MusikTexte 137 – Mai 2013, 103–104

Festausgabe letzter Hand

Hans-Peter Jahn nimmt Abschied von „Eclat“

von Rainer Nonnenmann

In Stuttgart ging jetzt eine Ära zu Ende. Die 1980 von den Komponisten Reinhard Febel und Al­brecht Imbescheid zusammen mit den Dirigenten Manfred Schreier und Michael Zilm sowie dem Redakteur für Neue Musik im Süddeutschen Rundfunk, Clytus Gottwald, begründeten „Tage für neue Musik Stuttgart“ wurden seit 1983 von Hans-Peter Jahn geleitet, der zunächst als Ersatz für den nach England übersiedelten Febel ins Team kam und schließlich die alleinige Leitung des Festivals übernahm. Der ideenreiche Programmmacher wirkte dreißig Jahre lang als künstlerischer Leiter des 1997 zu „Eclat“ umbenannten Festivals, dessen Konzerte er trotz pragmatischer Abstriche regelrecht durchzukomponieren suchte. Ab 1989 sorgte er als Nachfolger von Gottwald auch für die Vergabe von Kompositionsaufträgen, die das Festival überhaupt erst zu dem lebendigen Forum zeitgenössischen Musikschaffens machten, als das es in Deutschland und international geschätzt wird. Darüber hinaus schrieb Jahn für viele Festivalausgaben das Programmbuch komplett selber, gab Einführungsgespräche zu Konzerten und beteiligte sich bei Musiktheaterproduktionen sogar als Textdichter und Dramaturg. Zudem entschied er als Jurymitglied über die jährliche Vergabe des Kompositionspreises der Stadt Stuttgart, der diesmal Héctor Moro und Vito Žuraj zugesprochen wurde. Und natürlich hielt die Laudatio niemand Geringerer als Jahn selbst.

Kaum ein anderes Festival in Deutschland zeigte eine derart starke Handschrift seines monomanen Machers, der nun zu seinem fünfundsechzigsten Geburtstag in Pension geht. Gemeinsam mit anderen trug Jahn seit den siebziger Jahren maßgeblich dazu bei, die lange als konservativ verschriene schwäbische Landeshauptstadt zu einer vitalen Brutstätte der neuen Musik zu machen und für diese Kunstsparte auch ein ebenso breites wie interessiertes Publikum zu gewinnen. In all seiner Eitelkeit, Eigenwilligkeit, Durch­setzungsfähigkeit und Widerständigkeit gegen Standardisierungen kannte Jahn kein Geschmacksdiktat und keine stilistischen Festlegungen, auch wenn die einstigen Festivalgründer bald keine Rolle mehr spielten und manche Komponisten nie vertreten waren. Bemerkenswert war, dass Jahn jedem Festivaljahrgang seinen individuellen Charakter zu geben verstand. Gerne stichelte er gegen die Neuheitssucht und den grassierenden Akademismus von Uraufführungsfestivals. So verabreichte er in homöopathischen Dosen zuweilen opulente Neoromantik an der Grenze zu Filmmusik oder brachte neue Vokalwerke in Dialog mit Liedern und Chören von Schubert und Schumann. Diesmal ließ er Simon Steen-Andersen mit „Lesungen nach den Buchstaben der Klassiker“ für belebende Stilbrüche sorgen. In einer Art Late Night Show im Stuttgarter Theaterhaus bearbeitete der 1976 geborene Däne neben Werken von Schumann und Ravel auch eine historische Aufnahme des Baritonsolos aus Bachs Kantate „Ich habe genug“. Während er Violoncello und E-Orgel als Basso Continuo dazu live mitspielen ließ, hatte Posaunist Andrew Digby die elektronisch manipulierte, immer langsamer werdende und tiefer sackende Gesangspartie Ton für Ton auf seinem In­strument mitzuspielen, mittels Dämpfer ebenso verknödelt und textunverständlich. Obwohl äußerlich grotesk verfremdet, wirkte die expressive Sub­stanz des „Oh süßer Frieden, stiller Tod“ nicht nur konterkariert, sondern erstaunlicherweise geradezu potenziert. Anschließend zauberte das ensemble ascolta mit mikrophonierten Stimmgabeln und Vibraphonplatten zart schwebende Sphärenharmonien, die als Kontrastfolie für eine Trash-Version von Mozarts fulminanter Rachearie der „Königin der Nacht“ dienten. Gegen die vorherige Ruhe stach diese dann umso greller ab, als sie Steen-Andersen unter flackernder Diskobeleuchtung statt von einer Sopranistin vom Trompeter des ensemble ascolta Markus Schwind singen und über Vocoder-Synthesizerklänge ins Monsterhaft-Schrille verzerren ließ: Eine gelungene Rettung des zu Tode gespielten Klassikers durch surrealistische Kolportage.

Eingefahrene Konzertmuster durchkreuzt das viertägige Stuttgarter Festival Eclat stets auch damit, dass in den Konzerten verschiedene Besetzungen auftreten, um die strapazierte Wahrnehmung neu zu justieren. Diesmal spielten im selben Konzert sowohl das Ensemble Modern als auch der Akkordeon-Solist Teodoro Anzellotti und die Neuen Vocalsolisten Stuttgart. In anderen Programmen wechselten das SWR Vokalensemble, eine Kammermusikbesetzung und das Arditti Quartet, neben dem auch das Aleph Gitarrenquartett, Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR und andere solistische Formationen auftraten. Mit der Uraufführung von Carola Bauckholts „Stroh“ boten die Neuen Vocalsolisten eine ruhige Wanderung durch verschiedene Stimm- und Atemtechniken, namentlich das titelgebende Strohbass-Register. Doch das streng innermusikalisch durchgeführte Material schlägt plötzlich in die situative Theatralik und sprechende Mimik nasaler Unwillensäußerungen um – „Nee, nee“, „Nöö“, „Nää!“ –, die dann ebenso plötzlich wieder zu innermusikali­scher Logik zurückfinden. Bernhard Langs „Hermetica“ schickte das Publikum regelrecht auf eine Gratwanderung. Denn der auf der Grundlage von Phantasiesprachen komponierte Gesang schwankt fortwährend zwischen unverständlichem Text, reiner Lautartikulation und expressiv eindeutigen Vokalgesten, mal zart, tänzerisch, lyrisch oder kraftvoll. Für eine heitere Intervention im Konzertablauf sorgte schließlich „Stühle Rücken“ von Thomas Witzmann. Der bei individuell besetzten Werken der neuen Musik unerlässliche Bühnenumbau – sonst lästige Nebensache – wird hier eigens als virtuose Performance mit Notenständern und Stühlen lustvoll auskomponiert.

Jahns größte Leidenschaft brannte unverkennbar für das Musiktheater. Mindestens eine, oft mehrere Produktionen verliehen dem Festival jedes Jahr einen eigenen Schwerpunkt, wobei Jahn die Konzepte mit eigenen Ideen und Vorgaben stark beeinflusste. Das mit Abstand aufwendigste Projekt war 2005 „Großstadt nachts“ mit zehn jeweils exakt zehnminütigen Musiktheater-Miniaturen von zehn verschiedenen Komponisten und Regisseuren. Seine letzte Eclat-Ausgabe bot nun „Minotaurus“ von Markus Hechtle – auch dies ein Höhepunkt. Die gleichnamige, ungemein starke Ballade von Friedrich Dürrenmatt erzählt die Geschichte des Minotaurus nicht nach der altgriechischen Mythologie aus der Sicht des siegreichen Helden Theseus. Stattdessen schildert sie die Innenper­spektive des Doppelwesens aus Stier und Mensch, das sich – zeit seines Lebens in einem gläsernen Labyrinth eingeschlossen – mangels eines realen Gegenübers seiner selbst und seiner Situation kaum bewusst ist. Wie bei einem Monodram wird das distanziert-nüchterne Psychogramm des Tiermenschen gleichsam als roter Ariadnefaden einzig und allein von der überragenden Schauspielerin Nicola Gründel vorgetragen. Deren Sprechstimme hat sich möglichst eng an das durchweg einstimmige mitlaufende Klavier (Ueli Wiget) anzulehnen, dessen obligat psalmodierende Partie Hechtle als eine Art Abdruck seiner eigenen Diktion des Dürrenmatt-Textes mit allen Stilisierungen, Zäsuren, Tempowechseln, Intonationskurven, Phrasierungen und Wiederholungen gestaltete. Am Ende dieses zweifachen Übersetzungsvorgangs von der Sprache ins Instrument und von dort wie­der zurück in Sprache leistete Gündel – selber diplomierte Pianistin – Phänomenales. Unter vollständiger Aussparung des in­strumententypischen Harmonie- und Polyphonie-Potentials hämmert sich das künstlich limitierte Klavier unerbittlich in das Geschehen. Hechtle schafft so eine dreifache Metapher: sowohl für das vervielfachte Spiegelbild des Minotaurus als auch für die Verschachtelung des Labyrinths mit stets ähnlichen, aber nie gleichen Wegen, und schließlich für die beklemmende Zwangslage des eingesperrten und zugleich von der Welt und den Menschen ausgeschlossenen Tiermenschen, was in achtzig Minuten auch auf das Publikum durchaus quälend wirkt.

Für weitere prismatische Brechungen im labyrinthischen Spiegelkabinett sorgte das hochkonzentriert mitatmende Ensemble Modern unter Leitung von Clemens Heil. Ruhig verklingende Klaviertöne setzen sich plötzlich als hochenergetisch anschwellende Akkorde oder – zumal bei bestimmten Schlüsselwörtern und Handlungselementen – als melodramatische Gesten fort. Zur Epik des Texts und der konstruktiven Spiegelidee tritt so genuine Musikdramatik. Inmitten der basslastig und dunkel gehaltenen Instrumentation schwingen sich unvermutet auch sehnsuchtsvolle Soli von Englischhorn, Fagott und Horn auf oder verdichten sich tänzerische Elementargesten zu rauschhaft-atemlosen Aufwallungen und ekstatischen Blutorgien, bei denen der Minotaurus ein Mädchen zerfetzt oder unter wuchtigen Trommelschlägen mit seinem Stierschädel wieder und wieder gegen die Wände seines Verlieses donnert. Dank Unterstützung durch das laborhaft karge und klaustrophobisch geschlossene Bühnenbild von Christiane Dressler und die Regie von Thierry Bruehl kommt es zur Identifikation mit dem Untier. Und das wirkt äußerst verunsichernd, denn die Zuschauer müssen feststellen: Das Böse ist nicht das Andere oder etwas Abgespaltenes, sondern alle archetypische Angst, Einsamkeit, ungezähmte Wut, Gewalt, Lust, Gier und Liebe steckt in uns selbst. Als schließlich Theseus mit einer Stiermaske im Labyrinth erscheint, erkennt der Minotaurus – der sich selbst noch kaum als „Ich“ begreift – in diesem erstmals ein „Du“. Doch während das überglückliche Monster im Freudentanz über die von ihm erträumte Brüderlichkeit, Freundschaft, Liebe, Nähe und Wärme gerade seine Menschwerdung erfährt, stößt ihm sein Gegner den tödlichen Dolch in die Brust.

Jahns Nachfolger bei Eclat und als Redakteur für Neue Musik am SWR wird der aus Berlin kommende Musikjournalist Björn Gottstein. Gemeinsam mit Christine Fischer – die schon Jahn als Intendantin der Veranstalterorganisation „Musik der Jahrhunderte“ bei der Durchführung von Eclat zur Seite stand – will Gottstein das Festival nach und nach ergänzen, durch Klanginstallationen, Elek­tronik, Experimentelles sowie Projekte im Grenzbereich von Komposition und Improvisation, von Tanz, bildender Kunst und Medienkunst. Für seine Mitarbeit beim Festival hinsichtlich Leitung, Dramaturgie und Programmheftredaktion wird er auf Honorarbasis von „Musik der Jahrhunderte“ bezahlt. Beim SWR2 wird er nur noch mit einer halben Stelle und nicht mehr als „Redakteur mit besonderen Aufgaben“ angestellt, weil man dort Personalkosten einspart, und die bisher von Jahn wöchentlich produzierte zweistündige Sendung „Musik kommentiert“ in abgewandeltem Format andere übernehmen werden. Ansonsten will sich der Sender weiterhin mit seiner Neue-Musik-Reihe „attacca“ an Eclat beteiligen. Die von Jahn dafür noch vergebenen Kompositionsaufträge an Hannes Seidl, Jay Schwartz, Beat Furrer und Johannes Maria Staud sollen planmäßig bei Eclat 2014 uraufgeführt werden. Doch wie geht es weiter? Der Kulturabbau beim Südwestrundfunk ist unverkennbar. Die Fusion des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart mit dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg wird ab 2016 unweigerlich zur Folge haben, dass man die bisher für beide Klangkörper vergebenen Kompositionsaufträge halbiert, schlicht weil dieselbe Menge ein einziges Orchester nicht leisten kann. Zudem gibt es eine neu installierte „künstlerische Gesamtleitung“ für alle Festivals und Klangkörper des SWR, einschließlich des Freiburger Experimentalstudios. Diese direkt beim Hörfunkdirektor angesiedelte Position wird nach Ende der laufenden Spielzeit 2012/13 der derzeitige Intendant der Essener Philharmonie Johannes Bultmann übernehmen (vergleiche MusikTexte 136, 75). Dessen Hauptaufgabe wird „zunächst“ die Zusammenführung der Orchester sein, um dann auch die Planung für die SWR Klangkörper und Festivals zu übernehmen. Nach eigenen Auskünften möchte Bultmann vor allem „Synergien“ schaffen. Im Klartext kann das auch heißen, dass Produktionen der Schwetzinger SWR Festspiele etwa bei den Do­nau­­eschinger Musiktagen nachgespielt werden, oder umgekehrt, statt wie bisher für beide Festivals – deren Leiter just 2016 beziehungsweise 2017 aus Altersgründen ausscheiden – jeweils neue Werke in Auftrag zu geben. Leicht lassen sich dann auch die Aktivitäten des neuen Einheitsorchesters in Donaueschingen und Stuttgart gegeneinander aufrechnen. Was bislang mit je eigenem programmatischem Profil und zeitlichem Abstand im Oktober beziehungsweise Februar den internationalen Festivalkalender ergänzte, droht so zusammengestrichen zu werden.

Für sein Abschiedsfestival versammelte Jahn noch einmal Werke von Komponisten, die er schon in den vergangenen Jahren regelmäßig eingeladen hatte: Jörg Widmann, Matthias Pintscher, Martin Smolka, Manuel Hidalgo, Hanspeter Kyburz, Hans Zender und Helmut La­chen­mann. Dessen vierzigminütige Raum-Ensemble-Komposition „Concertini“ stellt selbst Spitzenensembles neuer Musik vor enorme Herausforderungen. Orchestermusiker können daran leicht scheitern, aber auch über sich hinauswachsen, wie jetzt die Mitglieder des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR erstmals bewiesen unter der versierten Leitung des erst drei Tage zuvor für den erkrankten Peter Rundel eingesprungenen Matthias Hermann.

Den Schlusspunkt setzte endlich Wolfgang Rihms uraufgeführtes Streichquintett mit dem bezeichnenden Titel „Epilog“. Dessen Wiedergabe durch das Arditti Quartett war indes von zweifelhafter Qualität und verfehlte ohrenscheinlich den Geist dieser Musik. Vor allem der Primarius agierte zu kalt und nüchtern, indem er warm aufblühende Intervallsprünge ohne das für die Tradition dieser Musik unerlässliche Espressivo spielte. Immerhin wurde erkennbar, wie Rihm mit verschleierten Akkordfolgen und weiten Bögen Schuberts berückendes C-Dur-Streichquintett beschwört. Doch die sich gegenüber sitzenden Violoncelli nehmen den choralartigen Satz der hohen Streicher mit aggressiven Pizzikati förmlich in die Zange und treiben das Geschehen weiter: Das Bisherige tritt zurück und bleibt doch in untilgbaren Spuren erhalten – bis zum finalen Verlöschen: Ein würdigender Abschiedsgruß für Hans-Peter Jahn.