MusikTexte 134 – August 2012, 87–88
Echolote über den Tellerrand
Das „Stationen“-Projekt der Gesellschaften für Neue Musik in NRW
von Rainer Nonnenmann
Ensembles und Vereine der neuen Musik sind zumeist das Ergebnis von Selbsthilfeinitiativen, mit denen sich Musiker, Komponisten und Musikologen von bereits bestehenden Institutionen und Richtungen abgrenzen beziehungsweise – weniger konfrontativ – diese ergänzen, sei es ästhetisch, ideell, personell, methodisch oder kulturpolitisch. Damit tragen sie zur Herausbildung verschiedener Stile, Richtungen, Sparten und Untersparten ebenso bei wie insgesamt zur pluralen Ausdifferenzierung des Musiklebens, dessen Vielfalt, Reichtum und Diversität allerdings seine Kehrseite in zunehmender Unübersichtlichkeit und Zersplitterung der Szene hat. Zu viel Aktivität in jeweils eigener Sache führt fast zwangsläufig zur Parzellierung eines Schrebergarten-Kleinkleins, wo man schlimmstenfalls nicht mehr über die selbst gesetzten Hecken und Jägerzäune zu blicken vermag, weil jeder als sein eigener Fixpunkt von sich selbst so geblendet ist, dass er sich nicht mehr als Teil des viel größeren Universums mit zahllosen benachbarten und weit entlegenen Sternen und Sternchen wahrzunehmen in der Lage ist.
Frei nach dem Motto „lokal handeln, aber regional denken und vernetzen“ gründete sich 2008 auf Initiative des Landesmusikrats Nordrhein-Westfalen (LMR) ein Arbeitskreis aus Vertretern der insgesamt neun Gesellschaften für Neue Musik (GNMs) in Nordrhein-Westfalen, damit diese sich gegenseitig kennenlernen, Informationen austauschen und Kooperationsmöglichkeiten entwickeln können. Obwohl teils nur wenige Zug- oder Autominuten voneinander getrennt, wussten viele dieser Gesellschaften bis dato reichlich wenig voneinander. Neben der Kölner Gesellschaft für Neue Musik (KGNM) als der ältesten, größten und aktivsten gibt es vergleichbare Gesellschaften auch in anderen Städten und Regionen Nordrhein-Westfalens, die ähnlich produktiv und unverzichtbar sind: in Aachen, Bielefeld, Dortmund, Düsseldorf, Essen, Münster, Ost-Westfalen-Lippe und Wuppertal. Nach vereinzelten „Fensterkonzerten“, bei denen sich Komponisten und Interpreten der einen Gesellschaft in der Stadt einer anderen präsentierten, und umgekehrt, startete der Arbeitskreis jetzt das Projekt „Stationen“. Gemeinsam veranstaltet vom LMR und der KGNM wurde das Projekt gefördert vom Landesmusikrat, Kulturministerium des Landes und sechs Kulturämtern jeweils vor Ort.
Idee des Projekts war es, je einem Komponisten aus sechs beteiligten GNMs den Auftrag zu einem neuen Stück für das seit 2006 bestehende Münsteraner „ensemble:hörsinn“ zu erteilen, das die Werke nach der Dortmunder Uraufführung anschließend auch in den anderen Städten der beteiligten sechs GNMs spielte. Dem Kölner Konzert, das die KGNM am folgenden Tag mit einem weiteren Konzert zu einem kleinen Musikfest verband, ging eine Tagung zum Thema „Neue Musik aus NRW“ voraus, die der Generalsekretär des Landesmusikrats Robert von Zahn bei der Arbeitsgemeinschaft für rheinische Musikgeschichte initiiert hatte und die viele Informationen über die verschiedenen Gesellschaften im bevölkerungsreichsten Bundesland zusammentrug. Zu Anfang hatte der Verfasser dieses Artikels versucht, am Beispiel der neuen Musik in Köln systematisch Entstehungsgründe, Mechanismen und Strukturen aufzuzeigen, die bei allen lokal und regional unterschiedlichen Situationen in ähnlicher Form auch bei den Initiativen der neuen Musik in anderen Städten anzutreffen sind. Nachfolgend berichteten acht Vertreter der GNMs in NRW über die Situationen der neuen Musik in ihren Städten und die Aktivitäten ihrer Gesellschaften.
Hans Walter Staute stellte heraus, dass in Aachen neue Musik kaum eine Rolle spielt und nahezu ausschließlich von der dortigen „Gesellschaft für zeitgenössische Musik“ veranstaltet wird, zumeist spartenübergreifend zwischen neuer komponierter und improvisierter Musik. Als pragmatischen Hauptgrund zur Bildung des Zusammenschlusses „Musik21“ 2006 nannte der Düsseldorfer Komponist Erik Janson die gegenüber Einzelpersonen für einen Verein ungleich besseren Aussichten auf Fördermittel. Jörg-Peter Mittmann referierte über die dezentrale Situation in Ost-Westfalen-Lippe (OWL), besonders über Ensemble „Horizonte“, Klangwerkstatt Detmold, Forum neue Klänge und das von Georg Timm 2010 initiierte „Hörfest OWL“. Der Komponist und Musikwissenschaftler Gordon Kampe gab einen Überblick über Geschichte und Gegenwart der neuen Musik im Ruhrgebiet, angefangen bei Nicolaus A. Hubers DKP-nahen „Politrevuen“ der siebziger Jahre über das vor allem dank Gerhard Stäbler 1996 ins Revier geholte Weltmusikfest der IGNM bis zu den heute schick herausgeputzten Denkmälern der Industriekultur als Spielstätten etablierter Hochkultur. Während viele Referenten über geringen gesellschaftliche Rückhalt und mangelnde Finanzierung klagten, schilderte Erhard Hirt dagegen das Umfeld der 2000 aus dem Bürgerzentrum CUBA hervorgegangenen Biennale „KlangZeit“ in der Universitätsstadt Münster als günstig, sowohl finanziell wie auch sozial und strukturell, weil es interessiertes junges Publikum und gute Kooperationen mit örtlichen Institutionen wie Musikhochschule, Kunstakademie, Theater, Orchester, Landesmuseum und Kulturamt gibt. Eher Beschreibungen von Einzelprojekten denn Strukturanalysen gaben die Wuppertaler Regionalkantorin Ruth Forsbach mit der seit 1995 existierenden „Biennale für Neue Musik im Bergischen Land“, der Komponist und Dirigent Johannes Marks mit seinem aus Profis und Laien zusammengesetzten Dortmunder Orchester „Sinfonia“ sowie die Sängerin Edith Murasov zusammen mit dem Cellisten und Improvisator Willem Schulz mit den Aktivitäten der „Cooperative Neue Musik“ Bielefeld.
Im Anschluss an die Tagung wurden beim fünften „Stationen“-Konzert in Köln die fünf Auftragswerke präsentiert – das sechste von Jörg Birkenkötter war nicht rechtzeitig fertig geworden. Geboten wurde ein buntes Kaleidoskop unterschiedlichster Ansätze: Eine halbszenische Improvisation von Willem Schulz (Bielefeld), Anleihen beim Jazz-Rock der achtziger Jahre im Stile Miles Davis’ von Eric Janson (Düsseldorf), vollklingend auf der Stelle tretende Repetitionen und Arpeggiogesten von Johannes Marks (Dortmund) sowie zupackend grelle Farbwechsel von Gordon Kampe (Essen). Der spannendste, weil vielschichtigste Beitrag stammte von Christina C. Messner (Köln), die in ihren „idyllen“ – acht attacca ineinander übergehende „Stationen“ – verschiedene Spielarten menschlicher Sehnsucht nach einem heilen Refugium sowohl innermusikalisch als auch assoziationsreich umsetzte.
Dank der insgesamt sieben „Stationen“-Konzerte wurden die gespielten Werke und Komponisten einem ungleich größeren Publikum bekannt. Schließlich stärkte das Gemeinschaftsprojekt auch die Vernetzung der lokalen GNMs untereinander. Insofern ist die bereits angedachte Neuauflage des Projekts unbedingt zu wünschen, mit anderen Ensemble und anderen Komponisten. Die Programmfindung allerdings sollte überdacht werden. Klarere und transparentere Vergabemodalitäten würden den ausgewählten Stücken mehr Gewicht verleihen und ihrer Zusammenstellung den Ruch des „Zufälligen“ nehmen. Dass drei der fünf Kompositionsaufträge ausgerechnet an diejenigen Vorstandsmitglieder gingen, die in Bielefeld, Düsseldorf und Essen/Ruhrgebiet für ihre jeweilige Gesellschaft das „Stationen“-Projekt betreuten, ist in der Tat eine allzu – so das Grußwort im Programmheft – „vertrauensvolle“ Vergabepraxis. Darüber hinaus zeugt solches Selbstvertrauen mehr von Selbstbefruchtung denn von wirklicher Neugier für das, was man eben nicht selbst macht, kann oder kennt. Nur Offenheit für Anderes macht einen Austausch überhaupt erst sinnvoll.
Dass dieses Austauschprojekt jetzt auf Landesebene stattfand, war richtig, wichtig und erhellend, und könnte für andere Bundesländer Vorbildfunktion haben. Immerhin wurde deutlich, dass es auch zwischen Aachen und Ost-Westfalen-Lippe oder auf ein paar Kilometer gedrängt zwischen Köln, Düsseldorf, Essen und Dortmund kleine historische, kulturelle und ästhetische Unterschiede gibt. Doch sind die Differenzen im nationalen und internationalen Vergleich weit gravierender, so dass ein Austausch auf dieser Ebene ungleich lohnender wäre. Gerade von Nordrhein-Westfalen aus ließen sich relativ leicht Kontakte zu den benachbarten BeNeLux-Ländern aufbauen. Schließlich ist die neue Musik längst eine weltweite Erscheinung und gab es bereits in der Vergangenheit gelungene Austauschprojekte, so in den achtziger Jahren zwischen der KGNM mit Liège in Belgien, zwischen NRW und Flandern oder jüngst zwischen der Düsseldorfer „Musik21“ und Berlin. Die meisten größeren Städte haben heute ein Dutzend Partnerstädte auf der ganzen Welt, die sich zum Austausch in Sachen neuer Musik lohnen. In diesem Sinne: „Think global, act local!“
John Cage 100
Bei Hanns-Werner Heister lese ich über John Cage: „Denn Cage ist freiheitlich-liberal im US-amerikanischen Sinn, liebt und verehrt die Ordnung des Markts und seine Demokratie und glaubt an dessen ,unsichtbare Hand‘ (Adam Smith), die alles vortrefflich lenkt und zum besten wendet: „Ob ich sie erzeuge oder nicht, es gibt immer Klänge zu hören, und alle sind sie vortrefflich.“
Wow! ... Das ist wirklich enorm! Wie Heister diese Kurven nimmt, kurz an die Leitplanken schlägt, um dann im hohen Tempo doch noch auf der Zielgeraden anzukommen und Cage direkt auf der Achse des Guten als Mitbegründer der FDP zu verorten! Das verlangt Fantasie und schöpferischen Willen, selbst beim geneigten Leser ...
Aus: Carl Ludwig Hübsch, Leserzuschrift, in: Neue Zeitschrift für Musik, Heft 4/2012, Seite 8 zu: Hanns-Wener Heister, CAGE. Apologie und Laudatio, in: Neue Zeitschrift für Musik „John Cage 100“, Heft 2/2012, 17–19.