MusikTexte 135 – November 2012, 70–71

Traditionsbewusster Neutöner

Zum Tod von Hans Werner Henze

von Rainer Nonnenmann

Sein Leben glich dem des reichen Kannitverstan aus Johann Peter Hebels „Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes“: Kaum etwas hab es, was er in seinem Leben nicht geschaffen und erreicht hätte. Seit den sensationellen Uraufführungen seiner Komischen Oper „Der junge Lord“ auf ein Libretto von Ingeborg Bachmann 1965 an der Deutschen Oper Berlin in der Regie von Gustav Rudolf Sellner und dirigiert von Christoph von Dohnányi und direkt im folgenden Jahr seines Musikdramas „Die Bassariden“ nach Euripides auf ein Libretto von Wyston Hugh Auden und Chester Kalman mit dem gleichen Team von Sellner und Dohnányi bei den Salzburger Festspielen galt Hans Werner Henze als führender zeitgenössischer Musikdramatiker, viel beschworener Erbe von Richard Strauss, und einer der weltweit produktivsten und erfolgreichsten Komponisten.

Neben Oper und Konzert fand seine Musik über Rundfunk und Schallplatten internationale Verbreitung. Die Werke des Universalisten und „letzten Groß­komponisten“ – als den ihn manche bezeichnen – gehen in die Hunderte. Er komponierte allein zehn Sinfonien, vier­zehn abendfüllende Opern, sie­benund­zwanzig weitere Bühnenwerke, darunter etliche Ballettmusiken, fünf Streichquar­tette, zahlreiche Instrumen­talkonzerte für weltbekannte Interpreten, Schauspiel- und Filmmusiken, Solo-, Kammermusik- und Vokalwerke, Lieder, Orchesterlieder, Konzertarien, Monodra­men, Oratorien, Kantaten und ein „Re­quiem“. Zudem veröffentlichte Henze mehrere Arbeits­tagebücher zu seinen Werken und ver­schiedene Bücher, darunter 1976 den Essayband „Musik und Politik“, gab vier Bände der von ihm initiierten Reihe „Neue Aspekte der Musikalischen Ästhetik“ im Fischer-Verlag zwischen 1979 und 1999 heraus und brachte zu seinem siebzigsten Geburtsjahr seine Autobiographie „Reiselieder mit böhmi­schen Quinten“ auf den Musikbuch­markt. Früh erhielt er bedeutende Musik- und Kunstpreise. 1990 wurde er mit dem Ernst von Siemens Musikpreis ausge­zeichnet. Hinzu kamen Ehren­doktor­würden, Eh­renbürgerschaften, Verdienst­orden, Me­daillen, Mitglied­schaften in Akade­mien sowie Pro­fes­suren am Mo­zarteum Salzburg und von 1980 bis 1991 an der Musikhochschule Köln.

Geboren wurde Hans Werner Henze am 1. Juli 1926 als erstes von sechs Kindern in Gütersloh. Nach schlimmen Erfahrungen während der Nazi-Zeit – auch mit dem eigenen Vater, einem Dorfschullehrer und fanatischen Nazi, der den Sohn auf eine Musikschule der Waffen-SS schicken wollte – sowie beim „Reichsarbeitsdienst“, auch einigen Mo­naten als Funker bei der Wehrmacht und kurzer britischer Kriegsgefangenschaft begann er ein Musikstudium an der Staatsmusikschule Braunschweig, bevor er das Kompositions­stu­dium bei Wolf­gang Fortner in Heidel­berg aufnahm. Als Korrepetitor am Stadt­theater in Bielefeld und Kapellmeister in Konstanz und Wies­baden sammelte er praktische Erfahrungen mit Ballett und Musik­thea­ter. Die Uraufführung seines neoklassi­zistischen Kammerkonzerts für Klavier, Flöte und Streicher opus 1 bei den ersten Darmstädter Ferienkursen 1946, also lange vor dem Aufbruch der seriellen Darmstädter Schule, brachte ihm einen ersten Verlagsvertrag. Auch wenn er später nach einem ent­sprechenden An­gebot einmal erwogen hat, den Verlag zu wechseln, ist er sein Leben lang im glei­chen, besonders an den Opernbühnen präsenten Verlag geblieben. Die gleich­altrigen Komponisten Pierre Bou­lez, Luigi Nono, Karel Goeyvaerts und Karl­heinz Stock­hausen betraten dieses inter­nationale Avantgardeforum dagegen erst Jahre spä­ter, als Henze dieses schon wieder verlassen hatte und sich vom Fortschritts- und Reinheitsfanatismus der dort auf­tretenden Jüngeren dis­tan­zierte.

Während jene das musiksprachliche Erbe rigoros überwinden wollten, suchte Henze die Kluft zwischen atonaler neuer Musik und tonalen Hörgewohnheiten zu überbrücken, indem er an die Tradition der europäischen Kunstmusik von Wagner, Mahler, Berg und Bartók anknüpfte und seinen Instrumental­werken durch lyrische, epische oder dramatische Texte sprechenden Aus­druck verlieh. Als dreifacher Außenseiter, nämlich – im Verhältnis zur seriellen Avantgarde – als Traditionalist sowie als Linker und Homophiler, glaubte er schließlich besser in Italien leben zu können als in der restaurativen Bun­desrepublik Konrad Adenauers. 1953 übersiedelte er auf die Insel Ischia im Golf von Neapel, wo seine späteren Li­brettisten Wyston Hugh Auden, Ches­ter Kallman und Heinz von Cramer lebten und wohin ihm wenig später Ingeborg Bachmann folgte, die er bei einem Treffen der „Gruppe 47“ kennengelernt hatte.

Die „Nachtstücke und Arien“ auf zwei Bachmann-Gedichte von 1957 zeigen Henze als Eklektiker und bewussten Anti­modernen, der Expressivität mit südländischer Heiterkeit und wohlklin­gendem Belcanto vereint. Die Urauf­füh­rung bei den Donaueschinger Musikta­gen verließen Nono, Boulez und Stock­hausen demonstrativ noch während des romantischen Hornsolos zu Beginn, wodurch ihnen dann freilich entging, dass Henzes Musik die exi­stentiell gefährdete Schönheit der Welt unter den Vorzeichen des Kalten Kriegs und der atomaren Bedrohung zeigen wollte. Zusammen mit Bachmann realisierte Henze 1958 auch die Litera­turopern „Der Prinz von Homburg“ nach Heinrich von Kleist, die Helmut Käutner in Hamburg inszenierte, und 1964 „Der junge Lord“ nach Wilhelm Hauff, bei der Henze bei den Schwetzinger Festspielen selbst die Regie übernahm.

Nachdem Henze in „Elegie für junge Liebende“ noch die Auffassung vertreten hatte, ein Künstler müsse seine Umwelt ausbeuten und notfalls sogar opfern, wenn sie seinem Werk im Wege steht, vollzog er während der allgemeinen Po­litisierung der sechziger Jahre eine Wen­dung. Er trat der Kommunistischen Par­tei Italiens bei und plädierte fortan für eine durch die Umwelt beeinflusste und auf diese zurückwirkende „musica im­pura“, deren programmatische Aus­sagen er mit zahlreichen Fremd-, Stil- und Genre­zitaten zwischen Revolutions­lie­dern und Wagners „Tristan“ zu prä­zi­sieren suchte. Auch realisierte er meh­rere politische Musiktheaterwerke, 1969 bis 197o etwa das Rezital „El Cimarrón“ auf den Lebensbericht des geflohenen kubanischen Sklaven Estéban Montejo in Hans Magnus Enzensbergers Einrich­tung eines Texts von Miguel Barnet und 1973 die nach Art eines Vaudeville komponierte Fernsehoper „La Cubana“ ebenfalls nach Barnet als Desillusion des Kubanischen Kom­munismus und als Polemik gegen den Elfenbeinturm der Avantgarde, sowie 1976 mit „We come to the River“ auf ein Libretto von Edward Bond als Protest gegen den Viet­namkrieg und die chilenische Militär­diktatur von Augusto Pinochet.

Neben seinem politischen Engagement setzte sich Henze auch für Laienmusik und den künstlerischen Nachwuchs ein, in Workshops und Kursen, als Gründer und Leiter der Cantiere Internazionale d’Arte in Montepulciano von 1976 bis 1980, 1984 als Initiator des Jugendmu­sikfestivals Deutschlandsberg in der Steiermark, sowie Gründungsintendant der Münchener Biennale für neues Mu­siktheater von 1988 bis 1996. Zu seinen Schülern zählen veritable Musikdrama­tiker wie Detlev Glanert, Jan Müller-Wieland, Matthias Pintscher und Jörg Widmann. Da­rüber hinaus kümmerte sich Henze um junge Hörer. Seine für Montepulciano geschriebene Märchen­oper „Polli­cino“ von 1980 gehört zu den er­folgreichsten ihrer Art. 1983 brachte er mit „Die englische Katze“ auf ein Libretto von Edward Bond für die Schwetzinger Festspiele eine sehr britisch skurrile „Katzenoper“ für erwachsene Kinder auf die Bühne. Umgekehrt sind Henzes Opern und Tanztheaterstücke vielfach auf englischen Bühnen aufgeführt und in einigen Fällen wie dem romantischen Ballett „Ondine“ von 1956/57 in der Choreographie von Frederick Ashton nach De la Motte-Fouqué für die Royal Opera Covent Garden in London komponiert worden sind. Man könnte von einer besonderen Affinität Henzes zum eng­lischen Musik­leben und zu englischen Komponisten wie Britten, Peter Maxwell Davies und Anthony Turnage sprechen.

Obwohl sich Henze nach „L’Upupa und der Triumph der Soh­nesliebe“ – 2003 bei den Salzburger Festspielen ur­aufgeführt – um 2005 infolge schwerer Krankheit und des Tods seines lang­jäh­rigen Lebensge­fährten und Adoptiv­sohns Fausto Moroni den Anstrengun­gen des Opernkompo­nierens nicht noch einmal unterziehen wollte, konnte er dennoch nicht davon lassen. So kam es 2007 zur Premiere der Konzertoper „Phaedra“ an der Berliner Staatsoper Un­ter den Linden mit dem Ensemble Modern und 2010 zur Ur­aufführung der abendfüllenden Kin­der­­oper „Gisela! Oder die merk- und denkwürdigen Wege des Glücks“ beim großen „Henze-Projekt“ der Europäi­schen Kul­tur­­haupt­stadt „RUHR“.

Zuweilen kollidierten Henzes links­po­li­­tische Ideale mit seinem Lebensstil. Wäh­rend er mit seiner Musik für Schwarze, Unterdrückte, Verfolgte und – zusammen mit Freunden und Schülern – für streikende Mannesmann-Arbeiter eintrat, erschien er zugleich als „Edelkom­mu­nist“ im Dreiteiler mit Fliege, Kasch­mirschal und aristokratischen Dan­dy-Allüren, mit Villa und Olivenhain bei Marino in den Albaner Bergen südlich von Rom und einem Komponierturm auf Lamu vor der kenianischen Küste. Was die Linke italienischer Komponisten angeht, stand er damit allerdings keineswegs allein. Auf der einen Seite schrieb er in seinem Ernesto „Che“ Guevara gewidmeten „Das Floß der Medusa“ eine Schlussapotheose auf den Rhythmus des Anti-Viet­nam­kriegs-Slogans „Ho, Ho, Ho, Chí-Minh“ auf den gleichna­migen vietnam­esischen Revolutionär, um damit für eine freie Gesellschaft jenseits bürgerlich-kapitali­stischer Wirtschafts- und Lebens­formen einzutreten. Während dieses Oratorium zum aufmüpfigen Skandalwerk der sech­ziger Jahre wurde, bei dessen Hamburger Uraufführung sich der RIAS-Kammerchor unter einer roten Fahne zu singen geweigert hatte, gehörte Henze zugleich fest zum Est­ablishment des bürgerlichen Musikbe­triebs, als Komponist traditio­neller For­men und Gattungen, für hoch- qua­lifizierte Solisten und Dirigenten (darunter Heinrich Schiff, Homero Fran­cesch, Gidon Kre­mer, Heinz Holliger, Dennis Russell Davies und Markus Stenz) und ein gebildetes europäisches Kon­zertpub­likum, sowie als ständiger Gast­dirigent der Berliner Phil­harmoniker – zum Beispiel seiner Sinfonien –, als Intendant, Repräsentant, Funktionär und vielfacher Ehrenträger.

Im September wurde mit seiner Anti-Kriegsoper „Wir erreichen den Fluss – We come to the river“ die Spielzeit 2012/13 an der Semperoper Dresden eröffnet. Mitte Oktober besuchte er noch eine Aufführung seines Orchesterstücks „Sebastian im Traum“ nach einem Gedicht von Georg Trakl (2004) mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden unter Leitung von Chefdirigent Christian Thie­lemann. Einem Ballett­abend in der Semperoper mit seinem 1950 entstan­denen und 1990 revidierten „Das Vokal­tuch der Kammersängerin Rosa Silber: Exercise mit Strawinsky – Ballettmusik über ein Bild von Paul Klee“ musste er aus gesundheitlichen Gründen bereits ebenso fernbleiben wie am 20. Oktober der Uraufführung seiner kurzen „Ouver­türe zu einem Theater“, die er zuletzt noch zur Hundertjahrfeier der Deut­schen Oper Berlin komponiert hatte, die ihm einst mit der Premiere seiner komischen Oper „Der junge Lord“ 1965 zum Durchbruch verholfen hatte. Am 27. Oktober ist der traditionsbewusste Neu­töner, bürgerliche Revolutionär, enga­gierte Ästhetizist und westfälische Ita­liener im Alter von sechsundachtzig Jahren im Universitätsklinikum Dres­den gestorben.