondern sie kreisen in diesen Metren. Es ist wie ein Zählzwang, und damit ein Aspekt von Schwindel, von Vertigo“. Das sind alles Metaphern für einen Zustand, der möglicherweise gerade dadurch, dass er sich als ein Moment höchster Kontrolle präsentiert – durch den „Agitator“, der den Musikern befiehlt, was zu tun ist –, ein Zeichen von Hilflosigkeit ist. Dahin würde eher meine eigene Sicht auf das Stück tendieren, sozusagen Zählen als ein Kompensationsversuch, der eigentlich auf die Hilflosigkeit dem Schwindel gegenüber verweist. Man versucht, sich mit einfachen Mitteln zu orientieren und zu fangen: „Eins zwei drei, eins zwei drei, eins zwei…, das ist, was ich weiß, was ich noch kann.“ Und wenn am Ende keiner mehr zählt, dann ist das ein toter Punkt, ein Schlusspunkt, wo das alles nicht mehr hilft.

Die Rückkehr zu den Instrumenten führt jedoch nicht in den Anfangszustand zurück. Stattdessen spielt das Ensemble jetzt die hin und her zuckenden Sechzehnteltrio­len, die zu Beginn das Glockenspiel ebenfalls in Zweier- Dreiergruppen phrasiert hatte. Scheinbar zur durchgehenden Sechzehnteltriolen-Pulsation geglättet, verursachen die doppelt so schnell erfolgenden Metrumswechsel also in Wirklichkeit einen umso größeren Schwindel bei Spielern und Hörern. Dieser verstärkt sich noch dadurch, dass das Ensemble mehrmals abbricht und statt seiner ein von Mal und Mal variierter Wechsel aus Dreier- und Zweierpulsen auf dem Woodblock geschlagen wird. Und dieser Schwindel, sprich „Vertigo“, erfolgt insofern „vor dem Fall“, als das Ensemble in Takt 64 den Unisono-Liegeklang zur Tutti-Kadenz E-Dur/a-Moll mit aufbrausendem Paukenwirbel verdichtet, was abermals vom FortissimoZuruf „Zäh-len!“ des „Agitators“ abgeschnitten wird, so dass der Hörer mit seinen durch diesen Aufbruchsgestus erneut geweckten Erwartungshaltungen abermals ins Leere stürzt.

Im weiteren Verlauf des 2007 bei den Wittener Tage für neue Kammermusik vom Ensemble Modern uraufgeführten Stücks kommt es noch mehrmals zu Umschlägen von Spielen und Zählen sowie zu Situationen, die bei Spielern und Hörern Zustände wie Schwindel und Fall evozieren. In Abschnitt D enden chromatisch höher sequenzierte Skalenläufe wahlweise abrupt in leise pfeifenden Flageoletts oder flirrenden Trillerflächen, als würde jemand die Wendeltreppe eines Turms hinaufrennen und an deren Ende ins Freie tretend augenblicklich von Höhenangst befallen. In Abschnitt E beginnt das Ensemble wieder zwischen Dreier- und Zweierphrasierungen zu schlingern. In F wird das Geschehen ständig von Generalpausen zerrissen. In G und H versetzen sich Überbindungen verschiedener Dauern polyrhythmisch gegeneinander. In K prallt ein rasant zwischen Dreier- und Zweierhebungen wechselndes Klaviersolo in der Art eines Perpetuum mobile „rasant und unnachgiebig“ – das exakt dem Anfang von Hechtles Klavierwerk „zurück“ aus demselben Jahr 2007 entspricht – auf homophone Akkorde. In Abschnitt L wird der bereits mehrfach wiederholte Aufbruchsgestus schließlich zu einer veritablen, vier Akkorde umfassenden Kadenz erweitert, in die hinein abermals der Zuruf „Zäh-len!“ erfolgt, woraufhin das Ensemble abbricht und eine Generalpause die Hörer erneut ins Nichts fallen lässt. Abschnitt M bereitet Spielern wie Hörern ein regelrechtes Schleudertrauma, indem durchlaufende Sextolen ständig schlagartig zwischen den beiden Tempi = 60 und 100 hin- und herspringen. In den letzten Abschnitten O, P und Q sind die Musiker schließlich fast nur noch am Zählen. Indem sie aber nicht mehr sämtliche Pulse pro Takt „ein zwei drei / eins zwei / eins zwei drei“ zählen, sondern immer öfter nur noch die Zählzeit „eins“, dünnt das Zählen immer weiter aus, bis schließlich keiner mehr zählt und der Agitator in die Stille hinein zweimal vergeblich „vollkommen außer sich“ „Zäh-len!“ schreit.

Freiwillige Selbstbeschränkung

Für einen Komponisten, der theoretisch keine Tabuzonen kennt und prinzipiell jedes Material für komponierbar hält, folgen Hechtles Werke einer erstaunlichen Selbstbeschränkung. „Fenster zur See“ (2011) für Claves und Orchester verlangt mindestens elf Claves-Spieler, die auch mehrfach besetzt werden können. Zu Beginn werden drei verschiedene Koordinationsformen simultan oder sukzessive montiert: homophon ein- und aussetzende Streichercluster und Claves-Tremoli; polyrhythmische Überlagerungen von acht gegen sechs gegen fünf Röhrenglocken-Schlägen; sowie aperiodisch versetzte Akzente von Violinen und Bratschen. Während sich die Streicher im Folgenden nach und nach zu einem durchgehenden Klangband zusammenschließen, das hier allerdings in Register, Spieltechnik und Dynamik häufig umgeschichtet wird, zersplittern die anfangs exakt synchronisierten Claves-Schläge immer mehr zu vor- und nachzitternden Impulsfolgen. Als einzige Bläser treten Oboen und Trompeten punktuell mit Liegetönen als reine Farbwerte hinzu. Wieder gestaltet Hechtle lediglich auf der Grundlage von drei verschiedenen Grundmaterialien ein knapp viertelstündiges Orchesterwerk, das bei allem Suchen und Vorantasten zugleich einen klaren konstruktiven Zugriff auf das Material erkennen lässt.

Wenn ich das Gefühl habe, dass die Idee des Stücks eigentlich schon existiert – das Stück existiert schon irgendwo und ich muss dieses Stück finden –, dann geht es nicht um meine Lust am Komponieren oder um meine Lust, Material zu verarbeiten, das spielt dann überhaupt keine Rolle mehr. Sondern es geht darum, dieses Stück zu finden. Das klingt vielleicht esoterisch, aber das passiert mir immer wieder. Und wenn sich das nicht einstellt, dann werde ich auch skeptisch, weil es sonst ein Hinweis dafür ist, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Es geht dann darum, die Entscheidungen zu treffen, die diesem Stück dienen. Das klingt verworren und esoterisch, weil ich natürlich derjenige bin, der alles bestimmt, klar. Ich denke an das Stück und ich denke auch an den Hörer, an denjenigen, der das Stück dann hört und wahrnimmt. Zum Beispiel bei „Fenster zum See“ hatte ich viele andere Entwürfe und Skizzen. Aber die Idee des Stücks bestand darin, gegen Ende das C der Streicher so lange liegen zu lassen – mehr als drei Minuten lang. Es hat mich die größte Anstrengung gekostet, die anderen Dinge deswegen alle wegzulassen und den Mut aufzubringen, den Ton auch wirklich so lang zu halten. Aber alles andere hätte nur gestört, hätte abgelenkt. Es war ganz wichtig, dass es diesen Moment gibt, in dem sich das Stück vollkommen öffnet, in dem es total weit wird, und gleichzeitig dadurch etwas beim Hörer passiert. Darauf verlasse ich mich dann, wenn meine Ahnung mir das sagt.

Geradezu rituelle Kargheit zeichnet „Kleines Licht“ (2012) für Ensemble ohne Dirigent aus, das Hechtle für ein Festkonzert zum sechzigsten Geburtstag seines einstigen Lehrers Wolfgang Rihm komponierte, gegenüber dessen permanent wie eine Feuersbrunst lodernder Schaffenswut sich jedes andere Wirken nachgerade zwangsläufig als „Kleines Licht“ bescheiden ausnimmt. Die Violine hebt hier stets von Neuem solistisch mit kleinen Arpeggien an, die jedes Mal ein lautstarker Beckenschlag abschneidet. Im Klangschatten dieser Schläge gesellt sich den anschließend mit viel Vibrato aufblühenden Geigenmelodien – die auf den Anfang von Rihms Violinkonzert „Gesungene Zeit“ anspielen – jeweils ein anderes Instrument colla parte hinzu. Wie von einer Tarnkappe unter den Beckenschlägen verdeckt, werden nach und nach alle Instrumente nahezu unmerklich als insgeheime Umfärbungen der Geige eingeschleust. Da die für die Klangfarbenwahrnehmung entscheidende Einschwingcharakteristik der Instrumente jedoch überblendet wird, lässt sich kaum ausmachen, ob es sich von Mal zu Mal um Flöte, Klarinette, Sopransaxophon, Posaune, Violoncello oder Kontrabass handelt. Und da die Instrumente zudem im Raum um das Publikum herum verteilt sind, erreichen die Klänge die Hörer auch mit jeweils anderer Abstrahlcharakteristik.

Eine neue poetische Zeit

Neben seiner Musik ist Markus Hechtle in den letzten Jahren auch mit einer Reihe von Texten und Vorträgen an die Öffentlichkeit getreten, die als kleine Geschichten oder Novellen angelegt sind und genuin literarische Qualitäten entfalten. Derlei spielerische Alternativen zum gewöhnlichen Sprechen und Schreiben über Musik suchen in der gegenwärtigen Musikpublizistik ihresgleichen. Bemerkenswert an diesen Erzählungen ist vor allem, dass sie sich sowohl inhaltlich direkt oder verschlungen auf Musik beziehen als auch strukturell, indem sie mittels literarischer Kompositionsweisen musikalische verdeutlichen. Kunst und Leben verschlingen sich dabei ebenso kunstvoll wie lebensnah miteinander, so dass oft nicht auseinanderzuhalten ist, was Fiktion ist und was Realität. Manches erinnert an die poetischen Rezensionen Robert Schumanns, der unter dem erklärten Anspruch, eine „neue poetische Zeit“ herbeiführen zu wollen, auf eine Poetisierung der Musik zielte, was er sowohl durch sprechenden Ausdruck seiner Werke zu erreichen suchte – nicht zuletzt mit Hilfe von formalen Freiheiten, geheimen Botschaften, Tonsymbolen, Verschlüsselungen, Selbst- und Fremdzitaten, wie sie auch in Hechtles Œuvre begegnen – als auch durch literarische Formen des Sprechens und Schreibens über Musik, wie er sie in der 1834 von ihm gegründeten „Neuen Zeitschrift für Musik“ propagierte. Schumann bediente sich dazu einer ganzen Reihe von Pseudonymen (Julius, Jonathan, Meister Raro, Chiara und das gegensätzliche Freundespaar Florestan und Eusebius), die er für fiktive oder reale Personen erfand, und die in seinen Texten und Rezensionen in unterschiedlichen Rahmensituationen Gespräche führen und dabei denselben Sachverhalt multiperspektivisch aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten.

In gleicher Weise lässt Hechtle verschiedene Stimmen zu Wort kommen und kleidet seine Vorträge in Rahmenhandlungen, die mit den eigentlichen Vorträgen – die er aus realen Anlässen tatsächlich hält – scheinbar nichts zu tun haben, sich durch kunstvolle Verbindungen aber plötzlich als eben diese Vorträge zu erkennen geben. Bei allen dunklen Quellen und Intuitionen, die jedes Schaffen speisen, zeigen nicht zuletzt diese elaborierten Erzähltechniken Markus Hechtle als einen Künstler, der zu konstruktivem und konzeptionellem Denken fähig und sich seines Tuns sehr wohl bewusst ist. Auf diese Weise zu schreiben begonnen hat Hechtle 2004.

Das hat angefangen mit dem Text „… wie der Tag ver­geht …“, der ja jetzt in den MusikTexten abgedruckt ist. Ich habe gemerkt, dass mir das Schreiben wahnsinnig Spaß macht und für mich eine ganz andere Art Möglichkeit ist, über Musik nachzudenken, auch mit einem anderen emotionalen Zugang. Und es ist etwas, was mir wesentlich leichter fällt als das Komponieren, das für mich eine ganz große Herausforderung ist und von dem ich nicht sagen würde, dass es mir „Spaß“ macht, das wäre nicht der richtige Begriff hierfür. Ich begreife mein Schreiben mehr literarisch, weniger als theoretische Äußerung über Musik, was mir eigentlich fremd ist. Denn man muss sich darüber im Klaren sein, dass das zwei unterschiedliche Perspektiven sind: Die Perspektive des Wissenschaftlers und die des Künstlers sind nicht vereinbar. Das sind zwei verschiedene Welten, die können sich nicht treffen, und da gibt es auch keine Kompromisse zu machen. Nur die Trennung ist hier das Verbindende, und so sollte man sich auch begegnen. Du kannst als Künstler nicht auch Wissenschaftler sein, das geht nicht. Leider haben viele Komponisten das behauptet oder versucht, was ich für fatal halte. Es macht ja gerade den Reichtum aus, dass man grundsätzlich unterschiedliche Perspektiven hat, was natürlich nicht heißt, dass beide Seiten nicht miteinander sprechen sollten, im Gegenteil, das macht ja auch viel Freude.

Hechtles in diesem Heft abgedruckter Text „… wie der Tag vergeht …“ verpuppt den Vortrag, den er beim Symposion „Tempo“ der Internationalen Ensemble Modern Akademie in Frankfurt 2004 gehalten hat, in die Schilderung eines durch genaue Zeitangaben gegliederten Alltags aus seinem Leben als Komponist. Dazu gehört auch die Ausarbeitung eben des Vortrags, in dessen Lektüre sich der Leser zu diesem Zeitpunkt bereits vertieft hat. Die erzählten Umstände und Schwierigkeiten von dessen Entstehung werden am Ende zu einem Teil des Vortrags selbst. Genese und Resultat fallen zusammen wie Erzähltes und Erzählung. Darüber hinaus liefert das scheinbar direkt aus dem Alltag gegriffene Zeit­erleben einen ebenso empirischen wie literarisch-künstlerischen Gegenentwurf zu dem in Hechtles Vortragstitel anklingenden Text „… wie die Zeit vergeht …“ (1956) von Karlheinz Stockhausen. Während dieser die Verhältnisse zwischen der Mikrozeit der Frequenzen (Schwingungen pro Sekunde) und der formal wirksamen Makrozeit (Strukturen, Abschnitte, Formen) streng systematisch und technoid-physikalisch erörterte, lässt Hechtle seine Gedanken über Zeit und Geschwindigkeit frei schweifen, auch über sein Bücherregal zu Texten von John Cage, Émil M. Cioran und Heinrich von Kleist, die damit ebenfalls in sein Vortragsmanuskript einfließen.

Zu Anfang des Vortrags „Komponieren nach Rihm und Spahlinger“ (2006) schildert Hechtle seine Anfahrt zu einem fiktiven „Symposion der Gesellschaft für Musikfuturologen“, bei dem er referiert, was der Besucher der Frühjahrstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 2006 gerade wirklich zu hören bekommt beziehungsweise der Leser des Symposionbands bereits liest. Die fiktive Erzählung wird plötzlich zu aktueller Realität: Vorstellung und Wirklichkeit verschränken sich ebenso wie erzählte Vergangenheit und momentan erlebte Gegenwart. Indem Hechtle schließlich die versammelten „Musikfuturologen“ Einwände gegen das von ihm Referierte machen lässt, weitet er seinen Monolog zum kontroversen Diskurs.

Eine philosophisch-musikalische Einheit bildet der Vortrag „Fauler Apfel, falscher Bart oder Philosophie als Krankheit zur Kunst?“9 Den Beitrag zum Dresdner Kolloquium „Neue Musik und Philosophie“ 2007 ist ein atemloser Flug sich gegenseitig hetzender Gedanken. Wie den seltsamen Reihungsschachteltitel formulierte Hechtle den Text als einen einzigen, ohne Punkte fortlaufenden Endlossatz, der sowohl formal als sprachliches Kontinuum als auch inhaltlich als labyrinthisch mäandernde Folge sich ständig gegenseitig aufhebender Philosopheme von Martin Heidegger, Karl Jaspers, Arthur Schopenhauer, Friedrich Schiller, Émil M. Cioran, Hannes Böhringer und Kurt Leonhard zentrale ästhetische Maximen benennt: Autonomie, Freiheit, existentielle Menschheitsthemen, ständige Suche und Störung. Inhaltlich wie strukturell macht Hechtle damit klar, für ihn ist Kunst ständige Bewegung, Nicht-Festlegbarkeit, Offenheit und Freiheit zum Widerspruch.

Hechtles augenblicklich jüngster Vortrag „Mein Schrei­ben als Tor“ (2011) beginnt mit einer Erzählung, von der bis zum Schluss unklar bleibt, inwieweit ihr Inhalt erdacht oder Teil von Hechtles Biographie ist. Der Ich-Erzähler bricht vom Schreibtisch auf, um jemanden zu besuchen, den er lange nicht gesehen hat. Die Fahrt mit dem Fahrrad geht durch die mit persönlichen Erinnerungen gefüllte Stadt und lässt ein Wiedersehen mit einem lieben Freund oder einer Freundin erwarten, für den oder die eigens noch Blumen gekauft werden. Doch der Ausflug endet unvermutet auf dem Friedhof am Grab eines vor achtzehn Jahren durch Selbstmord ums Leben gekommenen Freunds. Als Erzählung in der Erzählung berichtet eine Rückblende weiter, dieser Freund – Inbegriff eines jugendlich hochfliegenden Künstlers – sei zu Lebzeiten ein völlig unbekannt gebliebener Dichter gewesen, der über seine Gedanken zu Musik, Malerei und Literatur den Verstand verloren habe, in eine geschlossene Anstalt eingeliefert und dort völlig gebrochen worden sei. Zuvor hatten sich die Freunde noch besonders für verrückt gewordene Dichter interessiert, namentlich für Robert Walser, Fernando Pessoa sowie Antonin Artaud, Adolf Wölfli, Alexander März – die Hechtles Lehrer Rihm vertonte – und Jakob van Hoddis, auf dessen gleichnamigen Text Hechtle 1999 eine „Klage“ für sieben Stimmen schrieb. Ausgerechnet diese Dichternamen verankern in der Erzählung so etwas wie Wirklichkeit, die jedoch gleichbedeutend ist mit Dichtung beziehungsweise Musik, so dass über das Verhältnis von Kunst und Leben doch nichts gesagt wird. Mögliche Antworten auf die Frage, wie sich bei Hechtle Schrei­ben und Komponieren zueinander verhalten, geben im Verlauf des Texts verschiedene Varianten des mehrdeutigen Vortragstitels „Mein Schreiben als Tor“ in der Bedeutung von „Tor“ sowohl als Narr oder Irrer als auch als Tür oder Durchgang. Schreiben erscheint demnach sowohl als etwas Törichtes als auch als Mittel und Weg zu etwas Anderem. Doch hüllt Hechtle das Verhältnis seines Schreibens und Komponierens mit einem Paradox letztlich in Dunkel: „Mein Schreiben ist wie mein Komponieren. Mein Schreiben ist dennoch nicht vergleichbar mit meinem Komponieren.“10

In allen seinen Vorträgen kreist Hechtle um den Gedanken, dass jede Frage nach dem Verstehen und dem Gehalt von Musik letztlich an Musik vorbeigeht, weil damit nicht nach Musik gefragt wird, sondern nach Nicht-Musikalischem, während Musik in ihrer Begriffslosigkeit nichts anderes ist als eine Gestaltung eben jener Zeit, die jeder Mensch auch sonst Tag und Nacht erlebt. Indem Hechtle diesen Gedanken immer wieder beredt umkreist, erzeugen seine Vorträge jenseits aller Worte eine der Musik analoge zeitlich-formale Struktur, die sich zur unausgesprochenen Aussage verdichtet: Die Form der Musik ist ihr Inhalt. Denn nur wenn Musik ganz sie selbst ist, können sie und das Musikhören auch über sich hinaus auf Anderes weisen und vielleicht die großen Rätsel des Lebens, Raum und Zeit, begreifbar machen. Dieses Paradox erinnert an August Wilhelm und Friedrich Schlegels frühromantische Idee einer „progressiven Transzendentalpoesie“. Als von inhaltlichen Aussagen losgelöste autonome Poesie ist diese zugleich selbstreferentiell ihre eigene Poetik. Und so wie Poesie nur durch Poesie kritisiert werden könne und jedes Kunsturteil selbst ein Kunstwerk sein müsse, ist auch Musik ein eigenes inkommensurables Medium, dem durch ein fremdes wie Sprache nicht beizukommen ist. Hechtle deswegen als „Neoromantiker“ zu bezeichnen, oder wahlweise als „Postmodernisten“, hieße ihn in völlig falsche Schubladen stecken, zumal er gerade an diejenigen Ideen und Ansätze der Gebrüder Schlegel oder von Schumann anknüpft, die in ihrer Selbstreflexivität spezifisch moderne Züge zeigen und nicht auf eine epochale Stilistik begrenzt sind, sondern in ihrer rätselhaft-paradoxen Sprach-, Werk- und Stückhaftigkeit vielmehr insgesamt so etwas wie Kunst ausmachen. Denn: „Gebildet ist ein Werk, wenn es überall scharf begraenzt, innerhalb der Graenzen aber graenzenlos und unerschoepflich ist, wenn es sich selbst ganz treu, ueberall gleich, und doch ueber sich selbst erhaben ist.“11 Oder in Hechtles Worten:

Das Schreiben hat auch noch den Aspekt, das ernste Nachdenken über Musik manchmal auch mit einer Leichtigkeit und mit anderen Aspekten des Lebens zu verbinden. Das ist für mich ganz wichtig: Für mich ist Musik ganz eng an alles andere gebunden. Ich kann Musik nicht so isoliert betrachten. Möglicherweise interessiert mich Musik gar nicht, um es pointiert zu formulieren. Sondern Musik ist vielleicht eine Möglichkeit für mich, ein Weg oder ein „Tor“, um den Blick zu bündeln, oder gerade nicht zu bündeln, sondern schweifen zu lassen, mir über Dinge klarer zu werden, oder mir noch unklarer zu werden, oder wie auch immer. Vielleicht ist Musik ein Mittel oder Vehikel dazu, genau kann ich das nicht formulieren. Musik ist jedenfalls nicht nur als Musik für mich interessant. Ich versuche nicht, durch Zitate oder irgendwelche Verweise in Musik auf irgendetwas anderes zu verweisen, das interessiert mich nicht. Im Gegenteil. Gerade dann, wenn Musik ganz bei sich ist, kann sie Tor sein woandershin und über sich selbst hinausweisen. Und das ist etwas, was ich großartig finde an Musik. Denn das ist doch genau das, was uns an Musik interessiert, zumindest die meisten, ganz egal, um welches Genre es sich handelt, ob wir das sind mit unserer klassischen zeitgenössischen Musik oder Leute, die Rock- und Popmusik hören. Es geht immer darum, dass Musik eine Ausstrahlungskraft hat über das hinaus, was sie eigentlich ist. Das ist großartig und macht ihre große Anziehungskraft und Faszination aus: Dass der Mensch sich in Musik finden kann.

1August Wilhelm und Friedrich Schlegel, „Fragmente“, in: Dieselben, Athenaeum – Eine Zeitschrift, Band I, 2, Berlin 1798, Reprint Dortmund: Harenberg, 1989, 123 (315).

2Markus Hechtle, „Komponieren nach Rihm und Spahlinger“, in: MusikTexte 110, Köln, August 2006, 7.

3Markus Hechtle, „... wie der Tag vergeht ...“, MusikTexte 134, Köln, August 2012, 53–60.

4Markus Hechtle, 198 Fenster zu einer imaginierten Welt. Versuch über die elementare Arbeit von Mathias Spahlinger in seinem Orchesterwerk „passage/paysage“, Saarbrücken: Pfau, 2005, 96.

5Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik (1948), Frankfurt: Suhrkamp, fünfte Auflage 1969, 42.

6Diese und alle nachfolgenden Äußerungen von Markus Hechtle entstammen einem Gespräch, das der Autor erst nach Abschluss dieses Porträttexts mit dem Komponisten am 20. Juli 2012 im Café Tiergarten in Karlsruhe geführt hat.

7Markus Hechtle, „… wie der Tag vergeht …“, am angegebenen Ort..

8Karl Kraus, „Pro domo et mundo“, in: Derselbe, Aphorismen (= Werke Band 8), herausgegeben von Christian Wagenknecht, Frankfurt: Suhrkamp, 1986, 291.

9Markus Hechtle, „Fauler Apfel, falscher Bart oder Philo­sophie als Krankheit zur Kunst?“, in: Hören & Denken. Neue Musik und Philosophie, herausgegeben von Marion Demuth und Jörn Peter Hiekel, edition neue zeitschrift für musik, Mainz: Schott, 2011, 113–120.

10Markus Hechtle, „Mein Schreiben als Tor“, in: Berührungen – Über das (Nicht-)Verstehen von Neuer Musik (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Band 52), herausgegeben von Jörn Peter Hiekel, Mainz: Schott, 2012, 84–91, hier 88.

11August Wilhelm und Friedrich Schlegel, „Fragmente“, am angegebenen Ort, 81 (273).

Das Copyright der Notenbeispiele liegt bei Markus Hechtle, Karlsruhe.