MusikTexte 135 – November 2012, 75–76

Brodeln, Gären, Keimen

Rundum verjüngte Donaueschinger Musiktage

von Rainer Nonnenmann

Die um 1980 Geborenen sind selbstverständlich mit Computer und Internet aufgewachsen. Viele nutzen iPhone, Google, Facebook et cetera, als sei ihr Stammhirn bereits mit diesen Applikationen verwachsen. Die Digitaltechnologie verändert das Leben, Arbeiten, Denken, Fühlen und führt zu gravierenden Veränderungen beim Herstellen, Aufführen, Verbreiten und Hören von Musik. Längst lassen sich Klänge aller Epochen, Stile und Weltgegenden bequem per Mausklick abrufen und mit gängigen Soundprogrammen verarbeiten. Zu Recht sehen daher Vertreter dieser jüngsten Komponistengeneration in den alltäglichen Auswirkungen des Computers das zentrale künstlerische und gesellschaftliche The­ma der Gegenwart. Doch die renommierten Festivals für zeitgenössische Orchester- und Ensemblemusik zeigten dafür bislang wenig Interesse. Jetzt aber waren die „Digi­tal Natives“ bei den rundum verjüngten Donaueschinger Musiktagen präsent wie nie zuvor. Unter dem Motto „Mensch – Maschine“ waren viele der acht­und­zwan­zig zumeist in Auftrag gegebenen Uraufführungen gezielt dem The­ma „analog – digital“ gewidmet, das, anders als sonst in Donaueschingen üblich, nicht erst nach Ablieferung der Auftragsergebnisse ans Tageslicht kam. Und statt etablierter Interpreten, Altmeister und Großkomponisten dominierte der Nachwuchs aus fünfzehn Nationen, auf den Konzertpodien ebenso wie im Publikum. Dank der neuen „music academy Donaueschingen“, die aus dem seit 2006 bestehenden Beiprogramm „Next Generation“ hervorgegangen ist, sorgten knapp zweihundert studentische Teilnehmer mit wahlweise erfüllten oder enttäuschten Erwartungen für Knistern im Saal.

Vier Konzerte der jungen Ensembles asamisimasa, ascolta, Nadar und Nikel aus Norwegen, Deutschland, Belgien und Israel präsentierten Schnittstellen zwischen Musikern, Elektronik und Video. Doch die bloße Nutzung der Digitaltechno­logie garantierte nicht automatisch auch künstlerisch gelungene Projekte. Johannes Kreidler – einer der namhaftesten Exponenten der Cyber-Generation in Deutschland – remixte einmal mehr Audio- und Videoschnipsel zu einer grellen Bild-Klang-Collage, die kaum anderes leistete als eine erneute Illustration der universalen Verfügbarkeit jeglichen Materials aus dem World Wide Web. Das hat inzwischen wohl jeder begriffen und braucht nicht ständig wiederholt zu werden. Vielmehr wäre es an der Zeit, auf der Grundlage dieser Einsicht dieses Material durch substantielle Eingriffe in seine Strukturen und Semantiken zu transformieren und – im Sinne des im Werktitel bemühten Philosophen „Der ,Weg der Verzweiflung‘ (Hegel) ist der chromatische“ – auf eine neue Reflexionsstufe zu heben. Stattdessen prallten im bunten Sample-Gewitter Klänge und Bilder unterschiedlicher Herkunft und Wertigkeit wild aufein­ander, so dass sich in dieser „Musik mit Musik“ sämtliche Unterschiede nivellierten. Alles verkam zu gleich wertlosem Kulturmüll: Schlager, Klingeltöne, Gameboy-Soundanimation, Lautsprecherdurchsagen, blubbernde Elektronik, sowie gleich zu Beginn – als Abgesang auf die elitäre zeitgenössische Kunstmusik – ein Mitschnitt des Ensemble intercontemporain. Das war lustig, provokant, anarchoid, diffamierend und blieb letztlich schrecklich banal. Denn laut Kommentar des Komponisten waren „Tonhöhenverläufe nach oben und nach unten“ das Hauptthema des Stücks. Wow! Das ist doch mal was! Ein Sinustonglissando durchläuft von unten nach oben den Hörraum. Und in neobarocken Sequenzenketten werden Klang- und Sprachsamples höher oder tiefer transponiert.

Einen vielversprechenden Ansatz zeig­te der junge Belgier Stefan Prins. Er konfrontierte vier Instrumentalisten paarweise mit vier Laptop-Spielern, welche Klang- und Videoaufnahmen der Musiker auf ihren Playstations mit unumschränkter Verfügungsgewalt steuerten, schredderten, pixelten, bis das Spiel schlagartig in Videoaufzeichnungen von Kampfdronen umschlug, die mit den gleichen Joysticks gesteuert werden. Parallel zu dieser weltpolitischen Öffnung kam es zu einer Begegnung der Computerspieler mit sich selbst, als diese plötzlich ihrem eigenen, per Webcam gefilmten Bild ins Gesicht sahen. Doch dieser Schockmoment wurde von der ebenso munter wie aggressiv technisch weiter klirrenden Elektronik vollkommen zunichte gemacht, was immerhin eine leise Ahnung davon vermittelte, worin die eigentliche Katastrophe besteht: Egal was passiert, die „Generation Kill“ – so Prins’ Stücktitel – spielt einfach munter weiter.

Als Rebell der Szene agitierte Trond Reinholdtsen, der bei Manos Tsangaris in Dresden studierte, mit viel Ironie gegen die Szene. Unter dem verdächtigen Titel „Musik“ trat der Norweger im eigenen Stück als Moderator auf, indem er mit saloppen Kommentaren und Power-Point-Präsentationen gängige Diskurse, Institutionen und Mechanismen des Neue-Musik-Betriebs parodierte, um mit zunehmender Rage schließlich Beethoven und Wagner als Hausgötter einer noch zu begründenden norwegischen Nationaloper anzurufen. Seine anarchischen Anwürfe stürzten das System im selben Maße von außen wie sie mit Jux und Tollerei von innen stützten. Diesem schrillen Fluxus-Happening gegenüber gingen Klaus Langs ruhiges „the ugly horse“ und Georg Katzers „after Carroll (Jabberwocky)“ ebenso unter wie Eliav Brands plakative Konfrontation von barocken Lamento-Seufzern mit Sechzigerjahre-Retroästhetik aus Sprechen, Lachen, Hämmern, Wasserplätschern …

Jenseits kunst- und gesellschaftspolitischer Einlassungen dominierten ansonsten Kreuzungen von Instrumenten und Elektronik. Mehrere Arbeiten verwendeten die von David Tudor für die Musik entdeckten, von Yoav Pasovsky als Körperschallautsprecher bezeichneten Transducer, mit denen akustische Signale statt über Lautsprecher direkt über herkömmliche Instrumente oder andere Gegenstände abgespielt werden können. Erfolgt beispielsweise die elektronische Wiedergabe eines Flötentons über den Resonanzkörper eines Cellos, so schreiben sich dessen Klangeigenschaften dem Ton in einer Weise ein, die etwas hybrides Drittes entstehen lässt. Während der in Berlin lebende Israeli Yoav Pasovsky ein derartiges „enhanced Ensemble“ mit schwebenden Sphärenklängen kreierte, verhedderte sich Eduardo Moguillansky im Kleinklein elektronisch-instrumentaler Frickeleien. Und während Øyvind Torvunds „Forest Construction“ das live-spielende Ensemble „ascolta“ mit zuvor im Wald aufgenommenen Instrumentalklängen samt Vogelkonzert kombinierte, verbreitete Marko Nikodijevic´s „ketamin/schwarz“ mit langsam aus der Tiefe anschwellenden Orgel-Drones samt kreisenden Klangwellen und wie Möwenschwärme kreischenden Flageoletts ozeanisch-halluzinatorische Gefühlswelten, manisch-depressiv schwankend zwischen licht aufbrausender Euphorie und düsterem Zug zum Untergang.

Im Abschlusskonzert des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg unter Leitung des Chefdirigenten François-Xavier Roth bediente sich – ähnlich den jungen Elektronikern – auch Bernhard Ganders rein instrumentales „hukl“ banaler Floskeln, Pendelbewegungen, Repetitionen, Tonleitern, Klingeltöne und Akkorde aus Filmen, Comics und Computerspielen. Doch indem der Österreicher diesen Trash durch das großbesetzte Orchester wie durch ein stampfendes Walzwerk schickte, blähte er diese Banalitäten zu Monstrositäten auf, damit sie gerade in ihrer riesenhaften Hohlheit als nichtig und klein erkennbar wurden, eben als „hukl“ anstelle der zum Muskelmonster mutierten Comicfigur „Hulk“. Weniger profiliert wirkten die Orchesterwerke von Aureliano Cattaneo und Franck Bedrossian, dessen „Itself“ den Orchesterpreis des SWR-Orchesters erhielt.

Mit zu viel unverdautem Material überlud im Eröffnungskonzert auch Helmut Oehring sein dreiviertelstündiges Orchesterwerk „schienen wie Wellen die in lange Auge“. Unterschiedliches wurde hier mehr collagiert denn komponiert: Orchester und SWR-Vokalensemble, Stimmperformer David Moss, E-Gitarre, Gebärdensprache, sowie arabischer Gesang und Oud-Spieler als prätentiöse Anspielungen auf den Bürgerkrieg in Syrien. Arnulf Hermann beschränkte sich dagegen rein musikalisch auf die gute alte „durchbrochene Arbeit“, indem er das Orchesterkollektiv in einzelne Klangpunkte auflöste. Das Tutti formiert sich hier nicht durch Gleichzeitigkeit aller, sondern indem alle Musiker konsequent nacheinander nur jeweils einen Ton spielen. Das hatten Jahrzehnte zuvor allerdings schon Orchesterwerke von Lachenmann, Spahlinger, Schwehr und anderen exemplarisch durchgeführt.

Zum Besten des Festivals gehörte das furiose Konzert des israelischen Ensem­bles Nikel, dessen ungewöhnliche Besetzung mit Saxophon, E-Gitarre, Klavier und Schlagzeug spielerische Brü­cken­schläge zwischen neuer Musik, Jazz und Rockmusik erlaubt. Besonders faszinierend wirkten Versuche, durch übersteigerte Geschwindigkeit zu einem anderen Modus des Spielens und Hörens zu gelangen. Clemens Gadenstätter provozierte in „Sad Songs“ mit durchdrehenden Läufen und Floskeln einen rasenden Stillstand, der dem fast dreißig Jahre alten Ensemblewerk „Mouvement ( – vor der Erstarrung)“ seines ehemaligen Lehrers Helmut Lachenmann huldigte. Michael Wertmüllers „Skip A Beat“ zeigte bei aller High-Speed-Geläufigkeit und Perkussivität eine ausgefeilte rhythmisch-metrische Varianz, die dafür sorgte, dass das unablässig schnurrende Räderwerk in jedem Moment lebendig musiziert wirkte und nicht zu mechanischem Leerlauf verkam, wie ihn die Schwedin Malin Bång – die einzige Komponistin bei den diesjährigen Musiktagen – durch den auf Dauer nervenden Einsatz ratternder Bohr- und Nähmaschinen versinnbildlichte. Die höchst anspruchsvollen Virtuo­senpartien spielten die vier jungen Interpreten leicht und locker mit sicht- und hörbarer Freude an der eigenen Verausgabung. Auch bei weniger spektakulären Aktionen bewiesen sie höchste Präzision und Präsenz, etwa bei „witness“ von Mark Barden, wo geringe parametrische und spieltechnische Veränderungen klar differenzierte Klangverläufe hervorriefen.

Ein Lehrstück intensiver Materialerkundung bot das Rumpfduo des einst legendären Improvisationsquartetts AMM mit Pianist John Tilbury und Schlagzeuger Eddie Prévost. Während einer einstündigen so genannten „SWR2 NOWJazz-Session“ tastete Letzterer Tamtam, High-Hat und Cymbel mit dem Kontrabassbogen systematisch ab. Durch langjährig erprobte Abstufungen und Kombinationen von Streichdruck, Streichgeschwindigkeit, verschiedenen Stellen auf den Instrumenten und wechselnden Dämpfungen entfaltete das reduzierte Spiel einen unglaublichen Reichtum an Nuancen. Ein komplexes Wahrnehmungsfeld aus für sich genommen primitiven Einzelimpulsen schuf Edwin van der Heide im Fürstenbergischen Schloss­park mit seiner Klanginstallation „Pneumatic Sound Field“. Pressluft entweicht hier explosionsartig aus zweiundvierzig Hochdruckventilen, die in drei Meter Höhe über den Köpfen der Hörer per Computer gesteuert werden, so dass verschiedene Rhythmen, Dauernverhältnisse, Dichtegrade und Bewegungen im Raum resultieren. Dass die Luft dabei unmittelbar bewegt wird, gibt den knackenden Impulsen eine erstaunlich körperliche Präsenz.

Systemrelevant für die neue Musik – wie nur irgendeine Bank für die Marktwirtschaft – ist das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg. Kaum ein zweites Orchester in der Welt hat sich so leidenschaftlich dem Neuen verschrieben wie dieses Herzstück des deutschen und internationalen Musiklebens. Doch der Sender hat beschlossen, es mit dem SWR-Orchester in Stuttgart zu fusionieren. Das durfte in Donaueschingen nicht unkommentiert bleiben. Anstelle des Dirigenten Rupert Huber stürmte daher zu Beginn des Eröffnungskonzerts der Konzeptkünstler Johannes Kreidler auf die Bühne, um sich von den ersten Streicherpulten ein Cello und eine Geige zu schnappen, den Instrumenten die Saiten vom Leibe zu reißen, sie damit zu einer unspielbaren Chimäre zu verknoten und dazu in den Saal zu rufen: „Komponieren heißt: ein Instrument bauen. Doch wenn statt der Künstler die Institutionen zu komponieren versuchen, dann kommt das hier heraus. Und Sie“ – zum anwesenden zusehends versteinerten SWR-Intendanten gewandt – „haben dieses Requiem komponiert,“ dessen Uraufführung Kreidler dann prompt exekutierte, indem er den symbolisch fusionierten Klangkörper mit voller Wucht zerschmetterte. Der krachende, in SWR2 direkt übertragene – übrigens vom Vorstand der Gesellschaft für Neue Musik bei Kreidler in Auftrag gegebene – Akt war als un­miss­verständlicher und vom Publikum mit brausendem Beifall bedachter Protest gegen die Zerstörung beider Kulturorchester unverzichtbar, und doch dürfte er weniger dem Erhalt der Orchester gedient haben als vielmehr der Gewissensberuhigung der Konzertbesucher, dass überhaupt gegen den rundfunkpolitischen Willkürakt angegangen wurde. Dem folgte zu Beginn des Abschlusskonzerts eine nicht weniger engagierte Ansprache des neuen Chefdirigenten mit der Frage „In was für einem Deutschland wollen wir leben?“, der eine Schweigeminute folgte, als ob das Orchester schon heute zu Tode fusioniert worden sei.

Fazit der Donaueschinger Musiktage 2012: Wenig Ausgereiftes, aber ein Jahrgang mit Signalcharakter, mit vielversprechendem Neuen und Jungen, mit Energie, Tumult, Aufruhr, Brodeln, Gären, Keimen. So muss es sein!